15. Zweite Rede von Eliphas

Entgegnend sprach Eliphas, der Thaimoniter: 

 

Wird ein Weiser Antworten geben, nur mit geistreichen Sprüchen, 

und nur damit füttert er den Bauch, 

Beweist nur mit Redewendungen, die aber nichts sind, 

mit Worten, die keinen Nutzen haben? 

Hast du etwa jede Angst zurückgewiesen, 

dass du solche Reden gegen den Herrn stellst? 

Gehorchen tun deine Reden nur deinem Mund, 

unterscheiden sich nicht von den Reden der Mächtigen. 

Bekunden tut das dein eigener Mund, nicht ich, 

deine Lippen bezeugen dich. 

Warum nur? Bist du vor den Menschen geboren worden? 

Hervorgebracht vor den Hügeln? 

Hast du den Rat des Herrn gehört, 

oder die Weisheit erlangt? 

Denn was weißt du, das wir nicht wissen? 

Und was verstehst du, wir aber nicht? 

Auch bei uns gibt es Alte und Hochbetagte, 

Zahlreicher als dein Vater an Tagen. 

 

Wenig bezeugst du, was du erlitten hast, 

eher vieles Überflüssige hast du geredet. 

Was erkühnt sich dein Herz, 

oder was glaubst du gesehen zu haben, 

Dass du wagst, dich zu erzürnen gegen den Herrn, 

dein Mund solche Reden hervorbrachte? 

 

Denn wie kann ein Sterblicher rein sein, 

oder gerecht sein, der von einer Frau geboren wurde? 

Wenn gar er den Heiligen nicht glaubt, 

und der Himmel nicht rein ist für ihn. 

Dies ist abscheulich und unrein, 

ein Mann der Ungerechtigkeit, wie Wasser trinkt. 

 

Verkünden will ich dir, was ich gehört habe; 

was ich erkannt habe, das verkünde ich dir, 

Wonach die Weisen gefragt haben und was ihre Väter nicht verschwiegen haben; 

Ihnen, denen allein das Land gegeben wurde, 

und gekommen ist kein Fremder zu ihnen. 

Das ganze Leben der Gottlosen ist ein sich Sorgen, 

Gezählt sind die Jahre, die dem Mächtigen gegeben sind. 

Seine Angst liegt ihm in seinen Ohren. 

Wenn er seinen Frieden gefunden hat, 

wird sich alles wieder verändern. 

Nicht kann er meinen, sich abzuwenden von der Finsternis, 

denn bestimmt ist er für die Hand mit dem Schwert, 

Hingestellt als Mahlzeit für die Geier. 

Er weiß für sich selbst, das er nur besteht bis er zum Leichnam wird. 

In seinen Tagen wird er in Finsternis herumgewirbelt, 

Not und Traurigkeit ergreifen ihn, 

wie ein Heerführer, der voranstürmend dahinsinkt. 

 

Weil erhoben hat die Hand gegen den Herrn, 

und gegen den Herrn, dem Allgewaltigen, er hochmütig war, 

Angelaufen ist er gegen ihn aus Übermut, 

mit dem Schutz des Rückens seines Schildes, 

Weil sein Gesicht vor Fett verschlossen ist, 

und Fettwülste seine Schenkel sind. 

Er wird in verwüsteten Städten hausen, 

eingehen in unbewohnbaren Häusern. 

Was sie gesammelt haben, werden andere einsammeln. 

Weder reich wird er sein, noch wird bestehen sein Besitz. 

Er wird nicht werfen einen Schatten auf die Erde 

Auch wird er nicht entkommen der Finsternis. 

Seine jungen Zweige wird wohl der Wind vertrocknen, 

herunterfallen werden wohl seine Blüten. 

Nicht glaubt er, an was Bestand hat, 

leer denn wird alles sein, was dabei herauskommt für ihn. 

Seine Ernte wird vor der Stunde zugrundegehen, 

und sein Sprößling wird nicht wachsen. 

Wie die Weinlese, mit unreifen Trauben vor ihrer Stunde, 

wird auch abfallen die Blüte des Ölbaums. 

Dies bezeugt der Tod der Gottlosen, 

Feuer wird hinweg nehmen das Haus der Handelnden, 

In seinem Inneren wird er diesen Schmerz empfinden, 

herauskommen wird dabei nur Leere, 

und aus seinem Schoß kommt nur Trug. 

Nun ist die erste Rederunde abgeschlossen, jeder Freund hat seine Ansicht und Rat Job mitgeteilt und Job hat seine Situation daraufhin versucht den Freunden verständlich zu machen. Aber als Leser wurde immer deutlicher, dass die Freunde auf der einen und Job auf der anderen Seite völlig aneinander vorbeireden, aus zwei verschiedenen Welten komme und Ufern stehen. Allein für Eliphas ist dies nicht hinnehmbar, er weiß sich im Recht und fängt erneut an Job zu attackieren und zu kritisieren. Er beginnt seine zweite Rede damit, dass er Job zunächst als Weiser anspricht. Er gesteht Job also zu, dass er eigentlich auf der gleichen Stufe wie seine Freunde steht, so dass er als Mensch angesehen wird, der die Weisheits-Literatur des Judentums studiert hat und kennt. Nur fällt Job in Eliphas Augen hinter diesem Standard zurück. Denn Eliphas erkennt in Jobs Antworten nur leere Worte, die nichts nutzen und nur Phrasen sind. Quasi Politiker-Worte, die sich auf nichts festlegen lassen, nichts konkret machen, keine wirkliche (Mit-)Schuld eingestehen, sondern nur dazu dienen sich gut dastehen zu lassen. Aber für Eliphas ist das nicht nur verplemperte Zeit dieses leere Geschwätz, sondern auch ein eklatanter Widerspruch gegen Gott. Er fragt deswegen Job ganz offen, ob er denn keine Angst mehr vor Gott hat, dass er so gegen das Wissen der Weisheit sprechen kann und sich so nach Eliphas Einschätzung auch gegen Gott stellt. 

 

Aber wer, wenn nicht Job, sollte die Angst vor Gott kennen? Er wurde deutlich härter von Gott geschlagen, als die drei Freunde und wohl auch als die meisten anderen Menschen. Er hat die Gewaltigkeit der Schläge Gottes gegen einen Menschen selbst erfahren, so dass er diese Angst unmittelbar erfahren hat und es kein intellektuelle Spiel über die Theodizee für ihn ist. Aber ist Job vielleicht nun so resigniert, da er alles verloren hat und eigentlich nichts Schlimmeres mehr passieren kann (denn selbst sein eigener Tod wäre einfach nur eine wünschenswerte Erlösung), dass ihn Gott nun tatsächlich nicht mehr schert? Und dass er einen solch unverständlichen und erbarmungslosen und willkürlichen Gott nicht mehr folgen will, zumal für ihn eh kein Unterschied zwischen Gott und dem Teufel zu erkennen ist? Aber diese Konsequenz zieht Job gar nicht, denn er hält weiter an seinem Gott fest, der zwar alles infrage stellt, was er von Gott zu wissen glaubte, der aber weiterhin ganz leise in ihm präsent ist. Und er richtet sich eher in seinen Reden an diesen nun so unbekannten, aber dennoch ganz nahen Gott. „In all seinen Klagen und Protesten sagt er diesem Gott nicht ab, vielmehr er bezeugt ihn, den übermächtig Geheimnisumwitterten […] Als Gott ihm dann unmittelbar entgegentritt und ihm aus dem Sturm antwortet, ohne dem Appell irgend folge zu leisten, nur eben das Geheimnis einer Schöpfung, in der kein Recht waltet, als sein eigenes Schöpfergeheimnis proklamierend,  da beugt HJob sich, er zieht seinen Appell zurück und bekennt, was er im Grunde schon je und je wußte und bezeugte: daß das Geheimnis ihm ‚zu wunderbar‘ ist, als er es zu ‚kennen‘ vermöchte.“ (Buber 1964: 1172) In diese Grundhaltung arbeitet sich Job immer weiter hinein, so dass Gott ihm als Geheimnis nah ist, von dem er aber so gut wie nichts wissen kann: Gott gibt Nähe, aber zerstört dadurch jede Form von Wissen, das man glaubt von ihm zu haben. Dies ist das Missverständnis zu seinen Freunden, die weiter als Wissende über Gott sprechen, während Job in seinem Unwissen sich an Gott wendet. Ähnlich wie Jesus am Kreuz, der Gott in vollkommenen Unverständnis zuschreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34) 

 

