3. Jobs Aussprache am Anfang
Danach öffnete Job auch seinen Mund
Und verfluchte seinen Geburtstag.
Er sprach:
Zuviel ist der Tag, an dem ich geboren wurde,
Und die Nacht, in der gesprochen wurde: Siehe, ein Junge.
Dieser Tag sei Finsternis
Und der Herr im Himmel, möge nicht nach diesem Tag suchen.
Darauf darf nicht fallen auch nur einziger Lichtstrahl.
Nehmen soll ihn die Dunkelheit und der Schatten des Todes,
Senken sollen sich über ihn die finsteren Gewitterwolken.
Verflucht sei dieser Tag und diese Nacht,
Auflösen soll er sich in der Dunkelheit des Ursprungs.
Er soll nicht in die Reihe der Tagen gehören,
Soll nicht in den Monaten gezählt werden.
Vielmehr soll er eine Nacht der Traurigkeit und Schmerzen sein,
Und nicht soll kommen darein Freude und Jubel.
Verfluchen sollen ihn die Tagverhexer,
Dass jeder sich fürchterlich sticht, der ihn zu ergreifen versucht.
Dunkel bleiben die Sterne dieser Nacht,
Unterbleiben tut auch die aufziehende Morgendämmerung,
Geschaut wird kein sich vollendendes aufsteigendes Licht.
Da sie nicht verschlossen war die Pforte des Schoßes meiner Mutter.
Hinweggeweht wäre so die Not, die mir jetzt vor Augen steht.
Denn warum nur bin ich nicht schon im Bauch gestorben,
Oder herausgekommen aus dem Schoß, um sofort wieder zu vergehen?
Weshalb bin ich zwischen den Knien hindurch?
Weshalb habe ich gesaugt an den Brüsten?
Jetzt wäre ich dann ruhig und still,
Würde schlafen, und ruhen,
Unter Königen und Herrschern der Erde,
Die aus Trümmern ihre Reiche aufbauten,
Unter Fürsten, mit viel Gold,
Die ihre Häuser mit Silber anfüllten,
Aber auch mit dem Fötus, der die Mutter verlässt,
Oder mit den Säuglingen, die das Licht nicht erblickten.
Dort haben die Gottlosen ihren Zorn ausgebrannt,
Aber auch ruhen die ausgezehrten Leiber,
Gemeinsam in der Ewigkeit,
Nicht mehr hören sie Stimme ihres (jeweiligen) Antreibers,
Klein und Groß ist dort gleich,
Dem Knecht ist genommen der Herr.
Sieh, denn weshalb wird denen voller Trübsal noch etwas Licht gegeben,
Und Leben, denen im Leiden?
Die nach dem Tod suchen und ihn nicht finden können,
Danach suchen, wie nach Schätzen,
Die begeistert wären, würde ihnen dies endlich gewährt.
Der Tod ist des Menschen Ruhe,
Umschlossen ist er dann ganz von Gott.
Noch vor meiner Mahlzeit, muss ich seufzen,
Weinen muss ich, denn fest im Griff der Angst bin ich.
Denn meine Furcht vor der Angst, hat sie zu mir kommen lassen,
Und dadurch, dass sie mir zugewiesen wurde, begegne ich ihr.
Nicht Friede, nicht Stille, nicht Ruhe,
Zorn überkam mich.
Job spricht also nach einer ganzen Woche des Schweigens und Zusammenseins zu seinen Freunden. Und was er zu sagen hat, ist sicher nicht unüberlegt, sondern hat wohl zumindest diese Woche, aber sicher schon die ganze Zeit vorher, seitdem er vom Diabolos geschlagen worden ist, in ihm gegärt. Dieser sehr wort- und bildgewaltige Redeschwall bricht aus ihm hervor und man hat das Gefühl, dass es aus seinem tiefsten Inneren kommt und keine für bestimmte Adressaten zurecht gelegte Rede, die ein eigenes ausgedachtes Selbstbild vermitteln möchte. Sondern Job spricht frei von der Leber, als Παρρησία (auch im Sinne Foucaults (1996)).
Umso verwunderter ist man über den Inhalt, wenn man gerade noch im Ohr hat, wie er die Rede seiner Frau so barsch und rigoros zurückgewiesen hat. Denn Jobs Rede steht in der Dunkelheit der Weltsicht seiner Frau in nichts nach, sondern dreht dies sogar noch eine Windung weiter, indem nicht nur das Erdenleben als Mühsal und Sinnlosigkeit begriffen wird, wo der Tod eine gute Aussicht darstellt, davon endlich ausruhen zu können. Job setzt vielmehr schon da an, dass er seine eigene Geburt verflucht und auslöschen möchte.
Dies ist ein sowohl bekanntes als auch genauso aussichtsloses Thema. So weiß etwa Plutarch in seinen Moralia (zusammen mit Aristoteles und Theogenis) die uralte Weisheit durch den weisen Silenos, einem Satyr, zu berichten „You, most blessed and happiest among humans, may well consider those blessed and happiest who have departed this life before you, and thus you may consider it unlawful, indeed blasphemous, to speak anything ill or false of them, since they now have been transformed into a better and more refined nature. This thought is indeed so old that the one who first uttered it is no longer known; it has been passed down to us from eternity, and hence doubtless it is true. Moreover, you know what is so often said and passes for a trite expression. What is that, he asked? He answered: It is best not to be born at all; and next to that, it is better to die than to live; and this is confirmed even by divine testimony. Pertinently to this they say that Midas, after hunting, asked his captive Silenus somewhat urgently, what was the most desirable thing among humankind. At first he could offer no response, and was obstinately silent. At length, when Midas would not stop plaguing him, he erupted with these words, though very unwillingly: 'you, seed of an evil genius and precarious offspring of hard fortune, whose life is but for a day, why do you compel me to tell you those things of which it is better you should remain ignorant? For he lives with the least worry who knows not his misfortune; but for humans, the best for them is not to be born at all, not to partake of nature's excellence; not to be is best, for both sexes. This should be our choice, if choice we have; and the next to this is, when we are born, to die as soon as we can.' It is plain therefore, that he declared the condition of the dead to be better than that of the living.“ (Zitiert nach Wikipedia-Eintrag: Silenus) Und dies reicht dann bis heute, wo man dies an zentraler Stelle etwa bei Heidegger in der Geworfenheit des Daseins wiederfindet (Heidegger 1993: 134ff.) oder bei Cioran im „Nachteil, geboren zu sein“ (Cioran 1979).
So alt und gleichzeitig aktuell diese Gedankenfigur auch ist, so unmöglich ist sie schlichtweg und kann dennoch sinnvoll sein. Und diese Paradoxie wird auch immer darin wahrgenommen: das Beste für den Menschen, nicht geboren zu sein, kann nie erreicht werden. Aber warum ergibt sich Job (zusammen mit so vielen anderen) in diesen Gedanken. Job ergeht sich ja ganz wortreich in dieser Vorstellung, er malt sie aus, kostet davon jeden Winkel aus. Aber warum?
Es ist eben Παρρησία: Job spricht einfach aus, wie es ihm geht, wie er sich wirklich fühlt. Es ist keine berechnende Rede, kein gedrechselter philosophischer Diskurs, keine moralische Predigt… in denen schon im Vorhinein genau gewusst wird, was richtig ist und wo man hinzuwollen hat. Job weiß dies einfach nicht, da für ihn weitgehend alle Maßstäbe zerbrochen sind, alle bis auf den einen, dass er an Gott festhält. Nur dass er von Gottes Eigenschaften auch nichts mehr versteht, außer vielleicht, dass Gott da ist und er sich an seiner Nähe verbrennt und vergeht.
Aber dies in der Bibel zu lesen, irritiert einfach. Denn es ist ein radikales Bekenntnis mit einer solchen Leidenschaft, Tiefe und Überzeugung, wohinter sich die meisten lauwarmen Atheisten verstecken können. Und hier ist eine Selbstwahrnehmung und Ehrlichkeit gegeben, die die meisten Gläubigen sich nie zugestehen würden. Aber vielleicht erreicht man ein Verständnis von einer wirklichen Gott-Gewolltheit erst auf dem Grund, in den Job hier geworfen wurde?! Vielleicht muss man die eigene Geburt und das eigene Dasein so negieren und darüberhinaus noch diese tiefe Ohnmacht empfinden, dies nie erreichen zu können… um sich dann wirklich als von Gott geschenkt annehmen zu können?
Das Παρρησία jetzt nicht etwas ist, wofür die Kirche bekannt ist, muss man traurigerweise noch nicht einmal mehr diskutieren: Doppelmoral, Denkverboten, verbotenen Büchern, Entzug der Lehrerlaubnis, Vertuschungen im Missbrauchsskandal… man kann unendliche weiter aufzählen ohne lange zu überlegen.
Aber ein Ort für Klage dürfte sie vielleicht immer noch sein. Denn beim Tod ist die Kirche doch erstaunlich präsent, auch noch heute. Wenn sich mal jemand in eine Kirche verirrt und nicht nur ein Kerzchen anzünden möchte oder zur Stammbelegschaft gehört, wird es wohl eher die Klage und Leid sein, die jemanden in die Kirche bringt. Aber bietet die Kirche in ihrer Liturgie immer noch Orte für Klage? Und vielleicht sogar eine Klage in der Παρρησία?
Zunächst entfremdet Leid oft den getroffenen Menschen. Leid ist oft mit Wortlosigkeit, Einsamkeit, Rückzug gekoppelt. Auch von ihrer Umwelt werden die Leidenden oft umgangen, weil auch hier die Worte fehlen oder man weiß nicht wie man trösten oder lindern kann. Außerdem setzt Leid die alltäglichen Routinen außer Kraft - was natürlich sehr gefährlich und quasi fast schon subversiv ist. Nicht umsonst ist Pflege bei Kranken und Pflegebedürftigen so durchgetaktet.
Liturgie ist Anbetung und damit Antizipation des Reiches Gottes (ich folge im weiteren den Hinweisen von Fischer 2021). Aber wenn Gebet nicht nur Anbetung ist, sondern auch Dank und Bitte, oder auch Klage, Protest, Unverständnis, Ohnmacht, wäre dies nicht ganz ein Beten im Geist der Psalmen. Und damit nicht steriles Messbuch, sondern lebenswelt-triefendes, schreiendes und lachendes, singendes und tanzendes, dankendes und weinendes Gebet… und wird nicht erst auf dies Weise „Gott als den Vermissten und Gesuchten geehrt“ (Fischer 2021: 160)?