Das Job die Angst vor Gott verloren hätte, kann damit nicht richtig sein, sondern zeigt erneut, dass die Freunde und Job aus zwei gänzlich unterschiedlichen Gottesbezügen sprechen und leben. Hans Urs von Balthasar bringt den Unterschied, der hier zwischen beiden Seite besteht, gut auf den Punkt: „Dieser irgendwie temperierten ‚Furcht des Herrn‘ [der Freunde] stellt Job einen elementaren ‚Schrecken‘ vor Gott gegenüber. […] Dort Ehrfurcht, hier Schrecken vor Gott: das ist es, was die beiden Ebenen trennt und das Gespräch unmöglich macht.“ (Balthasar 1967: 264f.)  Im Gegensatz zu Job haben die Freunde „Furcht vor dem Herrn“ und Balthasar nimmt dabei noch wahr, dass diese „irgendwie“, vermutlich nach den jeweiligen Bedürfnissen, temperiert ist. Während Job durch den Diabolos in eine rückhaltlose, existenzielle Angst gestoßen wurde und diese in ihren Konsequenzen erst schrittweise immer mehr realisiert, leben dagegen die Freunde aus einer Furcht vor dem Herrn. Aber Angst stellt meine Person, mein Ego gänzlich infrage, während bei der Furcht es um konkrete Dinge, Befürchtungen geht (vgl. für die Unterscheidung von Angst und Furcht z.B. Heidegger 1993: 184ff.). Die Furcht macht die Freunde zu Gehorchenden gegenüber Gott, weil sie davon ausgehen, dass wenn sie bestimmten Regeln und Geboten gehorchen, sie nichts zu befürchten haben, dass ihnen bestimmte Dinge genommen werden (Prinzip Talion) und das ja auch genau der Ansatzpunkt des Diabolos ist, dies bei Job zu vermuten, dass er allein aus diesem Grunde gläubig isst. Sie werden so zu Sklaven der Gebote, während Job sich hier tatsächlich aus der Sklaverei langsam befreit. Job hat nichts mehr zu befürchten, denn er hat bereits alles verloren, er ist in die gegenstandslose Angst gestoßen worden. 

 

Im Gegensatz zu dieser Furcht, schreib Heidegger allgemein über die Angst: „Die Angst vor der Tode ist Angst ‚vor‘ dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst. Das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin. Mit einer Furcht vor dem Ableben darf die Angst vor dem Tode nicht zusammengeworfen werden.“ (Heidegger 1993: 251) Nach Heidegger geht es in der Angst, die sich vor allem in der Angst vor dem Tod äußert, um meine Welt als Ganzes, anstatt um einzelne Dinge (und sei dieses Ding auch nur mein eigenerer Tod). Die Angst stellt mich vor etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich vor das Geheimnis, dass ich überhaupt bin, vor mein eigenes Sein! Und vor diesem Geheimnis des Seins, dass ich selber bin bzw. wo ich selber immer tiefsten schon Anteil habe und was mein Grund ist, verblasst alles nur Habende an Dingen und Seienden, um das ich befürchten kann. „Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seiner eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen. So sich bevorstehend sind in ihm alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst. Diese eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist zugleich die äußerste. Als Seinkönnen vermag das Dasein die Möglichkeit des Todes nicht zu überholen. Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit.“ (Heidegger 1993: 250) Und ein paar Jahre nach „Sein und Zeit“ begreift Heidegger diese Angst noch einen schritt tiefer, indem er es nun auch vom Bezug des eigenen Todes abzieht und allgemein fasst, als das sich einstimmen, in das Sein, was die Differenz von Seiendem und Nichts ist: „In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die usprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: das es Seiendes ist - und nicht Nichts“ (Heidegger 9: 114) 

 

Die Freunde merken dies sehr deutlich, dass Job kein gehorchender Sklave mehr ist, dass er sich nicht mehr ihrem Gesetz der Weisheit unterworfen fühlt. So wirft ihm Eliphas vor: „Gehorchen tun deine Reden nur deinem Mund, / unterscheiden sich nicht von den Reden der Mächtigen.“ Eliphas hat hier schon richtig verstanden, dass Job nicht mehr aus der angelernten Weisheit spricht, sondern seinen eigenem Mund und damit seinen eigenen Empfindungen in der Gottesbegegnung gehorcht. Job ist jetzt in der Lage, zu realisieren, dass er „das Dasein selbst zu übernehmen hat“, wie Heidegger oben schreibt (Heidegger 1993: 250). Aber Eliphas missversteht Jobs Eigenständigkeit, wenn er sagt, dass seine Reden und Erklärungen „unterscheiden sich nicht von den Reden der Mächtigen“. In der Septuaginta steht δυναστῶν, was wir hier mit „Mächtige“ übersetzt haben. Es bezeichnet vor allem die, die im Staat Macht ausüben und Recht setzen können, d.h. diejenigen, die sich selbst als Maßstab nehmen können, was richtig und was falsch ist bzw. auch lügen, um die eigenen Macht und Position zu sichern. Ganz verkehrt liegt Eliphas damit, wie so oft, nicht. Denn Job hält sich nicht daran, was die Tradition zu seiner Situation sagt bzw. glaubt zu wissen. Er beurteilt dies nach seinen eigenen Maßstäben. Hier gleicht er tatsächlich den Mächtigen, die sich auch nur um Traditionen und die Wahrheit scheren, wenn es ihrem eigenen Ego dient. Aber verfolgt Job Eigeninteressen? Hat er überhaupt noch Ziele, außer sterben zu wollen und zu wünschen nicht geboren zu sein? Und kann er in diesem tiefen Wunsch überhaupt noch ein Ego haben? 

 

Eliphas sieht diese Eigenständigkeit gegenüber der überlieferten Weisheitslehre als eine Anmaßung Jobs an. Woher nimmt Job sich bloß dieses Recht? Eliphas fragt rhetorische, recht schwierig zu deutende Sätze: „Bist du vor den Menschen geboren worden? / Hervorgebracht vor den Hügeln?“ Eliphas scheint darauf anzuspielen, ob Job bereits vor Adam geboren worden ist und damit aus einer prälapsarischen Erfahrung heraus spricht. So wie das Johannesevangelium Jesus Autorität eigenständig zu sprechen begründet: „Im Uranfang war Er, das Wort. / Und Er, das Wort, war bei Gott.“ (Joh 1,1). Und bedeutet „vor den Hügeln“ in analoger Weise, dass Job schon da gewesen ist, bevor Gott Himmel und Erde unterschieden hat, also das Land sich aus dem Wasser „erhoben“ hat (Gen 1,6)? Dies bedeutet, bevor Gott die erste konkrete Unterscheidung getroffen hat, nachdem er die Möglichkeit einer Unterscheidung überhaupt geschaffen hat in Licht und Finsternis (vgl. hierfür Spencer Brown 1969)? Auch hier ist Eliphas auf der richtigen Fährte, ohne dies aber selber zu wissen. Denn Job hat tatsächlich etwas erfahren, was die Freunde nicht wissen bzw. er wächst langsam dorthinein: nämlich jede konkrete Unterscheidung aufzuheben, aus einem tieferen Grund in Gott zu schöpfen, der auch jede Unterscheidung von Gut und Böse aufhebt, jede Unterscheidung von Ich und allem anderen… und letztlich auch die Unterscheidung zwischen dem Ich und Gott. 

 

Aber Eliphas zweifelt genau diese „Weisheit“ Jobs an. Für ihn spricht Job nicht etwas aus, was er im tiefsten erfahren hat, sondern er lässt sich zum Geschwätz hinreißen. "Wenig bezeugst du, was du erlitten hast, / eher vieles Überflüssige hast du geredet.“ Allerdings gibt die LXX recht frei den Hebräischen Text wieder, den Stier mit „Gilt dir wenig Gottes Trost“ wiedergibt. Aber bei beiden ist der Tenor, dass Eliphas bei Job unterstellt, dass er nicht aus einer göttlichen Erfahrung heraus spricht, sondern sein Ego plappern lässt. Zwar lässt Job so die „Zügel schießen“, dass er sich sogar gegen Gott aufstellt und gegen ihn redet. Aber Eliphas bezweifelt nicht nur, dass Job so nicht reden darf, weil er nicht aufrichtig ist, sondern dahinplappert. Denn nach Eliphas ist es generell dem Menschen verwehrt, Gott die Stirn zu bieten: „Denn wie kann ein Sterblicher rein sein, / oder gerecht sein, der von einer Frau geboren wurde?“ Da der Mensch immer unrein sein wird, weil er von einer Frau geboren worden ist, wird er nie Gott entgegentreten können. Ich werden nie dem unterscheidungslosen, allumfassenden Gott gegenübertreten können, weil ich durch meine Geburt, meine erste Grundunterscheidung getroffen habe: ich habe mich von meiner Mutter getrennt, um Selbständig zu werden. Aber kann man diese Grundunterscheidung nicht aufheben? Ist Job nicht an dem Punkt, wo er gerade dies aus tiefsten Herzen erfährt, indem er wünscht nie geboren worden zu sein? Für Eliphas gibt es diese Erfahrung nicht, oder besser darf es sie nicht geben. Auch hier scheint er diese Dimension zu ahnen, wenn man die Doppeldeutigkeit des Verses „Dass du wagst, dich zu erzürnen gegen den Herrn, / dein Mund solche Reden hervorbrachte?“ im hebräischen Text mitliest: „Dabei ist die Formulierung hešîb rûḥô ʾæl, in der rûaḥ im Sinn von ʾap („Zorn“) steht und die als solche einmalig im AT ist, doppeldeutig, insofern der Ausdruck auch ‚den Lebensgeist (zu Gott) zurückbringen’ bedeuten kann (vgl. Pred 12,7). Der Vorwurf des Eliphas bezieht sich dann nicht nur auf den als unangemessen empfundenen Unmut Hiobs gegen Gott, sondern auch auf Hiobs radikale Lebensmüdigkeit und dessen damit verbundenen Aufruf, Gott möge seinem Leben ein Ende setzen (vgl. 3,11–13; 6,9–10; 10,18–19).“ (Witte 2021: 255) 

 

Für Eliphas gibt es nur die Heiligen und den Himmel, denen er gegenübertreten kann, diesen glaubend annehmen muss und worüber er Bescheid weiß - aber er selbst bleibt davon ausgeschlossen. Es ist wie das Wissen aus einem Reiseführer, aber man hat nie das Land selber gesehen. Und wenn jemand kommt, der von einem kurzen Aufenthalt in diesem Land berichtet, zurückgewiesen wird, weil der Autor des Reiseführers etwas anderes etwa über das Wetter schreibt, mit dem Hinweis, dass dieser Autor das Land schon Jahre bereist hat und dass man eher dem Reiseführer glauben schenken soll - und alles andere hat keine Bedeutung und darf nicht sein. Aber will man immer nur aus den Erfahrungen anderer leben? Soll ich nur den Heiligen und der Tradition glauben und diese erlernen? Oder muss es nicht mein Ziel sein, zumindest einmal und selbst wenn es nur kurz ist, einen Eindruck von diesem Land zu bekommen? Dieser kurze Eindruck mag nur ein Ausschnitt sein, sehr subjektiv sein, aber kann etwas sein, woraus man sein ganzes Leben lang zehren kann. Vielleicht verbringt man nur einen Tag in Griechenland, an dem es sogar noch regnet… aber trotzdem kann mich dies total verändern und ganz wesentlich zum meinem Verständnis der antiken Helenen beitragen. Was aber gleichzeitig nicht bedeutet, dass dies die Lektüre Homers, Sophokles oder Heraklit ersetzen würde (was wohl heute bei der großen Reiselust die Fehlannahme ist. Denn was soll ich auf der Akropolis, wenn ich nicht verstehe, was dort passiert ist?). Diese eine Erfahrung mag sicher nicht für das Ganze sprechen, und trotzdem ist sie ein wesentlicher Bestandteil, woraus ich lebe. Eliphas wirft Job vor „ein Mann der Ungerechtigkeit [zu sein, der die Ungerechtigkeit], wie Wasser trinkt.“ Das stimmt, Job zehrt aus seiner subjektiven Erfahrung, d.h. einer Ungerechtigkeit, aber er hat zumindest etwas zutrinken und ist nicht so vertrocknet, wie die meisten, die nur aus den (vermeintlichen) Erfahrungen von anderen leben. 

 

Und genau so fährt Eliphas in seiner Rede weiter fort: „Verkünden will ich dir, was ich gehört habe“. Hier ist nicht die Rede davon, dass er selbst etwas erfahren hätte. Er ist das Gegenteil von Rahners Frommen, der etwas vom Glauben erfahren haben soll (vgl. Rahner 1966: 11ff.). Eliphas greift allein auf die Erfahrungen zurück, die er gehört hat von der Tradition und die er kognitiv verstanden hat, sozusagen ein früher Ratzinger. Der Exegese Witte kommentiert diesen Einstieg folgendermaßen: „Ausgangspunkt der folgenden, mit der Lehreröffnungsformel šemaʿ (‚höre’) eingeleiteten Unterweisung Hiobs ist also erneut die durch Generationen hindurch verbürgte Erfahrung. Nicht Hiobs Schau, sondern das, was Generationen vor ihm gesehen haben, gilt dem Eliphas als Spiegel der Wirk- lichkeit.“ (Witte 2021: 257) Für ihn haben die Väter einen privilegierten Zugang, weil ihnen das Land gegeben wurde und von keinem Fremden befleckt wurde? Aber warum sollen ihre Erfahrungen, auch wenn sie noch so authentisch sind, meine eigenen Erfahrungen überflüssig machen? Eliphas geht dann direkt zu den Gottlosen über, so dass eigentlich alle, die nicht in den Erfahrungen der Väter aufgehen, Gottlose sind, weil sie aus dem Eigenen heraus leben. Aber hier muss man noch einmal unterscheiden, denn natürlich gibt es die Gottlosen, weil sie nur aus dem eigenen Ego heraus leben. Aber ist Job so? Eliphas und Job ähneln sich schon, indem sie sich beide an Gott orientieren. Nur eben auf unterschiedliche Weise. Denn beide geben ihr Ego auf: Eliphas tut dies allerdings indem er sich aufgibt in die menschlichen Erfahrungen der Väter und deren Tradition und Werte einfach für sich übernimmt. Job gibt aber genauso sein Ego auf, nur eben nicht in die überlieferte menschliche Tradition, sondern in sein eigenes Erleben von Gott. 

 

Die Gottlosen und die auf ihrem eigenen Ego stehenden werden dann von Eliphas kritisiert, aber man fragt sich, ob er nicht auch selbst mit seinem eigenen Glauben immer in der Gefahr steht hier herein abzurutschen, weil dieser Glaube eigentlich auch nicht mehr ist als ein Besitz und damit vergänglich. Eliphas charakterisiert das Leben der Gottlosen als beständige Sorge. Ausgangspunkt ist, dass ihre Lebensjahre begrenzt sind. Dies treibt sie beständig an und lässt sie nie zur Ruhe kommen: Ist einmal ein guter Zustand erreicht, will man schnell noch mehr oder besseres oder es wird einem von anderen geneidet, so dass man hier in Konkurrenz steht. Dem drohenden Tod kann er sich nicht entziehen, er kann ihn verdrängen, aber letztlich wird er ein Fressen für die Geier sein, d.h. er wird tot sein und ein Aas. Die Aussicht auf seinen Tod, wird ihm sein ganzes Leben immer wieder verdunkeln und ihn verzweifeln lassen. Er stürmt wie ein Heerführer voran, sagt Eliphas, und sinkt doch immer wieder zu Boden, weil es nichts Beständiges gegen den Tod zu erobern gibt und der Tod das letzte Wort behält. 

 

Aber warum wird er immer in diesem Kreislauf der Finsternis und des Falls geraten? Weil er sich aus Hochmut und Übermut gegen den Herrn stellt. Denn er hat sich menschliche Schutzkonstruktionen gebaut, was Schutzschilde einer Rüstung sein können aber genauso mentale Konstrukte, die uns helfen diese Bedrohung durch die Finsternis zu vergessen. Er hat sich zu einem Fettwanst vollgefressen und glaubt so, dass er sicher ist, weil er nicht hungern muss, wie viele seiner menschlichen Geschwister (damals genauso wie heute!). Aber all dies ist nur menschliches Konstrukt, was vor dem Tod keinen Bestand haben wird. Wenn man genau hinschaut, kann man schon in den schönen Behausungen, die wir uns gebaut und in die wir uns eingerichtet haben, erkennen, dass diesem allen der Verfall eingeschrieben ist. „Denn auch Reichtum hat weder Bestand noch bietet er eine Möglichkeit, sich vom Tode loszukaufen (vgl. Ps 49,7–8). Ebenso wie sein Vermögen (ḥajil) wird sein Schatten bzw. seine Gestalt (ṣælæm) keinen Bestand mehr auf der Erde haben (vgl. Ps 49,15)“ (Witte 2021: 260) Aber kann es ihm nicht auch egal sein, was mit seinem Besitz in hundert Jahren ist? Kann es mir nicht ausreichen, wenn ich heute eine schöne Bunga-Bunga-Party feiern kann? Aber Eliphas weitet seine Rede aus, so dass es nicht nur darum geht, dass ein alter Baum letztlich zu Brennholz wird, sondern dass selbst seine jungen Zweige vertrocknen etc. und alles was er in seinem Leben macht letztlich auch schon hier leer ist. Denn alles war wir uns als Menschen selbständig erbauen, ist von seiner Basis leer und ungegründet und damit eigentlich Lüge. Aber ist Eliphas in seinem theologischen Wissen und Ehrfurcht Gott gegenüber nicht genauso unbeständig? 

16, Jobs Erwiderung auf Eliphas

Entgegnend sprach Job:

Gehört habe ich viel davon:

Schlechter Trost ist dies alles.

Wie denn auch? Keinen Wert haben diese geistreichen Reden, oder?

Aber was treibt dich an, dass du widersprichst?