So findet man in den Psalmen keine sterile Liturgie, aber eben auch kein selbstmitleidiges Jammern. In den Psalmen geht es eigentlich immer ums Ganze. Es geht nicht um das Beklagen von einzelnem Seiendem, sondern um die Klage ums Sein (wenn man sich etwas an Heidegger anlehnt), „schließlich beklagt der Psalmist/Israel vermeintlich oder tatsächlich unwiederbringlich Verlorenes […] Manche Klage aber ist so welt- und gottverlassen, dass ihr Aufschrei am Ende in totaler Einsamkeit erstickt […] Doch selbst dieses Fazit trotzt dem Beziehungsabbruch - und fordert von Gott, dass er im unbegreiflichen Unrecht Recht schafft“ (Fischer 2021: 161).
Und dass eine freie Verwendung und Aneignung etwa der Psalmen nicht nur theoretisch sein muss, sondern funktioniert, wenn wirklich die Wortlosigkeit herausschrieb wird (und nicht nur ein vorgefertigtes Bild von Gott hineingepfercht wird in den Text und mit der Gitarre begleitet ), zeigen Bearbeitungen von Psalmen, die im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal entstanden sind. So auch die Bearbeitung von Psalm 109:
Gott,
mit meiner ganzen Wut komme ich zu dir.
Mach doch,
dass er angeklagt wird,
dass er als Schuldiger das Gericht verlassen muss. Nichts soll ihm mehr helfen.
Ich wünschte, er würde sterben,
sein Amt frei geben für einen anderen.
Von ihm soll nichts übrigbleiben,
sein Name verlöschen,
seine Ideen versanden!
Ich halte den Gedanken nicht aus,
du, mein Gott, könntest seine Schuld vergessen.
Im Gegenteil: ich möchte,
dass du ihm auch noch die Sünden seiner Vorfahren aufrechnest.
Denn er war auch nie gnädig.
Grausam verfolgt er die, die sich nicht wehren können.
Er hält nichts vom Segen –
er soll auch keinen kriegen!
Er flucht so gern –
also sei er selber verflucht:
verflucht bis ins Innerste seines Herzens und seines Verstandes, verflucht bis in die kleinste Hautfalte,
verflucht sei alles, was ihn umgibt!
Du aber, mein Herr und mein Gott, bleib auf meiner Seite!
Bau mich wieder auf!
Ich bin so verzweifelt und hilflos, im tiefsten Herzen verwundet. (zitiert nach Fischer 2021: 166f.)
Hier kommt etwas zutiefst unversöhnliches zum Ausdruck, vielleicht auch nicht nüchtern durchdacht, vielleicht überzogen, vielleicht wird man der angeklagten Person auch nicht gerecht, und steht es einem Menschen zu, so hart zu urteilen…? Aber genau so ist auch Job, dies ist Παρρησία. Denn die Beterin spricht nicht als Richterin, sondern sie spricht sich selber aus. Und hier braucht man keine political correctness und auch keine Moral… aber das Gebet muss trotzdem ein Pflasterstein sein! Aber ein Pflasterstein, der einen Weg der Versöhnung anfängt zu bauen und kein Pflasterstein, um sich zu verbarrikadieren oder andere damit zu bewerfen.
Aber oft ist dieser Weg eben nicht kurz und einfach. Oft ist es unvorstellbar für einen selbst, dass man überhaupt den ersten Schritt tut und dass dieser Weg ans Ziel führt. Oft ist der Weg nicht abgeschlossen, wenn wir sterben… aber genau hier liegt dann die christliche Hoffnung und Versöhnung - das Gott diesen Weg vollenden wird. Dieser Gott, der immer im Stande ist einen Schlussakkord zu setzen, der diesen ganzen zersplitterten Scherbenhaufen an Leben zu einem überraschend sinnvollen ganzen abrundet. Aber eben nicht jetzt, sondern es bleibt Harren und Sehnsucht, Hoffnung, die sich nur im Leid wiederfindet.
Aber paradoxerweise scheitert hieran heute die Kirche. Es wurden in der Liturgiereform Psalme gestrichen, die man heute für nicht mehr vermittelbar hält. Psalme die nach Vergeltung schreien und die Auslöschung von anderen Personen fordern, werden so ersetzt durch Elemente, die vermeintlich und aus Sicht der Bischöfe tröstend sein sollen. Genauso und sozusagen paradigmatisch ist gefordert, dass „auch an den ‚heilkritischen‘ Kartagen das gute Ende der Auferstehung im Blick zu behalten“ ist (Fischer 2021: 163). Bei der Sterbe- und Begräbnisliturgie führt diese Haltung zu der Kritik, „es komme der Trost mitunter vorschnell, lautet eine gängige Kritik, denn der Trauer und Klage als solcher werde kaum Ausdruck verliehen.“ (Fischer 2021: 167). Und dies bei einer Religion, die sich das Kreuz aufhängt und nicht den Stuhl rechts vom Vater.
Um zu verdeutlichen, dass sich daraus das komplette Gegenteil ergibt, was Kirche eigentlich sein soll, möchte ich ein eigenes Beispiel bringen: So war ich mit meiner Tochter auf der Beerdigung einer Mutter von zwei Kindern aus der Kita. Auf dieser großen Beerdigung hat die Familie das Bild gewählt: „Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel ist.“ Der Diakon kontert dies in seiner Predigt (die durchaus einfühlsam gehalten war), dass wir als Christen ja den Trost haben, durch die Auferstehung Jesu Christi. Ich hatte in dem Moment das unmittelbare Bedürfnis einfach dort in die Kirche zu kotzen, was sicher eine gute Form von Παρρησία gewesen wäre. Denn was soll diese „Phrase“ an dieser Stelle? Da sitzen in der ersten Reihe ein fünfjähriger Junge und ein siebenjähriges Mädchen, daneben ihr Vater, der mit den beiden jetzt alleine dasteht… die mit Sicherheit noch nicht annähernd begriffen haben, was es bedeutet, dass die Mutter respektive Frau tot ist. Und auf diesen Schmerz und Ohnmacht wird erstmal ordentlich dogmatische Soße daraufgegossen… das ja alles nicht so schlimm ist, weil man ja Hoffnung hat, das eigentlich alles gut ist! Das ist definitive kein Trost! (Allerdings war die atheistische Variante, die von den Freundinnen der Mutter vorgetragen wurden, dass sie ihr Leben „schnell gelebt“ hätte, mindestens genauso doof - denn sicherlich wird sie dies nicht absichtlich gemacht haben und was ist das für eine dreiste Behauptung gegenüber den Kindern, weil es in der Konsequenz bedeutet, eure Mutter hatte eine geile Zeit mit uns haben wollen, ihr müsst jetzt allein klar kommen.) Und hier zeigt sich auch, dass der Glaube an die Auferstehung vermutlich etwas vollkommen anderes ist, als ein absurdes Dogma, dass man gegen alle empirische Evidenz zu glauben hat, sondern eher etwas ist, was man auf einer langen Pilgerschaft durchs Leben sich so langsam aneignen, oder annehmen kann und so letztlich realisiert (aber das gehört jetzt nicht hierher).
Kirche hält offensichtlich selber diese Sprachlosigkeit vor dem Leben und vor dem immer größeren und unfassbaren Gott nicht mehr aus. Und vielleicht ist dies auch nicht nur ein Problem einer einseitigen Liturgiereform, sondern hat zentral etwas mit einem einseitigen Gottesbild zu tun. Denn wenn man in Gott nur noch den liebenden, menschenzugewandten, versöhnlichen Gott sieht, fehlt das sprachlose, nicht-mehr-verstehende Zerbrechen vor Gott angesichts seiner gewaltigen Herrlichkeit. Eine schwere Gratwanderung zwischen diesen beiden Polen, die früher stärker zur Gottesfurcht tendiert hat und heute zum Zuckerwatten-Gott, der alle lieb hat (der aber nur klebt, hauptsächlich aus leerer Luft und nicht-nährendem Zucker besteht und nur Bauchschmerzen verursacht).
Jobs Klage, nicht geboren worden zu sein oder dann bereits schnell nach der Geburt direkt zu sterben, ist aus einer tiefen Sehnsucht nach Stille, Schlaf und Traum und Ruhe getrieben. Und diese Ruhe wird etwas seltsam „definiert“. Denn Job wünscht sich in dieser Ruhe unter die großen Herrscher der Erde, nimmt dann aber ein Wendung und zählt zu dieser Gemeinschaft der Ruhenden auch die tot geborenen Kinder. Hier sind alles Standesunterschiede aufgehoben, hier zählt Karl der Große und Willy Brandt genauso viel wie das tot geborene Kind, was gerade einmal für Wert befunden wurde, dass man ihm ein kleines Holzkreuz auf dem verwahrlosten Kinderfriedhof aufstellt und dies dann mit allen anderen Kinderkreuzen auch verrotten lässt (übrigens eine interessante Gewohnheit, die sich in Deutschland auf fast allen Friedhöfen findet). In dieser Ruhe, die Job hier ersehnt, sind alle gleich wert.
In dieser Ruhe sind alle gemeinsam in der Ewigkeit, von den Gottlosen, die in ihren Zorn so viel zerstört und Leid über so viele Menschen gebracht haben bis hin zu den dadurch ausgezehrten Leibern. Hier ist sowohl der Zorn weggeblasen als auch der Blick auf das eigene Leid. Hier hören sie nicht mehr die Stimme ihres Antreibers - wo in der Septuaginta wörtlich Steuereintreiber steht. Eigentlich ein sehr passendes Bild, weil der Steuereintreiber, von jedem sein Maß einfordert und zwar so, dass es für die meisten eigentlich das Maß übersteigt. Er treibt im Alltag voran, sitzt einem im Nacken, in allem was man tut. Früher hatte man durchaus vielleicht mehr Angst vor dem Steuereintreiber als vor dem eigenen Hunger. Aber hier ist kein monetärer Steuereintreiber gemeint, sondern ein Steuereintreiber, der die Seele peinigt und antreibt. Von Jedem wird sein Eigenes ständig eingetrieben, dass er Gefallen muss, ein Ego bedienen muss, beruflichen Erfolg vorweisen muss, witzig und schlagfertig sein muss, hübsch aussehen muss, klug sein muss etc. Nur die wenigsten können dies problemlos bezahlen, die meisten müssen einfach jeden Tag dafür kämpfen und werden so eigentlich von ihrem Leben abgelenkt - sind aber dafür auf diese Weise die ganze Zeit beschäftigt und abgelenkt von ihrem eigentlichen Leben. Eine Frage ob dies nun mein Leben ist und ob das Ganze Sinn macht, muss hier nicht mehr gestellt werden. Wie Johann Holtrop im gleichnamigen Roman von Rainald Goetz eigentlich beispielhaft nicht nur für die Wirtschaftsbosse steht, sondern für unsere gesamte Gesellschaft steht: „Wütend schritt ich voran.“ (Goetz 2012) Hier stellt sich nur die Frage, ob die Gesellschaft hierdurch abgerissen wird (so der Untertitel des Romans) oder dies nicht einer ihrer zentralen Stabilisierungsmechanismen ist?