Auch ich würde plaudern wie ihr,

hätte ich eure Seele anstatt der meinen,

euch aufgreifen mit Reden,

schütteln über euch den Kopf.

Die Stärke aber meines Mundes,

die Bewegung meiner Lippen werde ich nicht unterdrücken.

Denn plaudere ich, nicht geringer wird meine Wunde,

aber auch durch Schweigen, wie soll weniger werden die Verwundung?


Nun hat er mich zerschlagen, zu einem Irren gemacht, verwesend,

denn ergriffen hat er mich, dies kann ich bezeugen.

So steht vor mir dieses Verkehrte,

das mir vor Gesicht geführt wird.

Tieftreffenden Zorn wirft er gegen mich,

Knirschen tun seine Zähne gegen mich,

Pfeile bedrohen mich von seinen Schergen.

Mit stechendem Blick bestürmt er mich,

geschlagen hat er mich am Kinn,

gemeinsam sind sie auf mich losgegangen.

Denn gegeben hat mich der Herr in die Hände der Ungerechten,

unter die Gottlosen hat er mich geworfen.

Als ich in Frieden war, scheuchte er mich auf,

ergriff mich an den Haaren und riß mich,

hingestellt wie eine Zielscheibe.

Umzingelt von seinen Speeren,

geworfen in meine Nieren, ohne Rücksicht,

ausgeschüttet auf die Erde meine Galle.

Niedergeworfen, wieder und wieder,

gegen mich angegangen, mit aller Kraft.


Den Sack habe ich auf meine Haut gelegt,

gebohrt mein Horn in die Erde.

Mein Inneres ist zerrüttet vom Weinen,

auf meinen Augenlidern liegt Schatten.

Unrechtes war nicht in meinen Händen,

gut war mein Gebet.

Erde, verberge nicht das Blut meines Fleisches,

es gibt keinen Ort ohne mein Schreien.

Aber schau nur, in den Himmeln ist mein Zeuge,

mein Begleiter ist im Höchsten.

Gelangen möge mein Gebet zum Herrn,

vor ihm tränen meine Augen.

Erprobt werde der Mann vor dem Herrn,

und den Menschensöhnen, die ihm Nahe sind.

Die gezählten Jahre sind gekommen,

dieser Weg, auf dem es keine Umkehr gibt, werde ich gehen.

Auch wenn seine Freunde ihm wirklich gar keinen Trost mehr spenden in seiner Situation, macht er sich dennoch daran ihnen zu antworten. Job kennt die Argumente der Freunde, es ist nicht so, dass ihm hier das Wissen fehlen würde. Aber er benötigt keine allgemeinen Maximen, die z.B. eher für die Regelung des Gemeinschaftslebens gut sind und die Grundlage für den Umgang aller Menschen darstellen. Job ist nicht als „Man“ im Sinne von Heidegger angesprochen, sondern ganz individuell in seinem tiefsten Inneren hat Gott ihn berührt, stellt sich Gott ihm gegenüber. Aber die Freunde kenne diese individuelle Begegnung mit Gott nicht, sie kennen nur dass „man“ ihrer Moral. „Weil die Freunde sich nicht auf Hiobs Situation einlassen, und das heißt, weil sie nicht bereit sind, angesichts des Schicksals Hiobs ihre theologische Position zu korrigieren, wendet sich Hiob von ihnen ab und schildert nochmals in einer Ich-Klage sein Leid.“ (Witte 2021: 270) Aber müssen sie wirklich ihre theologischen Positionen korrigieren? Denn das meiste was sie sagen, ist schon richtig. Was ihnen nur fehlt, ist die Anpassung vom Abstrakten ins Konkrete Leben eines Menschen. Sie sind Menschen als Konfektionsware, brave und graue Kirchgänger, die Milchbrötchen, die nach nichts schmecken, aber die jeder gerade deswegen auch ganz gerne mag, die halt nur nicht satt machen und keinen Charakter und Individualität haben. Dagegen steht Job als der Mensch, der er ist. Geschlagen, widersprüchlich, ratlos, verwirrt - ganz authentisch steht er einfach da. 

 

Aber Job will auch keinen theologischen Disput oder ein Fachgespräch mit ihnen führen. Er will nicht eitel über solche Sachen plaudern. Denn diese wohlgefällige Sophisterei bringt ihn nicht weiter, ist für ihn kein Trost. Denn Theologie ist für ihn kein Beruf oder keine Beschäftigung wo man sich in der Gesellschaft profilieren kann, z.B. als besonders guter, gottgefälliger Mensch oder auch als klug oder gebildet. Dies hat für Job alles keinen Wert mehr. Vielleicht war es das früher auch für ihn, wo er ein erfolgreiche und angepasster Bürger gewesen ist, aber nun hat Gott ihn geschlagen und zu einem Irren gemacht, der in seinen Abgrund beständig schaut. Alles hat sich für Job verkehrt, so dass seine erfolgreiche, nach menschlichen Maßstäben sichere Existenz zerbrochen worden ist durch Gott. Dies steht ihm nun beständig vor Augen. Gott hat seine ganze bürgerliche Existenz zerschmettert und mit unzähligen Pfeilen zerstört und so befindet sich Job beständig in dieser Bedrohung von Gott. Aber warum macht Gott dies? Und was macht es mit seiner Gottesbeziehung, die von seinen Freunden immer mehr als gotteslästerlich empfunden wird. 

 

Der persische Dichter und islamische Mystiker Fariduddin Attar (1136-1221) berichtet in seinem „Buch der Leiden“, was Navid Kermani mit dem Buch Hiob verglichen hat, von einer Frau, die um ihr verstorbenes Kind trauert, die uns auch Job näherbringend kann: „Eine Mutter hat sich in wilder Wehklage um ihren getöteten Sohn entblößt und lästert Gott: ‚Gekrümmt war ihr Rücken wie ein Bogen, / So schoß der Pfeil ihres Jammers in den Himmel.' Als jemand ihr Vorhaltungen macht und sie auffordert, den Schleier wieder überzuziehen, antwortet die Frau: ‚Wenn auch dir das Feuer in der Leber loderte, / Wäre dir mein Tun nicht nur erlaubt, sondern geboten. / Bevor mein Feuer nicht entzündet dein Herz, / Spiel dich nicht auf als Richter. / Du bist nicht die Mutter eines toten Kinds, / Was schreibst du mir vor, wie zu klagen? / Ich seh' dich doch, du gehörst zu den Freien, / Weißt nichts von denen, die ans Leiden gefesselt sind.“ (Kermani 2005: 209f.) Man kann sich gut vorstellen, das Job und die verwaiste Frau sich in ihrer Stimmung sofort verstehen würden. Wie absurd muss der Frau der Vorwurf erscheinen, dass sie ihr Haar oder selbst ihre Brüste zu bedecken hat, wenn in ihr der Schmerz und das Nichts und die Sehnsucht und das Vermissen nach dem verlorenen Kind tobt. Wie unterschiedlich sind hier nur die Gottesbeziehungen: der eine lebt diese Beziehung, indem er die Vorschriften einhält und sich umso besser fühlt, desto unpersönlicher er wird, weil er immer mehr den allgemeinen Vorschriften entspricht. Nicht Individuelles mehr, nur noch ein „Man“. Und wenn man das „Man" in die Richtung religiöser Beziehung weiterführt, so wird das nichtsagende, platitüdenhafte Getratsche im gesellschaftlichen Umgang, zu einer Gottesbeziehung, die ebenso leer ist, weil man eben so als Mensch nicht mehr vor Gott tritt, sondern nur noch das Geplapper von der Präsentation von erfüllten Moralvorschriften ist - keine persönliche, individuelle Beziehung, sondern nur noch Folklore. 

 

Die Frau bei Attar aber scheißt auf diese Moralvorschriften und tritt buchstäblich nackig vor Gott, so wie sie ist und schreit ihm ihr tiefstes Inneres entgegen. Aber ihre Auflehnung gegenüber Gott ist gar nichts Überhebliches, etwa dass man Gott nicht braucht, weil er im wirklich Leid eh nicht hilft und die ganze Religion nur brainfuck ist und wir besser leben, wenn wir als Menschen unser Leben selbst in die Hand nehmen. Diese Frau und auch Job treten gar nicht selbständig und eigenmächtig vor Gott, sondern zutiefst ohnmächtig. Aber paradoxerweise gewinnen sie in ihrer Ohnmächtigkeit eine Begegnung mit Gott die fast auf Augenhöhe stattfindet: denn es findet ein individuell, persönliche Begegnung statt, die ihr eigenen Regeln hat und sich nicht mehr an ein vorgegebenes Skript halten muss. Denn sie treten nach menschlicher Logik berechtigt mit ihrem Anliegen klagend vor Gott. Aber Auflehnung gegen Gott ist hier keine Distanz, sondern erzeugt eine viel tiefere Nähe, als das Befolgen von vorgegebenen Regeln. „Weder die Bibel noch Attar rufen dazu auf, Gott zu lästern, vielmehr stellen sie die Auflehnung gegen Gott als ein intimes, vielleicht das intimste Moment des Glaubens dar“ (Kermani 2005: 211). 

 

Aber vielleicht sind es einfach nur unterschiedliche Wege zu Gott, die beide ihre Legitimation haben dürfen, nur abhängig von den unterschiedlichen Lebenslagen sind. So entgegnet Job auf Eliphas: „Auch ich würde plaudern wie ihr, / hätte ich eure Seele anstatt der meinen.“ Denn es ist kaum zu wünschen, dass jeder die Gefühlslage erlebt, in der Job und die verwaiste Frau stecken. Vielleicht kann man ein gottgefälliges Leben tatsächlich auch in der Bescheidenheit eines bürgerlichen Reihenhauses mit dem Tratsch über den Gartenzaun leben, aber dann sollte es genauso legitim sein, wenn jemand eine tief persönliche Beziehung zu Gott sucht bzw. diese eher aufgenötigt bekommt, wie bei Job und der verwaiste Frau. „Gewöhnlichen Menschen sind solche Gedanken nicht erlaubt, und die Ungläubigen und Gleichgültigen haben in Attars Welt ohnehin keine Ahnung. Die Auflehnung gegen Gott ist den Heiligen, Propheten und Narren vorbehalten und keineswegs als allgemeine Handlungsweise anempfohlen. Nur den Liebenden ist die Sünde nachzusehen, nur die Narren sind vom Gesetz befreit, nur Mose selbst darf - aus Liebe, wie Attar mehrfach betont - die Gesetzestafeln zerbrechen.“ (Kermani 2005: 209) 

 

„Die Stärke aber meines Mundes, / die Bewegung meiner Lippen werde ich nicht unterdrücken.“ Job spricht also als heiliger Narr, den die Freunde nicht verstehen und den sie zu sich zurückholen wollen, in die bürgerliche Existenz der Weisheitstheologie. Aber Job will und vor allem kann er dies auch nicht. Er muss aussprechen, was in ihm tobt, was versucht in Worten einen Weg, seinen Weg, zu finden. Denn der Trost der Freunde und ihres Weltbildes kann ihm schon lange kein Trost mehr sein, halt leer zu ihm herüber aus einer langen vergangenen Zeit seines Lebens. „Denn plaudere ich, nicht geringer wird meine Wunde, / aber auch durch Schweigen, wie soll weniger werden die Verwundung?“ Für Job gibt es keinen Weg mehr in das Geplaudere der Freunde zurück, aber er kann auch nicht einfach schweigen - denn seine Wunden sind einfach da, verschwinden nicht, bestimmen sein Leben… und geschlagen hat Gott sie ihm. Aber diese Wunden sind durchaus ambivalent, sie sind nicht nur negativ, sondern treiben ihn auch zu einer individuelle und tiefen Gottesbeziehung. Augustinus gibt der Verwundung auch diese Doppeldeutigkeit, wenn er kurz nach der Schilderung seiner Bekehrung schreibt: „Mit den Pfeilen deiner Liebe hattest du unser Herz durchbohrt, und in unserm Innersten hafteten deine Worte.“ (Augustinus 1983: 218) Wenn er von den „Pfeilen der Liebe“ spricht, ist diese Ambivalenz schon da: es sind Verwundungen, die aber gleichzeitig aus Liebe geschlagen werden. Aber was bedeutet dies? Geht es darum wie die Märtyrer den Schmerz für Gott und ihren Glauben zu ertragen? Oder bringt es mich Christus näher, wenn ich mich seiner Geißelung und seinem Kreuzestod verbunden fühle und dies „miterlebe“? Mir fehlt die Fantasie dafür, was es mir bringen sollte, wie der Heilige Sebastian, die Pfeile einfach auszuhalten und an meinem Glauben festzuhalten. Es testet vielleicht Standhaftigkeit und vielleicht auch die dickköpfige Borniertheit meiner Glaubensüberzeugungen, aber vertieft dadurch doch noch lange nicht meine Gottesbeziehung. Vielleicht erlebe ich es als verdient, weil ich ein Sünder bin. Aber darum geht es nicht bei Job. Er macht sich durch die Verwundungen nicht klein, sondern begegnet Gott oder besser geht auf ihn zu, macht sich zu Gott auf den Weg und dies mit seiner ganzen Person und seinem tiefsten Inneren! 

 

Aber für Augustinus gibt es nicht nur die Verwundungen, aus denen er Gott begegnet. Sondern er verbindet dies direkt mit „und in unserm Innersten hafteten deine Worte.“ (Augustinus 1983: 218) Auch Job schiebt nicht die ganze Schrift beiseite, aber er lässt sich davon ganz anders ansprechen, als seine Freunde. Für die Freunde ist das Verständnis der Schriften eher ein kognitives Glasperlenspiel und sie gleichen eher den Sophisten im antiken Griechenland als den Philosophen. Für Job kann es kein Glasperlenspiel mehr sein, für ihn ist es eine existenzielle Suche nach Heil! Gott ist trotz allem der einzige „Ausgang“, den er in seiner Situation sieht, denn eine weltliche Linderung sieht er realistischerweise nicht mehr und die einzige Alternative ist der Wunsch, nicht geboren worden zu sein. Auch für Augustinus ist das von Pfeilen Gottes getroffen werden nicht etwas, was zur Bestrafung geschieht, sondern auch für eine tiefere Wahrheit öffnet „‚You had pierced…' By this past tense he [Augustinus] was surely referring to the words of Paul which he had recently read in the garden [d.h. nach seinem Bekehrungsereignis] and to any scriptural readings which he had attempted since then. He describes these arrows as 'transfixing our intestines'. Before his conversion, he had been pierced only in the forepart of his heart, but now his heart, the centre of his feelings and thinking, was transfixed too. Originally, the arrows were an image from the Psalms, not the arrows of God's punishment in Psalm 38 but ‚the sharp arrows of the mighty' (Ps. 120.4). Later in life he comments on this passage and explains that when human hearts are transfixed by the arrows of God's word, the effect is not death, but the arousal of love’?“ (Fox 2015: 300) Augustinus unterscheidet hier zwei verschiedene Arten, vom Glauben angesprochen zu werden. Die eine wird nur im „Vorhof“ des Herzens empfunden. Dies mag es sein, wenn man vielleicht eine Wertegrundlage sucht für eine gerechtere Welt oder zur eigenen Orientierung in einer turbulenten, überkomplexen Welt. Dies ist Augustinus erste Begegnung mit dem Christentum, aber genauso auch seine Suche bei den Manichäern, in der Anerkennung in der Rhetorik, in der Philosophie etwa von Cicero oder Plotinus. Hier ist das Christentum bestenfalls primus inter pares ist. Nach seinem Bekehrungserlebnis im Park ist dies eine andere Suche geworden, da Gott ihn hier Mitten im Herzen getroffen und verwundet hat. Zwar hat Gott Augustinus nicht so radikal zerschlagen, wie er dies mit Job gemacht hat, aber trotzdem scheint er dies als tiefgreifendes Ereignis erfahren zu haben, denn das „normale“ Resultat wäre hier eigentlich der Tod gewesen, was aber abgewendet wird in die Erweckung von Liebe. Aber wohl einer Liebe, die in der tiefsten Vereinsamung der Todesangst Beziehung entdeckt und realisiert (sozusagen ein Karsamstag-Ereignis). Hier ist dann auch die Parallele zu Job, der auch in seiner Vereinsamung nicht Gott abschwört, wie seine Frau dies verlangt, oder versucht dies moralisch wieder zu ordnen, wie seine Freunde dies fordern. Beides sind „unsere“ Versuche aus Gott Sinn zu machen: die eine verwirft Gott, weil er an der Theodizee scheitert oder nur an einen Gott glauben möchte, von dem man einen Vorteil hat oder das man Gottes Unverständlichkeit in den moralischen Verfehlungen von sich selbst sucht. Aber hier geht es darum diese Sinnlosigkeit und dieses Nicht-Verstehen-Können auszuhalten - und einfach ein absurdes Liebes- und Vertrauensangebot anzunehmen. 