Aber diese Steuereintreiber halten das Ganze am Laufen, denn sie sind klug, sie überziehen zwar immer das Maß und reizen es immer weiter aus. Aber sie sind so klug, dass sie immer noch eine Hoffnung lassen, einen Lichtblick. Dieser Lichtblick kann sein, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen soll, der Mythos in einer hochgradig ungerechten Gesellschaft wie den USA der Tellerwäscher, der zum Millionär wird oder sozialistisch von einer Revolution in eine gerechte Gesellschaft oder der Wiedergeburt in einen besseren Stand in einem hinduistischen Kastensystem. Aber hier muss auch die Kirche sich fragen lassen, ob sie hier nicht auch missbraucht wird, als der perverse Hoffnungsschimmer, der das ganze am Laufen hält? Macht Elija (1. Kö, 17, 8-16) wirklich das Richtige, indem er die Frau und ihren Sohn nicht einfach sterben lässt, sondern ihr diesen unerschöpflichen Mehltopf schenkt oder verlängert er nur unnötiges Leiden?
Für Job ist diese Todessehnsucht unendlich tief und groß. Und er erkennt sie jetzt im Leiden auch bei so vielen anderen Menschen. Und viele Menschen diese Sehnsucht auch vollkommen berechtigt haben, da es so viel unermessliches Leid auf dieser Welt gibt. Er vergleicht diese Sehnsucht sogar mit einer Schatzsuche, wo man an die Goldsucher im Goldrauch denkt oder an Piraten, die alles und ihr ganzes Leben hinter sich lassen, um sich auf den Weg zu machen, um einen Schatz in der Fremde zu finden. Sie haben nur ein Ziel, diesen Schatz zu finden. Genauso suchen viele Menschen den Tod. Nur das manche dies expliziter so suchen, andere dagegen nur unbewusst, weil sie durch einen Hoffnungsschimmer am Leben gehalten werden. Aber dass Job hier die Schatzsuche anführt, zeigt nicht nur die Entschlossenheit, den Tod als einziges Ziel zu suchen, sondern auch die Vergeblichkeit. Denn eigentlich hat kein Piraten „den großen Schatz“ gefunden, sondern immer nur kleine Beute (d.h. Hoffnungsschimmer) gemacht, die ihn überleben lässt. Denn auch unser Tod genauso wie unser Leben liegt selbst im Selbstmord nicht in unserer Verfügung, es bleibt beides immer Geschenk und damit unserer Entscheidung und Handlungsfähigkeit entzogen! Zwar ist der Tod die Ruhe des Menschen, weil er dann ganz umschlossen von Gott ist. Aber ich kann mir diesen Zugang nicht erzwingen. Denn nichts ist so falsch als Zwang in der Gottesbeziehung und zwar von beiden Seiten, so das weder der Mensch Gott zu etwas zwingen kann (denn dies wäre Aberglaube, Zauberei oder Moralvorschriften), noch wird Gott den Menschen zwingen, da er zu ihm in Beziehung treten und lieben will. Vielmehr realisiert sich in einer lebendigen Gottesbeziehung der tiefste Sinn an Freiheit, die der Mensch erreichen kann. Nur wird einem diese Freiheit nicht einfach fertig geschenkt, sondern wird geübt und erlitten in einer Pilgerschaft durchs Leben und dann irgendwann wird diese Freiheit realisiert (aber definitiv nicht einfach mit dem physischen Tod und dann einem direkten Transfer mit einer Heiligen Eisenbahn von Gleis 9 3/4 in den Himmel respektive Hogwarts (was in dieser Form wohl den gleichen Imaginationsgehalt hat)).
Job spricht hier allerdings von Menschen, die von der Freiheit weit entfernt sind, sondern fest von der Angst gefangen gehalten werden. Menschen, die weder ein noch aus wissen. Menschen, die wie er tief in der Scheiße sitzen und nicht verstehen, was mit ihnen passiert, die die Ungerechtigkeit so offen auf der Hand sehen, dass die einen im Westen fressen und die anderen gerade im Süden Hungern und bald Absaufen werden. Aber nach Job ist die objektive Situation und Bedrohung nicht der Grund der Angst. Sondern der Grund wird in der Furcht vor dieser Angst gesehen. Und dass man nur in dieser Angst steht, weil sie einem von außen auferlegt wurde. Was bedeutet dies? Denn die Angst vor Hunger oder das die Kinder sterben ist ja für viele Menschen leider sehr real und so gar nicht eingebildet. Die Einbildung liegt eher bei denen, die sorgenfrei sind. Und alle Menschen, denen von anderen Menschen dieses Unrecht auferlegt wird, können zu Recht voller Zorn sein.
Aber Zorn kann weder das Ziel sein, noch einfach eine Umkehr der Verhältnisse (denn der Tellerwäscher, der Millionär geworden ist, wird dies meist auch nur durch die Ausbeutung gerade seiner Leidensgenossen erreichen). Ziel ist dagegen Friede, Stille, Ruhe. Und hierfür kann die Grundstimmung nicht Zorn sein, sondern vielleicht eher eine Form der Gelassenheit. Aber Gelassenheit nicht in einem plumpen Sinne. Eine Gelassenheit die zunächst eine Unterscheidung der Geister im Sinne von Martin Niemöller hat: „Gott,/ gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,/ den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,/ und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Aber dies als ein Grundhaltung des Selbst, die sich immer tiefer in einen hineingraben muss und wie eine καταλλαγή und Indifferenz (Przywara 1939; 1954) den Menschen wandelt und so eine ganz tiefe Gelassenheit bewirkt (Meister Eckhart 1993a; 1993b; Heidegger 2007) und genau an diesem Punkt ist auch ein Brückenschlag zum Zen-Buddhismus in einem nicht esoterisch-populistischen Zerrbild möglich (Nishitani 1982; 2006; Ueda 1965).
4. Erste Ansprache durch Eliphas
Dies aufnehmend sagte Eliphas, der Thaimaniter:
Nicht oft redest du offensichtlich über dein Leid?
Kannst für dich behalten deine leidvollen Worte?
Denn du hast Viele begleitet,
Und schwache Hände gestützt,
Die Gestürzten mit Worten wieder aufgerichtet,
Strauchelnde Knie hast du ermutigend gefestigt,
Nun ist Not und Schmerz über dich gekommen, und musst zugeben, du bist angeschlagen.
Aber gründet nicht deine beängstigende Situation in etwas Verdrängtem,
Und liegt die Hoffnung nicht in der Unschuld deines Weges?
Erinnere dich, denn wer, der rein war, wurde je missachtet,
Oder wann gingen wahre Aufrichtige verloren.
Und siehe, wenn eingepflügt wird ein einzelnes Unpassendes,
So wird, wer so sät, entsprechenden Schaden ernten.
Auf Befehl des Herrn, gehen sie verloren,
Durch den Atem seines Zornes werden sie vergehen.
Der brüllende Löwe, die rufende Löwin,
Bleckende Zähne werden ausgerissen.
Das Löwenrudel geht verloren, wenn sie keine Beute haben,
Und die Welpen der Löwen lösen sich voneinander.
Also, wenn nicht ein unaufrichtiges Wort unter deinen Reden gewesen wäre,
Nicht hätte sich zu dir gekehrt das Schlechte.
Empfangen hätte dein Ohr nicht das Ungeheuerliche von ihm.
Ängstlich und nur nächtlicher Schatten,
Hineingetaucht in Angst bist du, Mensch.
Schrecken begegnet und ein Zittern,
Was tief in Mark und Bein dich trifft.
Und ein Hauch weht ins Gesicht,
Der schaudern lässt Haar und Fleisch.
Erhobst dich, aber erkanntest nichts.
Schautest, aber da war keine Gestalt vor den Augen,
Sondern nur ein Windhauch, der wie eine Stimme zu hören war.
Wie gar? Nicht ein Sterblicher kann rein sein vor dem Herrn,
Denn auch durch seine Werke kann der Mensch sich nicht reinigen.
Selbst seinen Dienern nicht glaubt er,
Und selbst erkennt die Schrägheit in seinen Engeln,
Wie dann denen, die wohnen in Hütten aus Lehm,
Und selbst letztlich nur aus Lehm sind -
Zermalmen wird er sie wie eine Motte.
So zwischen Morgen und Abend, auf einmal sind sie nicht mehr,
Denn aus sich selbst sind sie nichts, ohne Hilfe werden sie ausgelöscht.
Haucht er sie an, so vertrocknen sie,
Ausgelöscht, weil sie keine Weisheit haben.
Auf Job antwortet jetzt Eliphas, der erste Freund. Er unterstellt Job, dass er zwar vielen Menschen in ihrer Not und Leid geholfen hat, sie gestützt und aufgerichtet hat, aber offensichtlich Hilfe für sich nie in Anspruch genommen hat, so dass er noch nicht einmal Erfahrung hat, über sein Leid auch nur zu sprechen oder darüber nachzudenken.
Eliphas wirft Job vor, dass er mit seiner Rede nicht den Punkt trifft. Für Eliphas ist klar, dass Job etwas Unbedachtes, etwas Dummes, Sündiges oder Falsches gemacht hat und dies der Grund für sein leidvolle Lage ist. Um aus dieser Situation herauszukommen muss Job nur wieder auf den tugendhaften Pfad zurückkommen. Hier denkt er sehr einfach alles nach dem Prinzip Talion: Denn der Tugendhafte wird gerettet, der Sünder bestraft. Dies ist kausal für Eliphas so klar, dass er selbst das Bild des Säens nimmt. Wenn ich Dinkel säe, ernte ich Dinkel, wenn ich aber einige Samen Unkraut unter der Saat habe, so wird auch das Unkraut auf dem Feld wachsen und langsam sich immer mehr ausbreiten, so dass nachher kein Dinkel mehr vorhanden ist, weil alles durch das Unkraut überwuchert ist.