 

Dies ist eine Liebe und eine Gottesbeziehung, die alle weltlichen Maßstäbe hinter sich gelassen hat. Diese Differenz zeigt sich auch darin, wenn man dies vor dem Hintergrund der Liebespfeile des römischen Gottes Amor (auch Cupido) betrachtet. Denn auch Amor verschießt Liebespfeile, aber weltliche, denn es geht immer um die Liebe bzw. vielleicht besser Leidenschaften für bestimmte Personen oder Gegenstände. So schreibt Fox in Bezug auf Augustinus: „The Lord, he [Augustinus] thinks, is a skilled shot, with His eye on love. Pagans credited their Cupid with shooting arrows of love, but his arrows were usually related to looks and glances. 'God shoots to turn us into His lovers,' Augustine was later to write, and He does so by His words, as Cupid never did. Plotinus and his pupils had written memorably of the soul's innate love for the One, but the One never spoke or shot verbal arrows at anyone. From now on, love will remain central to Augustine's religious life, but it is a differently grounded love to the love of the Platonists. Arrow-struck Augustine was burning with passion for a new lover: God.“ (Fox 2015: 300) Die in Augustinus bei seiner Bekehrung entfachte Liebe ist also nicht die Liebe des Amor. Dies wird auch deutlich, dass die römische Mythologie dies vom griechischen Eros herleitet, aber eben nicht der Agape. Aber Agape genau die Form der Liebe, die Augustinus hier entdeckt. Und es ist auch etwas anderes als die eher intellektuelle Liebe eines Plotinus zu dem abstrakten Einen. 

 

Nun hat er mich zerschlagen, zu einem Irren gemacht, verwesend, / denn ergriffen hat er mich, dies kann ich bezeugen. Job ist nicht nur leicht verletzt, er ist radikal zunichte gemacht. Das einzige, was Job übrig bleibt, ist sein eigenes „Überleben“, was aber kein Leben mehr ist. Denn dies ist mit diesen Verletzungen auch kein Leben mehr. Job würde am liebsten auch diesen letzten Rest Leben loswerden, ihn stößt sein eigenes Leben so ab, dass er es nicht nur beendet wissen will, sondern dass es nie existiert haben sollte. So zerschlagen irrt Job umher, wie ein verwesender untoter Zombie. Aber Job ist ergriffen von Gott, er erfährt seine Nähe, zwar in einer harten Hand, aber er kann Gott so selber bezeugen. Er hat nicht nur von Gott gehört durch andere und akzeptiert dies als Lehre für sich. So wie man Katholik ist, weil man in Köln geboren ist - genauso wie man dadurch FC-Fan ist - beides nur zufällige äußerliche Erscheinungen (auch wenn es vermutlich besser ist als ein atheistisch-bigoter Bayern-Fan). Aber für Job gibt es keine Folklore und tote Überlieferung mehr, sondern  das Gegenteil davon, so steht vor mir dieses Verkehrte, / das mir vor Gesicht geführt wird. Es gibt nur noch diese direkte harte Begegnung, die er in seiner Zerstörung wahrnimmt. Zwar erkennt Job, dass seine Erfahrung und Ergriffensein durch Gott, nichts mit der Theologie der Freunde zu tun hat. Aber diesen „harten“ Gott, kann er auch nicht einfach so annehmen. „An Ijobs Situation zerschellt ihre [der Freunde] Lehre. Sein Fall ist grund-los, unaufhellbar das Verfahren Gottes mit ihm, mit dem Menschen. Und der Versuch der Freunde, sich durchzusetzen, ist nur das Zeichen der Angst vor der Wirklichkeit, und, da Gott darunter wirkend ist, vor dem wirklichen Gott. Beide, sie wie Ijjob, jeder auf seine Weise, weigern sich, eine die Herrlichkeit, die Gottessicherheit des Menschen vernichtende Wirklichkeit anzunehmen.“ (Stier 1954: 293) Zwar muss Job darüber klagen oder besser er wächst langsam immer mehr dort hinein, nicht mehr zu klagen, sondern mit Gott zu hadern - aber dies als eine intime Gottesbeziehung. Aber Stier stellt richtig fest, dass Job genauso wenig wie die Freunde einen Gott akzeptieren können, der so vernichtend ist. Es ist sein Gott, der ihm begegnet und nicht „nur“ der überlieferte Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Ex 3,6). Die Freunde haben ein zurechtgelegtes, dogmatisches Bild von diesem Gott gemacht. Aber wer ist eigentlich der Gott Abrahams? Ein Gott, der ihn herausführt aus der Heimat ins absolute Ungewisse. Wer ist der Gott Isaaks? Ein Gott, der verlangt, dass er seinen eigenen Sohn tötet. Wer ist der Gott Jakobs? Ein Gott, der bis auf den Tod mit ihm am Jabbok kämpft. Dies ist ein anderer Gott als der domestizierte Gott der Theologen-Freunde. So ist aus dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ insgeheim der Gott Cajetans, Ottavianis und Ratzingers geworden. Bei den einen ist es der unberechenbare Gott, der in das Leben einbricht und bei den anderen ist er eher ein Syllogismus, der aus der Tradition berechnet wird - ohne je diese vernichtende Begegnung in der Sprachlosigkeit erfahren zu haben (zumindest Thomas von Aquin hat das nach einem langen Versuch Gott „begreifen“ zu können am Ende erfahren). Es geht nicht darum eine filigran ausgearbeitete verkopfte Theologie auswendig zu lernen oder auszuklügeln, sondern die Herrlichkeit Gottes anzunehmen, die grund-los und unaufhellbar bleibt. 

 

Was Job nun in den nächsten Versen seiner Rede schildert, sind alles andere als ein paar Liebespfeile, sondern es ist ein an Brutalität kaum zu überbietendes Gemetzel, was Job hier von Gott an sich erfährt. Es ist das „Verkehrte“, als was wir normalerweise Gott empfinden. „Das Buch Job steht darum untern den Büchern des Alten Bundes wie ein einziger Widerspruch: als Hohn geradezu auf all unsre Vorstellungen von Gott - und eben so doch, wie kaum ein anderes, als Evangelium der Passion vor dem Evangelium der Passion.“ (Przywara 1956: 498) In der Passion Christi findet das Gemetzel an Job tatsächlich seine Parallele. Hier vollzieht Gott dies nicht mehr an seinem gehorsamen Knecht, sondern an seinem geliebten Sohn, der in allem seinem Willen entspricht. Und vielleicht müssen wir lernen, genau diese Anstößigkeit nicht wegzudeuten, einen Sinn da hinein zu rationalisieren (etwa in dem er das Opfer für unsere Sünden ist). Vielleicht dürfen wir uns in dieses Gemetzel selber hineindeuten, so wie wir uns selber fühlen: trauernd um Verstorbene… verletzt durch zerbrochene Lieben… ohnmächtig im sozialen Getriebe zerrieben zu werden… zu dämlich, um die Welt wirklich zu verstehen… voller Angst vor dem Abgrund in einem selbst… Dies hat alles keinen Sinn, ist nicht zu rechtfertigen, ist nicht zu heilen… sondern bleibt das zerfetzte Gemetzel, was mein Leben ist. Mein Leben, ganz klein und wertlos in diesem Moment, nichtig und belanglos, ganz einsam und vergessen, wenn ich es nachts im Bett betrauere… und dann doch ganz groß, wenn ich es so vor Gott bringe, wenn ich vor ihn treten in meiner Zerbrochenheit, mich im stelle, als der Mensch, der ich bin. Kein großer Mensch, kein selbständiger Mensch… aber ein trotz allem liebender Mensch. Ein Mensch der gerade in der Zerbrochenheit immer aufs Neue wieder die Liebe entdeckt, zwar als bedürftig nach heilender Liebe, aber gerade auch in der Zerbrochenheit als unendlich verschenkende Liebe, ohne Zweck, ohne Bedingung, ohne Erwartung… 

 

„Es gibt nichts Ganzeres als ein zerbrochenes Herz“, zitiert Navid Kermani den Rabbi Nachman von Bratslav in seinem Buch „Der Schrecken Gottes“ und nimmt dies als Moto. Und er berichtet eine ähnliche Geschichte über ein zerbrochenes Herz aus dem islamischen Kulturkreis: „Ein Scheich holt mit seinen Jüngern einen dringend benötigten teuren Mühlstein. Als einer von ihnen stolpert und der Stein auf den Boden fällt, so daß er zerbricht, gerät der Scheich in Verzückung. Die Jünger murren darüber, den schweren Stein umsonst tagelang getragen zu haben - wieso der Scheich denn zu allem Überfluß auch noch in Verzückung gerate über ein solches Mißgeschick? Indem der Stein zerbrochen sei, antwortet der Scheich, sei er davon erlöst worden, ständig nur im Kreise zu drehen, erlöst von der Verwirrung und dem Herum-irren. Wäre er heil geblieben, hätte er sich weiterhin immerfort drehen müssen. Aber jetzt habe der Stein Frieden. Als ich sah, daß der Stein Ruhe fand, indem er zerbrach, wurde auch mein Herz weich wie Bienenwachs; der Stein hat mir das Geheimnis verraten: Wen immer die Unruh' ergriffen hat, / Wird befreit, er muß nur zerbrechen. / Wer immer verwirrt bleibt und ruhelos, / Wird nicht Linderung finden, bis in die Ewigkeit.“ (Kermani 2005: 98f.) Erst das Zerbrechen befreit den Stein von seiner Aufgabe, sich ständig im Kreis drehen zu müssen. Eigentlich findet er erst Ruhe, nachdem er den „Sinn seines Daseins“ verloren hat. Aber ist dies der Sinn, oder eher die gesellschaftliche Funktion, die hier verloren geht? Auch in Taoismus gibt es eine solche Geschichten und diese von keinem geringeren als dem großen Weisen neben Laozi, nämlich Zhunagzi (庄子, 365-290 v. Chr.): „Zhuangzi befand sich in den Bergen, sah einen großen Baum, mit Zweigen und Blättern ganz üppig. Ein Holzfäller blieb dort stehen, wollte diesen aber nicht, sagend: ‚Kann man für nichts benutzen.‘ Zhuangzi sagt: ‚Da dieser Baum zu nichts genutzt werden kann, so hat er die vom Himmel zugeteilten Jahre.“ (Eigene Übersetzung, chinesischer Text aus Zhuangzi 2018: 445) Auch hier überlebt der Baum und kann alt werden, nur weil er nutzlos ist und der „Sinn seines Daseins“ verfehlt. Aber was ist dieser Sinn für den Baum? Ein Schrank zu werden oder zusammen mit dem islamischen Mühlstein Getreide zu mahlen? Oder ist Jobs Daseinssinn siebentausend Schafe und dreitausend Kamele zu haben? Um diese muss er sich jetzt zumindest nicht mehr kümmern und sorgen. Und selbst wenn er mit seiner Familie jeden Tag ein Lamm gegessen hätte, sie hätten diese riesige Herde ihren Lebtag nie aufessen können. Aber vielleicht hat er damit auch die Armen ernährt, mag man einwenden. Dies wäre sicher sinnvoller, aber selbst ein so frommer Mann wie Job hätte sicher nicht seinen ganzen Besitz an die Bedürftigen vergeben, bis diese satt sind. Und wenn man sich Lindner und seine Freunde anschaut, wird dies auch nie der Sinn von Reichtum werden. Sondern man häuft Reichtümer für sich an und noch nicht einmal für den eigenen Gebrauch im Überfluss, weil man eben nie die ganzen siebentausend Schafe essen kann. Nein, man dreht sich im Kreis, wie der Mühlstein in der dunklen, staubigen, muffigen Mühle, während der zerbrochene Mühlstein draußen in der Sonne liegt und am Nachmittag Schatten durch den krummen chinesischen Baum neben ihm bekommt. 

 

Auch Job ist aus allem Funktionieren mit Gewalt herausgerissen worden. „Als ich in Frieden war, scheuchte er mich auf, / ergriff mich an den Haaren und riß mich, / hingestellt wie eine Zielscheibe.“ Jobs Leben als gut laufender Mühlstein ist zerbrochen worden, davon ist nichts mehr übrig. Aber anders als der Mühlstein kann er jetzt nicht einfach entspannt zerbrochen in der Sonne liegen und sein müßiges Leben genießen. Diese Zerbrochenheit macht etwas im tiefsten Inneren mit ihm, denn es ist nicht nur sein äußeres Leben zerbrochen, sondern auch sein Inneres und seine tiefsten Glaubensüberzeugungen über Gott und die Welt - und dies ist das eigentliche Drama von Job. Auch der Schriftsteller C.S. Lewis  kann hierauf ein Licht werfen, wenn er nach dem Tod seiner Frau über seine Trauer schreibt und dem damit einhergehenden Hadern mit Gott. Denn vor dem Tod seiner Frau war Lewis Glaube eine schöne Wertegrundlage für sein Leben. Aber trägt dieser Glaube wirklich, wenn man so tief in den Abgrund gestoßen wird, wie der Trauer von Lewis um den Tod seiner Frau oder dem was Job widerfahren ist? „Of course it is different when the thing happens to oneself, not to others, and in reality, not in imagination. Yes; but should it, for a sane man, make quite such a difference as this? No. And it wouldn't for a man whose faith had been real faith and whose concern for other people's sorrows had been real concern. The case is too plain. If my house has collapsed at one blow, that is because it was a house of cards. The faith which ‚took these things into account' was not faith but imagination. The taking them into account was not real sympathy. If I had really cared, as I thought I did, about the sorrows of the world, I should not have been so overwhelmed when my own sorrow came. It has been an imaginary faith playing with innocuous counters labelled 'Illness', 'Pain', 'Death' and 'Loneliness'. I thought I trusted the rope until it mattered to me whether it would bear me. Now it matters, and I find I didn’t.“ (Lewis 1961: 31) Und auch Job stellt fest, dass sein Glaube und der seiner Freunde nur eine bequeme Vorstellungswelt gewesen ist - die leider jetzt nicht mehr trägt. Eigentlich hat Job und Lewis der ganze Schmerz herausgerissen aus einer eitlen, selbst zusammengeknibbelten Traumwelt, die eine schöne Dekoration ihres bürgerlichen Daseins war und die sich beileibe nicht um die Übel dieser Welt geschert hat, auch wenn sie so getan hat bzw. selber daran geglaubt hat. Der islamische Sufi Attar geht sogar so weit, dass er das Leiden und den Schmerz als wünschenswert ansieht, damit sich eine solche Befreiung ereignen kann: 

 

„Was brauchst du Medizin, wenn du keinen Schmerz hast? 

Was nützt der Befehl, wenn du kein Sklave bist? 

Solang du nicht brennst vor Schmerz, 

Kann dich das Feuer nicht erleuchten. 

Das Leiden sei dein Elixier, besorg es dir, 

Die Seele gib hin, um auf Seele zu hoffen. (Kermani 2005: 57) 

 

Man gibt die Seele im Schmerz auf, um auf die wahre Seele zu hoffen, so ist Attars Schlussfolgerung. Oder man muss sein Ego verlieren, um sein Selbst zu finden. Für Attar ist der Schmerz und der Schrecken vor Gott ein wesentlicher Teil, um zu sich selber zu kommen. Nur so kann man feststellen, ob der eigene Glaube ein Kartenhaus aus eitlen Vorstellungen ist, die ich mir selbst zurechtgelegt habe, also ob mein Gott tatsächlich reiner brainfuck ist - oder ob er wirklich da ist. „Ich werde sein, als der ich da sein werde“, wie sich Gott dem Mose am Dornbusch zu erkennen gibt. Aber Gott wird eben in dieser Selbstbezeichnung in seinem Sein so gar nicht berechenbar. Deswegen ist er kein Grund, der eine vordergründige Sicherheit gibt. Weder gibt Gott dir Eigenheim, Frau und zwei Kinder, wenn du nur ordentlich betest, und genauso wenig ist er in einer Theologie, Lehramt oder Katechismus festlegbar. Es gibt keinen begriffenen Gott von Cajetan, Ottaviani und Ratzinger! Der Gott, dem Job dagegen begegnet durchbricht alle Vorstellungen von Berechenbarkeit und Sicherheit, sondern er begegnet Job mit „Speeren, / geworfen in meine Nieren, ohne Rücksicht“. Dabei muss man bei dieser Formulierung berücksichtigen, dass „die Nieren gelten (wie die Leber) im Alten Orient und in der Antike sowohl als Sitz des Lebens (vgl. Spr 7,23) als auch der Gefühle (vgl. Hi 19,27; Ps 16,7; Spr 23,16; Klgl 3,13.)“ (Witte 2021: 273) Somit fühlt sich Job zentral in seinem Lebensnerv von Gott getroffen und bedroht. Job endet dann seine Klage mit dem Vers: „Niedergeworfen, wieder und wieder, / gegen mich angegangen, mit aller Kraft.“ 

 

Und Gott hat hier ganze Arbeit an Job geleistet. Job hat nichts mehr, selbst Kleider hat er keine mehr, sondern läuft nur noch mit einem Sack herum. Er fügt noch hinzu „gebohrt mein Horn in die Erde“, was vermutlich eine Redewendung ist, wo das Horn für die Kraft steht, die aber jetzt nicht mehr frei verfügbar ist, weil das Horn in der Erde feststeckt. „Mein Inneres ist zerrüttet vom Weinen, / auf meinen Augenlidern liegt Schatten“, diese Selbstbeschreibung Jobs berührt einen und drückt sehr deutlich die Gemütsverfassung aus, in der Job sich befindet. Aber er wehrt sich weiter dagegen, dass dieses Leid eine Strafe ist, um Gerechtigkeit walten zu lassen, aufgrund von moralischen Verfehlungen Jobs. „Unrechtes war nicht in meinen Händen, / gut war mein Gebet“, womit Job sich wieder gegen den Vorwurf der Freunde wehrt, denn er hat nicht gesündigt in Gedanken und Werken, zumindest nicht so, dass dafür diese Vergeltung angebracht wäre. „Noch verstummt Hiob nicht in seiner Trauer. Das Bewusstsein seiner Unschuld ist sein Hoffnungsanker.“ (Witte 2021: 274) Die Frage ist, ob der Hoffnungsanker etwas positives ist, oder ist es eigentlich immer noch die letzte Verbindung, die Job zur Theologie seiner Freunde hat und die es ihm noch unmöglich macht, durch Gott sich wirklich befreien zu lassen? Ist diese Unschuldsbeteuerung nicht etwas, was ihn immer noch an diesen berechenbaren Gott bindet? Aber dieser berechenbare Gott ist eben der Gott, den Menschen sich ausgedacht haben und nicht der Gott, der mir wahrhaft begegnet. Der mich in seiner Begegnung in meiner Tiefe trifft und alles auslöscht, was ich mir zu ihm so ausgedacht habe: „Ich werde sein, der ich da sein werde.“ 