Aber auch wenn dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang hier ziemlich klar gedacht wird, ist es kein Naturgesetz, sondern ist der Wille und Befehl von Gott. Eliphas hat dadurch auch ein höchst zweifelhaftes Gottesbild. Denn Gott wäre in diesem Fall eine triviale Maschine (im Sinne von Heinz von Foerster (2003)), was so gar nicht dem Gottesbild des AT entspricht, aber auch nicht der griechischen Götterwelt, wo es eher immer eine sehr offen Interaktion ist, wo man eben Gott so gar nicht berechnen kann, sondern man immer vor diesem Deus Semper Maior kapitulieren muss.
Dann kommt ein etwas seltsamer Vergleich, denn das Brüllen des Löwen ist schon sein angemessenes Verhalten. Hier aber werden ihm die Zähne ausgebrochen und sein raubtier- und drachenhaftes Verhalten (so die wörtliche Septuaginta Übersetzung) sanktioniert und sein Rudel zerstreut. Aber vielleicht kann man es in die Richtung deuten, dass selbst der Löwe, das stärkste unter den Tieren, sich die Zähne ausbeißt, wenn ihm die Beute entzogen wird. Aus eigener Kraft kommt er aus dieser Situation nicht heraus, denn wenn keine Antilopen da sind, kann der Löwe noch so stark sein und noch so laut Brüllen, sein Rudel wird sich trotzdem auflösen. Es verweist damit eher auf die Ohnmacht von Job, der selber aus eigener Kraft nicht aus seiner Situation heraus kommt. Sein Schicksal kann nur Gott wenden, dafür muss Job aber auf das eingehen, warum sich Gott ihm entzieht. So die Logik Eliphas.
Für Eliphas steht fest, dass Job etwas Falsches gesagt oder gemacht hat und deswegen kausal diese Situation selbst bewirkt hat. So einfach und plump er diesen Zusammenhang darstellt, so einfühlsam beschreibt er die Gefühlslage, in der sich Job befindet. Denn Jobs Situation wird dann nicht nur als naturgesetzlicher Schicksalsschlag gesehen, sondern schon von Gott gesendet, Gott spricht Job direkt persönlich in sein Ohr. Diese Nähe des Flüsterns und die Kälte der Botschaft, lassen einen zittern. So dass Job auch nur noch als tief hineingetaucht in Angst wahrgenommen wird, untergetaucht in das fremde Element Wasser und wandelnd im fremden Element der Nacht und dies nur noch als Schatten. Was Job hier widerfährt ist etwas, was seine Person im Ganzen trifft, alles in ihm zerbricht und wird damit kontaminiert.
Aber das wirklich Erschreckende an Jobs Zerstörung ist auch, dass sie so leise und ruhig geschieht: es ist ein Flüstern ins Ohr, ein Hauch im Gesicht. Job kann in dieser Ansprache gar niemanden erkennen, kann den Sender, nicht fassen, und kann deswegen auch die Botschaft nicht begreifen. Jeder Griff nach dem Absender greift ins Leere. Jede Intention hinter der Botschaft kann nicht durch ein Gegenüber erschlossen werden, da gibt es keine Hinweise durch non-verbales Verhalten oder die Situation. Kalt steht einfach die Botschaft da, ohne Erklärung, Punkt… Job ist einfach auf sich zurückgeworfen und alle Sinngebung als Märchen zerbrochen: „Two human specks, a mother and her child, we glided through the world for six whole years, which were unto me but a few days, and we were a nursery rhyme, threaded with tales and miracles - Until ever so lightly, a breeze a breath a flutter a zephyr rustled the leaves - And sealed our fates: you here, he there, over and done with, shattered to pieces.“ (Grossman 2011: 38)
Aber dann führt Eliphas seine Logik selbst ad absurdum, ohne dies tatsächlich zu bemerken. Denn wer von den Menschen ist tatsächlich ohne Fehler? Und selbst wenn Job einen Fehltritt getan hat, der ihm nicht bewusst ist, welche Strafen müssten gemäß des Talion andere Menschen erhalten, die deutlich mehr Fehltritte geleistet haben. Denn Jobs Strafe kann eigentlich nicht übertroffen werden, da sie jedes vorstellbare Strafmaß einfach bis zum Ende ausreizt. Und ein Verbrecher kann nie so bestraft werden, wie der tugendhafte Job.
Denn dem Anspruch Eliphas kann kein Mensch gerecht werden, auch nicht die tugendhaftesten Menschen und selbst Engel nicht. Ofen wird hier gelassen, ob selbst Gott diesem Anspruch gerecht werden kann, was gerade in Bezug auf sein Handeln mit Job durchaus viele Fragen aufwirft.
Denn der Mensch ist aus sich heraus nichts. Er wohnt in Lehmhütten, die er notbehelfstsmäßig zusammen gematscht hat und auch das Fundament ist aus Lehm, so dass alles zusammen weggespült werden kann. Und dann diese Doppeldeutigkeit, dass nicht nur sein Zuhause und Zuflucht aus unbeständigen Lehm ist, sondern auch er selbst (vgl. Gen 2,7). Der Mensch ist damit nicht beständiger als eine Motte, die jeder Mensch ohne viel aufsehen auch zertritt… die Motte, die keinen Namen hat und die 5 Sekunden, nachdem sie zertreten wurde, auch von niemand mehr erinnert wird - so ist im Grunde auch der Mensch. Denn der Mensch hat sein Leben nur geschenkt und kann es letztendlich nicht selber halten, er ist aus sich selbst heraus Nichts… und sein Leben ist nur der Atem Gottes, Leben eingehaucht, Leben ausgehaucht.
5. Fortsetzung Eliphas
Rufe doch an! Ist da einer, der auf dich hinhört,
Oder gibt sich einer der heiligen Engel zu sehen?
Denn den Unverständigen wird vernichten der Zorn,
Den Irrenden tötet der Eifer.
Ich habe beobachtet wie Unverständige Wurzeln gegeben wurden,
Aber im Nu aufgezehrt wurde ihre Wohnstätte.
Weit entfernt sind ihre Söhne von der Rettung,
Verspottet an den Toren von den Geringen und keiner, der sie herausholte.
Aber was sie sammelten, wird den Gerechten gegeben,
Und sie selbst werden nicht herausgeholt aus dem Schlechten,
Verrinnen wird ihre ganze Stärke.
Denn nicht sprosst hervor das Mühsame aus der Erde,
Und nicht steigt aus dem Berg die Not auf.
Sondern der Mensch schafft sich selber das Mühsame,
So steigen die Jünglinge auf, nur um zu fallen.
Vielmehr will ich noch einmal beten zum Herrn,
Den Herrn, der alles beherrscht, anrufen,
Den, der geschaffen hat das Große und Unergründliche,
Herrliche und Ungeheure, wofür es keine Zahl gibt.
Den, der gibt den Regen auf die Erde,
Sendet Wasser unter die Himmel.
Den, der schafft den Niederen in die Höhen,
Und den Verlorenen wieder aufrichtet.
Den, der austauscht die Wege der Hinterlistigen,
deren Hände nichts Wahres mehr tun.
Den, der eingreift in die Klugheit der Weisen,
Und den Plan des Hinterlistigen nicht aufgehen lässt.
Die Tage begegnen ihnen nur noch in Finsternis,
Selbst am Mittag tappen sie einher wie in der Nacht.
Ausgelöscht werden sie im Kampf,
Aber die Machtlosen werden herausgeführt aus der Hand der Mächtigen.
Den Machtlosen gehört Hoffnung,
Den Ungerechten wird der Mund gestopft.
Selig sei der Mensch, der vom Herrn zurechtgewiesen wird:
Den Hinweis des Allherrschers weise nicht zurück!
Denn er selbst schafft Leiden und stellt wieder her,
Er schlägt und seine Hände heilen.
Sechsmal aus Schwierigkeiten löst er dich heraus,
So dass beim siebentenmal dich nicht anrührt etwas Schlechtes.
Im Hunger rettet er dich aus dem Tod heraus,
Im Kampf löst er dich aus eiserner Hand.
Vor bösem Geschwätz verbirgt er dich,
Und fürchten wirst du dich nicht vor dem Üblen, was da kommen mag.
Ungerechte und Gesetzlose wirst du auslachen,
Vor den wilden Tieren wirst du dich nicht fürchten.
Denn die wilden Tieren werden friedlich mit dir sein.
So wirst du erkennen, dass dein Haus in Frieden ist,
Und in deinem Wohnzelt wird keine Sünde sein.
Erkennen wirst du, dass dein Sperma zahlreich ist.
Deine Kinder werden sein, wie der üppige Wildwuchs.
Du kommst zum Grab wie reifes Korn, dass im richtigen Augenblick geerntet wurde,
Oder der Garbe, die zur richtigen Stunde gebunden wurde.
Schau, so haben wir es erforscht,
So haben wir es gehört,
Du aber erkenne selber, was du getan hast!
Eliphas rhetorische Frage, die Engel anzurufen, wird sofort verneint und es ist klar, dass die Engel nicht auf diese Anrufung hören werden, sich nicht zeigen, ihm nicht zur Rettung beistehen werden. Bei diesem ersten Stichos kommt einen der erste Vers der ersten Duineser Elegien von Rilke in den Sinn:
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von sein seinem
stärkeren Dasein.“
(1. Elegie, V 1-4)
Bei Rilke ist dies allerdings nicht auf die Sünder beschränkt, sondern alle Menschen müssen in dieser Anrufung vergehen. Eliphas beschränkt dies auf die Sünder und setzt damit implizit aber auch voraus, dass es die Gerechten gibt, denen eine Anrufung möglich ist. Hier zeigt sich weiter, wie Eliphas Grundannahmen von einer Trennung in Sünder und Gerechte weiter implodiert.
Aber Eliphas trifft dennoch einen richtigen Punkt, wenn er sagt, dass die Ungerechten keinen Zugang zu den Engeln haben. So zeigt das Beispiel bei Rilke, Engel sind „der Inbegriff des Weltgesetzes, das sich um die je individuellen Belange des Menschen nicht schert, d.h. er ist erhaben im Sinne Kants. Während das Schöne begrenzt ist, einen Rahmen braucht und in definierbaren Proportionen sich äußert, ist das Erhabene formlose Unbegrenztheit. Das Formlose, das in Form ist und doch jede Form sprengt - das ist das Erhabene, das termendum, wie es Rudolf Otto nennt.“ (Brück 2015: 60) Und man möchte hier anfügen, das Spencer Brown mit dem re-entry dies zwar weniger weitschweifig wie Otto beschrieben hat, aber deutlich ergiebiger und eleganter (Spencer Brown 1967).
Die Anrufung der Engel ist bei Rilke ein Ideal, was er versucht durch die Kunst einer verzweckten modernen-rationalen Gesellschaft entgegenzusetzen. „Abgekehrt, in sich ruhend, jenseits der Begrifflichkeit, die Hoheit des Vollendeten. Das ist das geistige Klima, das in der zweckorientierten Produktion der modernen Industriegesellschaft verloren geht und dem Rilke nachtrauert.“ (Brück 2015: 61) In der institutionalisierten Religion findet Rilke dieses Gegengewicht allerdings nicht, sondern in den Liebenden, so geht es in Vers 45 weiter:
„Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur
in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,
dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa
denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen,
dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel
dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie?
Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen
fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend
uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:
wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung
mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.“
(1. Elegie, Vers 45-55)
Zwischen den Geliebten öffnet sich ein andere Zugang zum Leben, aber er erfüllt sich bezeichnenderweise nicht darin. Sondern es ist selbst von diesem Geliebten eine Befreiung nötig. Und hier ist dann auch der direkte Bezug zu Jobs Lage, denn er hat geliebt, seine Frau, seine Kinder, sein Leben, das er gerecht geführt hat. Aber es war offensichtlich eine Vorbereitung, „denn Bleiben ist nirgends.“
Michael von Brück bringt in diesem Zusammenhang ein interessantes Beispiel, was deutlich macht, dass es bei der Anbetung und auch der Liebe nicht um ein Ich geht, dass für sich bei Gott etwas erbittet oder das Selbstbestätigung und Lust durch eine geliebtes Gegenüber erfährt. Sondern es geht um eine Einschwingen in Gottes Ordnung, wo die Engel dann erst zugänglich werden (nur das Moral hier die vulgär-pervertierte weil festgelegt-verallgemeinerte und damit tote Form ist): „es sind sinnvolle Bezüge, die wir nicht wahrnehmen, wie wir die Unterstruktur, die Zusammenhänge nicht kennen. Das Bild vom Pilz und dem Myzel drückt dies aus: An der Oberfläche sieht man einzelne Pilze in je individueller Gestalt, in Wirklichkeit ist der Pilz aber das Geflecht unter der Erde. Demnach besteht die Welt nicht aus einzelnen Ereignissen und Figuren, die dann sekundär miteinander in Beziehung treten, sondern die ganze Welt ist ein Beziehungsgeflecht; die lineare Kausalität ist oberflächlich, die wechselseitige Beeinflussung (Resonanz und Echo) ist das Gewebe des Lebens.“ (Brück 2015: 62; vgl. aber hierzu genauso die Kürbisse und das „Squash Zazen“ bei Uchiyama (2004:78f.) oder das Rhizom bei Deleuze und Guattari (Deleuze/Guattari 1977).
Vielleicht bietet dies nun die Folie, auf der die weitere Rede von Eliphas verstanden werden kann. Zwar ist dies nicht Eliphas Intention oder Meinung, sondern eher das, was in seiner Rede mitschwingt. Denn offensichtlich hören die Engel und Gott nicht auf jeden. So sind sie dem Unverständigen nicht zugänglich, weil er sich nicht auf die Ordnung der Engel einlässt. Der Unverständige ist wie der Pilz der nur sich als Stamm und Hut über der Oberfläche sieht. Der nur dieses Ich sieht und nicht das unterirdische Gewebe. Dies kann auch eine ganze Weile so gut gehen, zumal auch nur die schönsten Pilzköpfe gesammelt werden von den Menschen (der Pilz sieht nur nicht, dass sie danach gebraten und gegessen werden ;-)). Aber sein Zorn darüber, nur Ich sein zu wollen und sich von der Wurzel zu lösen, wird ihn zerstören. Das Ich des Menschen ist so wenig im Vergleich zum Ganzen und ist auch unverständig dafür, dass es seine Kraft und Leben nicht aus sich selbst nimmt, sondern von dem unsichtbaren/transzendenten Wurzelwerk. Und umso mehr die Menschen und Pilzköpfe darin irren, dass sie nur dieses Ich bzw. dieser Pilzhut sind, werden sie verloren gehen. Und Eliphas sieht sehr deutlich, dass auch den Unverständigen Wurzeln gegeben wurden, dass sie eingebunden sind, dass es den Kontakt zu den Engeln gibt und dass sie darin gründen. Nur wenn der Bezug dazu immer mehr gekappt wird, vergeht auch zunehmend der Pilze. Eine zeitlang kann er vielleicht noch die Feuchtigkeit von Außen aufnehmen, wenn es aber mal trocken wird, kann er nicht mehr den Bezug zur Wurzel nutzen und vertrocknet in kürzester Zeit. Was wie Autonomie aussah, einfach den Regen und die Anerkennung von außen zu nutzen, zeigt sich letztlich als Ohnmacht und Kurzsichtigkeit.
Denn von der Rettung sind die ganzen Titel- und Pöstchenjäger, Stars und Sternchen unserer Gesellschaft weit entfernt. Und wie schnell lacht und überhebt sich selbst noch der Geringste über das gefallene Sternchen. Ein Irrweg, der niemanden etwas gebracht hat. Und es ist eben nicht notwendig ein gelungenes Leben, wenn der Nachruf über eine tolle Karriere erzählen kann. Oft findet wohl gelungenes Leben auch ganz im Verborgenen statt: nicht das protzige Denkmal auf dem Marktplatz, sondern das geheime Meisterwerk des mittelalterlichen Steinmetz, das er am Kirchturm anbringt, wo es nur Gott und die Vögel dann noch sehen: „gewisse Götterstatuen sind nur dem Priester in der cella zugänglich, gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar.“ (Benjamin 1977: 19f.) Und hier zeigt sich auch, wie die auch geschichtlich sich herausbildende Autonomie des Ichs auch ihren Niederschlag in der Autonomie der Kunst findet, auch wenn dies nicht eine rein lineare Entwicklung ist (Belting 1991; Luhmann 1999).
Diese großen „Ichs“ haben oft viel Macht, aber diese Macht ist hohl und auf tönernden Füßen. Ein plakatives Beispiel ist der Investmentbanker. Weitgehend hochintelligente, ambitionierte, fachlich gut ausgebildete Personen, die als Menschen genauso hohl und leer sind, wie das, was sie machen (Schimmelbusch 2018). Juristen sind da vielleicht sogar noch ein besseres Beispiel, da hier ein großer Teil einfach nur das Leben allen anderen Menschen schwer macht, weil sophistische Spiele getrieben werden und Wege gesucht werden nur um Aufgaben/Anerkennung und Geld zu scheffeln - von Gerechtigkeit haben die wenigsten Juristen einen Schimmer. Aber es gibt durchaus einige Juristen, die tatsächlich noch Gerechtigkeit im Blick haben, wohl wissend, dass Juristerei nur Recht spricht und keine Gerechtigkeit schafft. Aber Gerechtigkeit muss die Orientierung bleiben, sonst sind sie wie die Sophisten von Platon, die gut und klug argumentieren, aber zynisch das Erreichen der letzten Wahrheit längst aufgegeben haben - aber damit unendlich hohl sind.
Und dass diese Verblendung sich durchzieht, bis dahin, wo man wirklich mit dem Tod konfrontiert wird, zeigt Guido Westerwelle, der sein Sterben mehr oder weniger öffentlich gemacht hat, aber ohnmächtig war, sich selbst zu sehen. So sagt er im Spiegel-Interview vom 07.11.2015: „Ich habe Menschen gekränkt und Fehler gemacht, aber ich wusste, dass ich ein erfülltes Leben gehabt hatte. Meine Antwort auf die Frage ‚Was bereuen Sie?‘ wäre der Klassiker gewesen: Ich habe zu viel gearbeitet.“ Ob dies nicht eher ein gefülltes anstatt ein erfülltes Leben war? Und würde ein Arzt in einer Krankenstation tatsächlich einen Satz aussprechen: Ich habe zu viel gearbeitet? Hier hat wohl jemand zu viel nach Anerkennung geheischt im Leben und eben zu wenig wirklich gearbeitet. Und dann weiter: „Ich bin in der Kirche, und das nicht aus Zufall. Da hat man natürlich eine Vorstellung vom Jenseits. Aber ich habe mir weniger über den Tod Gedanken gemacht, sondern mehr über das Leben davor und darüber, wie man den Tod abwenden kann.“ Radikaler kann man den Tod und damit das eigene Selbst nicht ausblenden, was sich in letzter Konsequenz auch darin zeigt, dass Herr Dr. Westerwelle mitten auf der Millionenallee des Melaten begraben wurde - da war zu Lebzeiten nichts mehr zu retten.
Und dieses Geschachere um Pöstchen und Karrierestufen und das Leid, was damit verbunden ist, dies zu erreichen und eher einen Beruf zu machen, der anerkannt und gut bezahlt ist, als das was einem Spaß macht oder liegt - dies ist alles Leid, was wir uns selber schaffen. Ein Leid was wir als digitale Gesellschaft gerade in ganz neue Höhen treiben, mit den Vergleichsmöglichkeiten von sozialen Medien. So dass das Mühsamen tatsächlich nicht aus den Dingen ansich entsteht, sondern selbst durch den Menschen geschaffen ist. Ein gutes und tatsächlich auch existentielles Beispiel ist, dass wir eigentlich zutiefst beschämt sein müsste, dass wir heute eigentlich in der Lage sind, alle Menschen auf der Welt ausreichend zu ernähren und trotzdem jeden Tag die Kinder verhungern. Klar, dass dies nicht leicht umzusetzen, aber die Priorität die dies politisch hat, steht auch einfach in keinerlei Verhältnis zum Tod dieser Kinder.
Letztendlich setzten wir unsere Kinder spätestens in der Grundschule auf die Karriereleiter auf, treiben sie mit allen anderen zusammen gehörig an - nur damit sie am Ende aus einer größeren oder geringeren Höhe fallen.