 

Aber schau nun, in den Himmeln ist mein Zeuge, / mein Begleiter ist im Höchsten.“ Dieser und die drei folgenden Verse (die das Kapitel 16 abschließen aber nicht Jobs Erwiderung auf Eliphas) sind relativ schwer zu deuten. Zu dem Begleiter bzw. Mittler im Himmel schreibt der Exeget Witte: „Der Mittler im Himmel ist der personifizierte Klage- und Unschuldsruf Hiobs, wobei dann reʿāj von reaʿ ‚Schrei‘ (vgl. 36,33; Ex 32,17; Mi 4,9) abgeleitet wird. Für diese Annahme sprechen die Parallelität zu dem in V. 18 genannten Zeter- und Hilferuf (zeʿāqāh) Hiobs, die LXX mit δέησις (‚Gebet’) und der Parallelismus der auch über einen Endreim miteinander verbundenen Wörter von ‚mein Auge (ʿênî)‘ und ‚mein Schrei (reʿî)‘.“ (Witte 2021: 274) Dass der Begleiter der personifizierte Schrei zu Gott ist, ist eine interessante Deutung. Es ist quasi mein „Doppelgänger“ (wie in der Romantik beliebt etwa im Siebenkäs oder im Gedicht  von Heine) bei Gott und die Romantik wusste nur allzugut, dass man sich erst in diesem Doppelgänger selber erkennt. Hier kann Witte durchaus Recht gegeben werden, aber verfehlt er nicht gerade die Dynamik der Entwicklung von Job, wenn er dies auf gleicher Ebene als Klage- und Unschuldsruf versteht? Job klagt gegen Gott, keine Frage. Aber bleibt es bloßes Klagen vor Gott? Ist es nicht so, dass Job immer weniger jammert über sein ungerechtes Schicksal, sondern immer selbstbewusster vor Gott treten kann? Diesen Weg ist er an dieser Stelle noch nicht zu Ende gegangen, aber zumindest steht er nicht mehr am Anfang damit. Und ähnlich ist es auch mit seiner Unschuld, denn auch hier ist Job viel weiter, als Witte dies hier einfach statisch feststellt. Job versteht sich als unschuldig, keine Frage, aber er realisiert immer mehr, dass dies eine Kategorie der Theologie seiner Freunde ist und nicht mehr passt, wenn man in diese gewaltige Begegnung eintritt, zu dem Gott, der „nur“ von sich sagt „Ich werde sein, der ich da sein werde.“ Job wechselt immer mehr von seiner Identität zu seinem Begleiter und Doppelgänger im Höchsten, nämlich bei und vor Gott. Irdische theologische Kategorien verblassen dabei immer mehr. 

 

So geht es weiter mit „Gelangen möge mein Gebet zum Herrn, / vor ihm tränen meine Augen.“ Hier übersetzen wir jetzt nicht mit der „Septuaginta Deutsch“, dass „meine Bitte möge zum Herrn gelangen“, sondern δέησις verstehen wir nicht als Bitte, sondern als Gebet. Dann bedeutet dieser Vers aber auch nicht mehr, dass Gott doch nun endlich mal einsehen sollte, wie unschuldig Job ist und dass er gefälligst sofortig in sein altes Leben wieder eingesetzt werden muss. Nein, darum geht es hier schon gar nicht mehr. Vielmehr ist es Job selber und nicht seine Bitte, die vor Gott kommt. Job wird  als Gebet quasi immer mehr zu seinem eigenen Doppelgänger vor Gott. Dann ist sein tränengefülltes Auge vielleicht auch gar nicht mehr das jammernde Auge, was seinen ganzen irdischen Verlust und Ungerechtigkeit beklagt, sondern es ist ein noch viel tieferer, kälterer Schmerz: es ist die Angst, direkt vor Gott zu treten, in seine Gewaltigkeit und Herrlichkeit. Denn gerade davor kann ich nicht mehr bestehen. Während der Diabolos ihm alles nehme konnte, was Job hatte, befindet sich Job jetzt auf den Weg dahin, sich von Gott alles nehmen zu lassen, was er ist! 

 

Job wechselt immer mehr von der Logik des Habens in die des Seins. Aber dies „Logik“ ist eine ganz andere, weil sie alle Gegensätze und Kategorisierungen aufhebt, die wir so haben. Fridolin Stier kommentiert diesen Vers ganz wundervoll und mit tiefer Einsicht: „Gott, der sein Recht bricht, zugleich der Schiedsmann, der ihm Recht verschafft gegen Gott. Mit Gott sich gegen Gott verbünden, im Feind-Gott den Freund-Gott, im Rechtsbrecher den Rechtsprecher glauben: Widersinn, Wahn dem ‚Verständigen', verständlich nur dem Gott Verfallenen, der in das Finstere Gottes fiel und doch in seinem Licht sich weiß, im einen wie im anderen lebt.“ (Stier 1954: 294) Hier geht es gar nicht mehr darum, der eigenen Unschuld Recht zu verschaffen. Die verständigen Freunde können gar nicht mehr verstehen, wo Job sich überhaupt befindet. Und auch Job selbst versteht dies noch nicht wirklich, sondern befindet sich auf dem Weg dahin, ahnt eher etwas, um dies immer mehr zu realisieren. Er ist jemand der Gott jenseits aller Vorstellungen, die er sich von Gott gemacht hat, immer mehr verfällt. Job lässt sich immer tiefer fallen, in diese Finsternis, die Gott ist, wenn wir keinen Gott mehr „haben“ wollen, sondern in seinem „Sein“ vergehen. Und so wie in dieser tiefsten Finsternis, erst das wahre Licht erscheint und wie Stier richtig feststellt, Job nun in beiden lebt, genauso verliert Job sein ganzes Dasein vor Gottes übermächtigem Sein, um so in seinem Nichts erst wirklich realisieren zu können, wie unendlich beschenkt er durch Gott ist. Oder wie oben der Sufi Attar sagte: „Die Seele gib hin, um auf Seele zu hoffen.“ (Kermani 2005: 57) Dies scheint gar nichts zu sein, was so typisch jüdisch oder auch christlich ist, wenn es auch im Islam erkannt wird. Aber es scheint auch gar nicht typisch abrahamitisch zu sein, denn der Buddhismus und Daoismus kennen diese Bewegung auch sehr genau mit der präsenten Buddhanatur in jedem Menschen. Und selbst ein Philosoph im 20. Jahrhundert kann auf seinen eigenständigen Wegen genau dort hingelangen.  So formuliert Heidegger in seinem fast vollkommen unrezipierten Spätwerk aus dem Nachlass: „Sterbliches Denken muß in das Dunkel der Brunnentiefe sich herablassen, um bei Tag den Stern zu sehen.“ (Heidegger 2006: 138) Dort sitzt Heidegger nun zusammen mit Job, Attar, Nan Huaijn und noch einigen anderen und sie schauen staunend nach oben - nur Prof. Ratzinger wurde hier bisher nie gesichtet. 

 

Erprobt werde der Mann vor dem Herrn, / und den Menschensöhnen, die ihm Nahe sind.“ Aber was meint hier „erprobt“? Ob Job moralisch unschuldig ist? Und dies dann auch vor seinen Freunden offenbar gemacht wird? Das Bedürfnis danach haben sicherlich viele Menschen, dass sie sich selbst in ihrer Tadellosigkeit darstellen können. Aber Job scheint hier doch anders zu sein. Den Job steht nicht auf der Bühne der Selbstdarsteller, sondern sitzt im Brunnen vom Heidegger. Er bleibt tief im Abgrund und wird erprobt vom Herrn, inwiefern er diesen Abgrund tatsächlich aushält. Es ist das Gegenteil von einer Selbständigen Unschuldsbeteuerung oder dem Behaaren auf der Rechtfertigung des eigenen Verhaltens. Sondern es geht um die Paradoxie, ob Job es aushält loszulassen: Alles loszulassen was er gehabt hat, an Besitz, an Familie, an Vorstellungen von Gott und der Welt und nur noch das zu sein, was er von Gott aus ist. Und genau in diesem Loslassen kann Job sich dann auf den eigenen Weg der Sterblichkeit machen: „Die gezählten Jahre sind gekommen, / dieser Weg, auf dem es keine Umkehr gibt, werde ich gehen.“