Eliphas nimmt dann den Gegenpol in den Blick. So ist die ganze weltliche Größe der Schlauen, Mächtigen und Hinterhältigen nichts gegen den, der alles beherrscht, alles geschaffen hat von dem Größten, was wir sehen, bis hin ins Unergründliche, wo wir gar nichts mehr zu sehen vermögen. Der die Dinge wie den Regen schenkt, ohne die wir nicht leben können, und die wir letztlich mit keinem Geld der Welt kaufen können (was leider immer noch viel zu wenige sehen, dass dies beim Klimawandel darauf hinauslaufen wird). Und dem, der letztlich ein Joveljahr (Lev 25, 8-55) für alle schenkt und alle Unterschiede auflöst und alles neu macht (Apk 21,5).
Aber Eliphas beschreibt hier dann gar nicht weiter, dass Lob des Gerechten und das Leid, was er zu tragen hat und was letztlich aufgelöst werden wird. Denn auch so könnte Eliphas Job sehen, der Gerechte, dem unschuldig Leid zukommt, genauso wie den vielen Niedergetretenen, Geringen und verhungerten Kinder. Denn auch wenn Job gerechter als viele Erwachsene ist, unermäßliches Leid gibt es unzählige Male, wenn nicht sogar in jedem Leben irgendwann einmal - bei manchen mehr, bei anderen weniger.
Letztlich sind wir alle sowohl Machtlose als auch Ungerechte (Joh 8,7), jeweils abhängig in welcher Situation. So dass wir darauf hoffen können, dass wir aus dem Griff der Mächtigen herausgeführt werden, aber unserem egoistischen Geschwätz auch dem Mund gestopft wird. Deswegen liegt unsere Rettung tatsächlich nur darin, die Hand zu ergreifen, die uns schlägt und heilt. Der Gott der uns liebend entgegenkommt, uns, jedem Einzelnen beim Namen ruft, und vor dessen Größe wir dennoch alle nur schweigend vergehen können.
Aber offensichtlich ist die Logik, dass der Mensch erst zerbrochen werden muss. Am Anfang stehen die Schläge und das Leiden, erst dann wird der Mensch wieder hergestellt und geheilt. Sechsmal lässt er dich leiden, und erst beim siebenten Mal bist du wirklich gerettet. Aber diese Logik findet sich nicht nur hier, so weiß der Psalmist, dass Gott die zerbrochenen Herzen liebt und heilt (etwa Ps 34, 18; 147,3) oder auch Hölderlin weiß, dass "Nah ist/ Und schwer zu fassen der Gott./ Wo aber Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch.“ (In der frühen Fassung von Patmos). Und auch der Zen weiß, dass man erst alles zerbrechen und loslassen muss, um zur Erleuchtung zu kommen.
Und dann kommt Eliphas tatsächlich dahin, eine Zustand der Erleuchtung zu beschreiben. So dass das Üble und die Gesetzlosen zwar nicht verschwinden, aber den aus Gott lebenden nicht mehr angehen. Selbst eine Harmonie mit den wilden Tieren wird beschrieben. Aber dieser Zustand hat nun gar nichts mehr damit zu tun, dass dann wieder die Situation wie Jobs Ausgangssituation wäre, sondern es ist schlicht eine ganz andere Haltung zum Leben, wo egal ist, in welcher weltlichen Lage sich die Person befindet. Allein dass sie sich aus dem Grund, dem Wurzelwerk speist, nämlich aus Gott heraus lebt. Und dann ist der Mensch ein reifes Korn, was in jedem Moment in die Erde gesetzt werden kann, stirbt und die Grundlage für neues Leben ist.
Und dies hat Job für sich zu prüfen: ist er gottesfürchtig, weil er es sich von seinen persönlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen her dies leisten kann oder lebt er tatsächlich aus Gott heraus.
6. Jobs Antwort auf Eliphas
Entgegnend spricht Job:
Wenn denn nur einer Seinen Zorn ermessen könnte,
Und meine Schmerzen dazu aufwiegen würde,
Dann überwiegt es den Sand des Meeres.
Aber es ist wie, als wenn meine Worte kein Gewicht haben.
Denn die Pfeile des Herrn sind in meinem Fleisch,
Wie Seine Wut, die mein Blut austrinkt,
Wenn ich aber von Gründen rede, so stoßen sie tiefer in mich.
Aber wie dann? Denn wird das Wildpferd grundlos brüllen, außer wenn es seinen Hafer sucht?
Und brüllt das Rind in der Krippe, wenn es Futter hat?
Isst man etwa das Brot ohne Salz?
Und findet man Geschmack an leeren Worten?
Denn ich kann nicht ruhen in meiner Seele,
Seufzen ist nämlich meine tägliche Nahrung und begleitet mich wie der Gestank den Löwen.
Wenn es doch gegeben würde, und meine Bitte ankäme,
Und Hoffnung mir gegeben würde durch den Herrn.
Der Herr hat sich zu mir geneigt und nährt sich nun von mir,
Aber wird mich nicht bis zum Ende auslöschen.
Es ist der Friedhof meiner Stadt, auf dessen Mauern ich gesprungen bin, und nicht erschrecke,
Denn nicht verfälscht habe ich die heiligen Worte meines Gottes.
Aber was ist meine Kraft, dass ich nicht untergehe?
Und was ist meine Zeit, die meine Seele zu überstehen hat?
Nicht stark wie die Steine ist meine Kraft,
Mein Fleisch ist nicht aus Erz.
Gesetzt hatte ich auf sein Mittun,
Doch Hilfe ist mir fortgenommen.
Gnade rührt mich nicht mehr an,
Und der Blick des Herrn geht über mich hinweg.
Nicht zu mir schauen selbst die mir Nahestehenden,
Sie sind wie ein versickernder Strom,
Wie abebbenden Wellen.
Die mit mir nun abgeschlossen haben, sind jetzt wie frisch gefallener Schnee,
Oder wie ein fein strukturierter Eiskristall -
Als es aber warm wurde, war nicht mehr erkennbar, wer sie waren.
So sind von mir gegangen alle,
Verloren und ein Heimatloser bin ich geworden.
Schaut die Wege der Thaimaner,
Die Pfade der Saber, sie unterscheiden sich (von meinem).
Doch Scham werden sie schulden,
Die in den Städten auf Geld vertrauen.
Aber auch ihr sollt erbarmungslos über mich herfallen,
So dass ihr schaut meine Wunden und euch fürchtet.
Aber wie dann? Habe ich euch um etwas gebeten?
Oder benötige ich die Stärke, die euch gegeben ist,
Um mich zu retten aus den Anfeindungen heraus,
Mich aus der mächtigen Hand zu befreien?
Lehret mich, ich werde schweigen,
Wenn ich irre, weiset mich.
Aber wie es scheint, leise und wenig sind die Worte eines Wahrhaftigen,
Aber trotzdem wünsche ich mir nicht eure Stärke.
Weder wird eure Sophisterei meine Worte verstummen lassen,
Noch werde ich mich ergeben euren Worten.
So fallt ihr aber über ein Waisen her,
Stürmt los selbst auf euren Freund.
Jetzt aber, da ich euer Angesicht gesehen habe, werde ich nicht lügen,
Setzt euch also und seid nicht ungerecht,
Und zusammenkommen werden wir in der Gerechtigkeit,
Denn nicht ist auf meiner Zunge die Ungerechtigkeit,
Aus meinem Hals kommt nichts, als die Sehnsucht nach Einsicht.
Nun antwortet Job auf Eliphas. Aber Job geht gar nicht darauf ein, ob grundsätzlich die Talion das richtige Verständnisinstrument ist oder ob es auf ihn zutrifft. Er verteidigt sich hier erstmal gar nicht, auch nicht, dass er nichts Gottloses getan hätte. Sondern er geht auf die Verhältnismässigkeit ein. Denn es kann niemand von außen ermessen wie groß Gottes Zorn ist, der auf Job einschlägt, so dass dieser im gleichen Maße leiden muss. Selbst der ganze Sand des Meeres wäre schwerer (und man weiß wie schwer nasser Sand ist), im Vergleich zum Zorn und Leid was Job zu tragen hat. Sein Leid ist damit so unermesslich, dass es eigentlich keine Tat gibt, die diese Strafe rechtfertigen würde. Dies ist der wesentliche Einwand gegen Eliphas Argumentation des Talions.
Job wird durch die Wucht, die Gewaltigkeit Gottes fort- und umgerissen. Seine Worte zählen hiervor nicht mehr, alles vergeht vor diesem Deus Semper Maior. Während Moses noch von Gott selbst gewarnt wird, ihm nicht zu nahe zu kommen und er ihm nur seinen Rücken zeigt (Ex 3f.), verbrennt Job deutlich stärker an Gott, weil „der Herr hat sich zu mir geneigt“ (Job 6, 9). Hier hat alle Einordnung und Rechtfertigung keinen Sinn mehr, weil alles in Gott aufgeht.
Job empfindet seine Situation so, als wenn er von Pfeilen getroffen wurde. Pfeile, die aus dem Nichts kommen und ihn unvorbereitet treffen. Pfeile, die tief in ihn eingedrungen sind in sein Fleisch, die schmerzen und die er spürt bei jeder kleinsten Bewegung und Regung. Pfeile, die er nicht herausziehen kann, die nur noch mehr Schmerzen und mehr Blut fordern, umso stärker man sich gegen sie wehrt. Pfeile, die die Wut des Schützen zeigen, aber der Schütze ist nicht zu sehen, es gibt keinen Blickkontakt und keine Verständigung über die Intention, es gibt nur diesen Pfeil, der wortlos in Job steckt und schmerzt… ein bloßes Faktum, ohne Grund, ohne Erklärung, nur Schmerz verursachend.
Und Job merkt, dass er existenziell getroffen wurde, da durch die Pfeile sein Blut verrinnt, sein Leben unaufhaltsam aus ihm herausströmt. Er ganz passiv ist und nur dabei zuschauen kann. Und wenn er aktiv wird, nach dem Grund hierfür fragt, sich zu rechtfertigen versucht, so stoßen und bohren sich die Pfeile nur noch tiefer in ihn hinein. Umso mehr man sich in Job hineinversetzt, desto größer, komplexer und abgründiger wird sein Leid. Denn hier ist nicht einfach jemand, der einfach nur sein Hab und Gut verloren hat, dessen Kinder gestorben sind, der eine schmerzenden Krankheit hat…nein, hier wird jemanden bis ins letzte jede Hoffnung genommen. Job wird gezeigt, dass er nichts ist. Nichts aus sich heraus. Und so selbst als Spielball für den Diabolos hergegeben wird. Aber nicht zur Unterhaltung für einen gelangweilten Gott und einem bösen Diabolos. Sondern um einen Krieg über das Nichts des Menschen zu führen, der alles Sein und Leben von Gott geschenkt bekommt - aber von sich selbst aus nicht in der Lage ist, dies zu erkennen: „Es war ein wunderlicher Krieg,/ Da Tod und Leben rungen,/ Das Leben behielt den Sieg,/ Es hat den Tod verschlungen.“ (Text von Luther, von Bach in der Kantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) verwendet)
Aber wie kann das sein, er fragt nach dem Warum?, und wird dafür noch stärker ins Leid gestoßen? Denn wenn Tiere oder Babys schreien, gibt es einen Grund, meist Hunger, und dann weiß man, was man zu tun hat. Leid ist damit in der Regel ein Zeichen dafür, dass etwas fehlt, dem Tier das Futter, das Brot kann man nicht essen, weil man das Salz vergessen hat und einer Rede kann man nicht zuhören, weil es nur leere Worte und Versprechungen sind.
Und auch Job lässt es nicht ruhen. Er fragt nach dem Grund seines Leids. Wie so viele Menschen, denen ein Schicksalsschlag passiert: Habe ich Krebs aufgrund meines Lebensstils? Bin ich ein Krebstyp? Ist es eine Strafe, für etwas was ich gemacht habe? Oder unaufgearbeitete Traumata in mir? Bei Job und nicht nur bei Job stößt Gott hier tiefer zu. Denn es sind Ablenkungen! Sie verbauen mir den Weg, sind Höhlen und Sackgassen, in denen ich mich verkrieche und mich nicht der Aufgabe stelle. So erkennt dies Christoph Schlingensief sehr deutlich. Nachdem er zunächst den fürchterlichen Bayreuth-Betrieb für seinen Krebs verantwortlich gemacht hat, eröffnet sich ihm dann doch ein sinnvoller Zugang zu seiner Erkrankung. So schreibt er in seinem Tagebuch: „Ich möchte die letzten zehn Tage wirklich nicht missen. Das hört sich vielleicht komisch an, aber sie haben mit ihren Höhen und Tiefen mehr geklärt als alles zuvor. Wobei interessant ist, dass die Fragen „Warum ich?“ Oder „Was soll das?“, diese Fragen nach dem Spirituellen, sich mir bis jetzt nicht gestellt haben. Es kommt mir eher wie ein Umdenken vor.“ (Schlingensief 2009: 14)
Schlingensief hat hier mit dem Umdenken etwas sehr Wesentliches erfasst. Denn eine lebensbedrohende Krankheit, aber auch der Verlust von geliebten Menschen durch Trennung oder Tod ist nicht mit unseren Kategorien des Alltags oder unserer Rationalität zu begegnen. Man kann dies durchziehen und etwa im Krankenhaus alle Register der Medizin ziehen, bis zum letzten Atemzug - aber dann hat man sich wirklich bis zum letzten Atemzug durchs Leben gehetzt und keinen einzigen Atemzug in Ruhe und bei sich selbst gemacht. Aber genau dies wird ja auch häufig heute kritisiert und die Paliativmedizin ist ja hier wirklich eine sehr erfolgreiche „Gegenbewegung“ bzw. hier werden wieder die Grenzen von Medizin gesehen und dass es beim Sterben eben nicht nur um den biologisch-medizinischen Körper geht (vgl. Bausewein 2009).
So waren die Tage auf der Kinderintensivstation wirklich schrecklich und haben auch gezeigt, wie wenig die Medizin tatsächlich weiß und dass man schon nach dem besten Stand ausgebildet und ausgerüstet ist… aber da, wo es wirklich Ernst wird, kann auch nur noch „gebastelt“ und versucht werden. Gut tat, dass man auch gesehen hat, dass es selbst dem Personal ans Herz ging, wo ich immer gedacht habe, was für ein beeindruckender Beruf, denn es werden ja schon vieler Kinder gerettet (gerade wenn man sich die Bilder von Frühchen anschaut, ist es beeindruckend was man da heute leisten kann) - aber es sterben halt wöchentlich auch Kinder! Aber in diesem Betrieb hat Hoffnung auch eine seltsame Form gewonnen, weil man sich von einer Diagnose zur nächsten hofft, von einer Operation zur nächsten hofft… man hechelt sich von einer kleinen Hoffnung zu nächsten! Aber wenn ich einmal tief durchatme, weiß ich längst, das er tot ist!
Es ist dieser Sprung von einer hechelnden zu einer atmenden Hoffnung, was ein Umdenken bewirkt. Für mich waren im Krankenhaus dies die Momente, wo wir mit dem Pfarrer das Vaterunser an seinem Bett gebetet haben. In dem Moment war der ganze Betrieb ausgeschaltet. Mir ist es zwar schwer gefallen, dieses Worte zu sprechen, weil sie in dem Moment alles waren was ich hatte. J. war nicht mehr greifbar und auch ich selbst war für mich selbst ausgelöscht, nur noch ein weißes Blatt Papier oder wie Testbildschnee früher nachts im Fernsehen. Da waren nur noch diese Worte, an die ich mich geklammert habe, einzelne verhallende Worte, die der einzige Halt waren und dann doch eigentlich nur Pause bewirkt haben. Und die ich alleine für mich auch nicht hätte sprechen können. Sondern die ich eher an das Beten und Sprechen der anderen „angeheftet“ oder besser „angekettet“ habe, mich habe mitziehen und mittragen lassen.
Im Krankenhaus habe ich mich wie ein gejagter Fuchs gefühlt: Todesangst, rennend, außer Atem, nass vor Angstschweiß, nichts mehr fühlend und wahrnehmend, außer dem Entkommen, eigentlich kein Ziel für das Rennen, eigentlich auch nur noch hinlegen und sterben wollen, aber selbst dieser Wunsch wird durch die Hast nur unbewusst spürbar, kein Ich mehr, nur noch Flucht…
Dieses Gefühl ist auch nie mehr weggegangen und ist oft sehr dominant. Aber oft nehme ich es auch nicht wahr, sondern ist es der Normalzustand. Als wir einige Wochen nach J. Tod ein Langzeit-EKG machen wollten, hat der Arzt mich bei der Auswertung gefragt, ob ich an dem Tag noch einen Marathon gelaufen wäre, so sähen zumindest die Wert aus. Schon gesund, aber doch recht ausgereizt. Ich war eigentlich an dem Nachmittag nur auf dem Friedhof und habe dies sogar als beruhigend erfahren!
Aber leben kann man auf Dauer so nicht! Und auch Job ist hier in einer ganz ähnlichen Situation, da seine Seele nicht ruhen kann und das seine hauptsächliche Nahrung nur das Seufzen (aber dies nicht im Sinne von wehleidig) hat. Sehr passend ist hier das Vergleich mit dem Gestank des Löwen. Denn auch der Löwe wird ständig von seinem Geruch begleitet, wird ihn nie los… und dies trifft auch auf Jobs Leid zu, es begleitet ihn ständig und meldet sich nicht nur ab und zu an Allerseelen. Und auch der Gestank passt, den man riecht sich so oft selbst und es ist dieser Geruch, denn man manchmal hat, wenn man hinfällt und sich sehr weh tut.
Aber Job schafft hier noch nicht das Umdenken. Und die Freunde sind hier auch keine Hilfe, sondern gießen eher Öl ins Feuer. Denn mit ihrem Moralisieren insistieren sie noch vehementer auf der Frage nach dem „Warum?“. Man möchte ihm die Worte ins Ohr flüstern, die Angelus Silesius unter der Überschrift „289. Ohne Warum“ geschrieben hat:
„Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“
(Vgl. Heidegger 1997: 53ff.)
Man möchte sie ihm zuflüstern, auch wenn er sie jetzt nicht versteht, er noch nicht bereit dafür ist… aber dass diese Worte in ihm gären können, wachsen und Job durchwirken können wie ein Sauerteig. Aber Job hechelt hier noch Hoffnung, er hofft darauf, dass sein Bitten und seine Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist, erfüllt werden mögen.
Aber er merkt, dass er hier nicht auf diese Weise rauskommt. „No one gets out Here alive“ singt Jim Morrison und dies wurde auch als Titel seiner ersten Biografie gewählt. Aber auch er hat dieses Umdenken tief geahnt, aber bis zu seinem Tod den Sprung nicht geschafft. Job merkt, dass etwas in ihm an ihm nagt, das seinen festen Halt in der Welt immer mehr zersetzt, sein Verständnis von Gerecht und Ungerecht erodieren lässt.
Aber auf diese Weise nähert und nährt sich Gott in ihm. Es ist kein Gott, der ihm das Gute und das Böse scheidet, der die einen in den Himmel führt und die anderen in die Hölle verweist. Sondern es ist der παντοκράτωρ (ein beliebter Begriff im Buch Job), der nicht nur das Gute ist, sondern der alles geschaffen hat und beherrscht. Aber Job ist sich sicher, dass er ihn „nicht bis zum Ende auslöschen“ wird. Aber ist dies wirklich eine Gewissheit oder nur eine rationale Ableitung von unserem Gottesbild und eine gehechelte Hoffnung? Es hört sich nicht so sehr wie eine feste Aussage an, sondern tatsächlich wie ein zweifelndes Hoffen. Denn er sieht direkt im nächsten Stichos, dass nichts übrig bleibt: er sitzt auf der Friedhofsmauer und sieht, dass ausnahmslos alle sterben und keiner noch ein bisschen weiterlebt. Alle tot. Dies darf nicht erschrecken und dies darf nicht verfälscht werden.
Aber Job fragt dann zu Recht, wie er dies aushalten kann, diesen Blick in den Abgrund, ins Nichts? Welche Kraft braucht es, um dies auszuhalten und nicht daran zu zerbrechen? Man kann vielleicht immer mal wieder einen Blick in die Sterblichkeit werfen, etwa in Krimis, dem Panorama-Teil oder Filmen, und einen leichten Schauer bekommen, der leicht das tiefste Innere streift. Aber dann ist noch nichts passiert, es ist noch kein Tipping Point erreicht, an dem das ganze kippt, wie die Kybernetik dies versteht. Man hat kurz in den Abgrund geschaut, geschaudert und sich dann wieder den realen und wichtigen Dingen zugewandt. Aber es ist noch nicht gekippt, dass der Abgrund einen gefangen hält, das er einen festhält, dass der Abgrund so mächtig und ergreifend wird, dass er zurückschaut, den Blickkontakt und die Interaktion sucht. So beschreibt Nietzsche, vielleicht einer der tiefsten Kenner dieser Situation, der genau diese Gratwanderung ein Leben lang ausgelotet hat, dies im Aphorismus 146 von Jenseits von Gut und Böse: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (Nietzsche 1993: 98)
Es ist dieses sich anblicken lassen vom Tod, aus dem man nicht mehr herauskommt: „Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen/ vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.“ (Christensen 2009: 35) Man kommt aus dieser Situation nicht mehr heraus, wenn es gekippt ist. So wie es schwer ist, aus einer Situation herauszukommen, in der man direkt angeschaut wird, gerade wenn es bedeutende und charismatische Personen sind. Man wird nicht physisch festgehalten, aber man ist durch einen Blick mitunter noch stärker festgehalten als mit bloßen Händen. Und Inger Christensen spitzt dies in ihrem Sonettenkranz noch weiter zu, denn man wird angeschaut „mit eigenen Augen“ - wobei hier eine Uneindeutigkeit zu oszillieren beginnt: sind es die Augen des Todes oder meine Augen? Oder schaue ich selber auf meinen eigenen Tod? Aber kann ich auf meinen eigenen Tod schauen, da dies nach Epikur eigentlich nicht geht? Und wäre es dann nicht so, dass ich mich, mit dem Blick Gottes anschauen lasse? Und wie komme ich aus einem solchen Anblick je wieder raus, aus dieser Wucht und diesem Blick in diesen unendlichen Abgrund?
Job erkennt richtig, dass dies nicht dauerhaft auszuhalten ist und man daran nur zerbrechen kann. Er fragt, wie lange er dies aushalten muss, wie lange er dies überstehen muss. Aber nicht um daraus geheilt zu werden, sondern endlich sterben zu können. Denn der Tod ist wie die Liebe, so süß und wer je wirklich geliebt hat, sehnt sich nach der Liebe, egal wie sehr man sich verbrannt hat oder vielleicht auch gerade deswegen.
Job erkennt, dass er nicht die Kraft wie ein Stein dafür hat. Er ist nicht so hart wie ein Stein und auch nicht so indifferent gegen Kälte und Hitze und er hat auch keinen Körper aus Stahl. Er steht dazu, dass er aus verletzlichem Fleisch ist. Und erkennt so auch noch einmal seine Sterblichkeit an. Und gerade als Mensch hat er darauf gesetzt, dass seine Schwäche ausgeglichen wird, durch die komplementären Stärken von anderen (Durkheim 1981). Aber beim Blick in den Abgrund kann kein Mensch helfen, bei letzten Sinnfragen, fehlen auch dem letzten Weisen die Worte. Hier gibt es nur noch Hinweise, die bestenfalls auf IHN weisen. Und auf SEINE Hilfe und Mittun hatte Job gehofft. Aber Gott schenkt ihm nicht mehr diese Gnade, und gerade in dem Moment, wo Job er sie am meisten brauchen würde. Wo er am lautesten schreit, schweigt Gott beharrlich und scheint ihn immer mehr in den Abgrund zu stürzen. Der Herr scheint ihn einfach zu übersehen und absichtlich wegzuschauen. Und hier ist auch damit aufzuräumen, dass ein Glaube an Gott in tiefer Not eine Hilfe sein kann. Klar, wenn man ein steriles Gottesbild wie Herr Westerwelle hat (siehe oben) und weiß, dass einen dann das Schlaraffenland erwartet, funktioniert dies natürlich. Aber Job hat eine Interaktion mit Gott geführt und hier ist nun nur noch Schweigen. Und da ist dieses Schweigen noch deutlich schwerer auszuhalten, als der Atheist, der dies alles zwar als genauso schmerzhaft erlebt, aber dem auch keinen Sinn unterlegt und keine Antwort mehr erwartet.
Aber Job sieht sich nicht nur von Gott verlassen, sondern auch von allen, die ihm nahe stehen. Dies ist ja schon ein sehr verbreitetes Phänomen, dass sich in Not noch einmal die Freunde neu sortieren. Aber die Bilder für das Entgleiten der Freunde ist sehr eindrücklich, da sie versickern, so dass man das Wasser gar nicht fassen kann und man den Ort auch nicht kennt, wohin sich das Wasser zurückzieht. Außerdem wird einem das erfrischende und lebensnotwendige Wasser entzogen. Genauso mit der Welle: verschwindet sie, so kann man tauchen so viel man will, man wird die Wellen nicht wiederfinden. Oder wie Schnee und Eiskristalle, die bei Wärme sich einfach auflösen, ohne das man die Möglichkeit hat, diese zu bewahren (zumal in Zeiten in denen es keine Kühlschränke gab).
So steht Job alleine da, verlassen von Gott und seinen Freunden, ein Obdach- und Heimatloser. Die Wege seiner Freunde sieht er in andere Richtungen gehen und auch die Sicherheit, die befestigte Städte und Geld bieten, sieht er nicht als seinen Weg an und erkennt sie als Illusionen.
Da Gott ihn schon verlassen hat, fordert er seine Freunde auch auf, einfach über ihn herzufallen. Wie das bereits am Boden liegende Opfer, in das am Ende dann auch noch die Schwachen einmal hereintreten. Und erst in dieser seltsamen Nähe des Nachtretens kommt man dem Opfer so nahe, dass man seine Wunden erst wirklich sieht. Es wird Realität, was man die ganze Zeit vorher nur belustigend-schauerlich aus Distanz verfolgt hat.
Aber das wollen seine Freund natürlich nicht! Sie sind ja die Guten und wissen was sich gehört! Aber Job fragt sich provokant: aber was wollt ihr denn dann mit mir machen? Denn auf etwas kultiviertere Weise machen sie nichts anderes, als diese brutale Nachtreten.
Er hat sie nicht gebeten, dass sie ihn bemitleiden und ihm erklären, dass er leidet, weil er irgendetwas falsch gemacht haben muss und ein Heuchler ist (wenn auch bestenfalls ein unbewusster). Oder können sie ihn etwa stärken oder sind selbst so stark ihn aus dieser hoffnungslosen Situation herauszuholen? Haben sie überhaupt eine Vorstellungen, von den Anfeindungen denen sich Job gegenüber sieht und von dieser mächtigen Hand, die ihn gefasst hat? Sehen sie nicht diese Radikalität der Ohnmacht, wo es keine menschliche Macht gibt, die dagegen gesetzt werden kann?
Allerdings fordert er sie dann schon auf, ihn zu belehren. Weil es ist das einzige was wir als Menschen tun können. Wir sind beschenkt und verdammt zum sense-making (Weick 1985). Aber oft sind es nur leere Worte oder sense-making über sense-making über sense-making… wo man längst den eigentlichen Gegenstand aus dem Auge verloren hat und damit in der Dekadenz gelandet ist. Es ist der Lackeimer im Zen-Buddhismus, der die ganzen Shastras als überflüssige Sophisterei abschlagen möchte, wie die Lackschichten auf einem Eimer, wo erst danach rauskommt, dass der Eimer nicht einheitlich schwarz ist, sondern eine wunderschöne Holzstruktur hat. Nur der institutionelle Buddhismus behauptet es wäre alles schwarz (vgl. Sakaguchi 2008). Genauso wie die Plage der uninspirierten, vorsichtigen Sekundärliteratur und Exegese, die die eigene Le(h)ere habilitierend auf hunderten von Seiten ausbreitet.
Job kann zu diesen Unterweisungen nur schweigen. Wenn er sich damit irrt, sollen sie ihm konkret die Richtung weisen. Aber leere Worte weisen keine Richtung, sondern wälzen alles nur auf der Stelle. Dagegen sind die Worte, die wirklich selbst empfunden sind und nicht nur angelesen, nur wenige und leise Worte. Eigentlich nur die Worte „Liebe“, „Geburt“ und „Tod“. Das erste und zweite wird meist verkitscht, das dritte verdrängen wir sehr erfolgreich.
Job sieht aber, dass seine Haltung wahrhaftig ist. Die Septuaginta verwendet für den Begriff „wahrhaftig“ das Wort αληθινου. Was wörtlich eher bedeutet, das dem aus dem Vergessen und Verdrängten wieder Hervorgeholte. Job möchte nicht die Stärke der Freunde haben, er möchte kein Dr. Freiherr zu Dingenskirchen und kein kurzer Sebastian sein, sondern eher ein Karl Schiewerling, der wenn er spricht auch etwas zu sagen hat und in erster Linie nicht für sein Ego spricht, sondern der Haltung von Adolph Kolping folgt und sich für die Schwachen in unserer Gesellschaft einsetzt. Genauso die Aufgeregtheit der Tagespolitik und Nachrichten, die nach 24 Stunden schon nur noch schal und belanglos sind, aber wir keine wirklichen inhaltlich-differenzierten Debatten mehr zu führen in der Lage sind (hier ist ausnahmsweise Jürgen Habermas mal zu loben, der diesen Anspruch immer wieder an die Politik heranträgt und ihn in einer wirklich äußerst positiven Weise auch lebt und selbst verwirklicht mit seinen Debattenbeiträgen).
Jobs Worte sind zwar leise und schwach, aber kein Redeschwall wird sie je zum Verstummen bringen. Zwar wird ein eloquenter Redner immer Zuhörer und Anhänger finden, aber letztlich wird er sich als leer erweisen (ein Problem was wir heute besondere mit dem Populismus in der Politik haben). Diese wahrhaftigen Worte, auch wenn sie nur gestammelt werden können, weil sie der Sprachlosigkeit und dem Schmerz abgerungen sind, aber eben dadurch Bestand haben, sie sind sozusagen das Erz, was aus der Schlacke befreit wurde, wie der Psalmist formulieren würde.
Ein schönes Beispiel für diese wahrhaftigen, leisen Worte ist vielleicht das Klavierstück „Für Alina“ (1976) von Arvo Pärt. Dieses Stück drückt so viel Zärtlichkeit, bei gleichzeitiger ungetrösteter Sehnsucht, Zerrissenheit und Schmerz aus. Und hier wird auch nicht der Versuch gemacht, zu trösten oder dies zu beschwichtigen, sondern es wird dem Raum gegeben, es hat ein Berechtigung einfach so dasein zu dürfen, in seiner ganzen Zerbrechlichkeit und Fragilität (vgl. auch Hase 2011 zu diesem Sachverhalt). Ganz ohne überfahren zu werden von einem einordnenden Geschwätz, wie gut dies immer gemeint sein mag.
Und hier kann weiterhin wahrhaftige Liebe da sein, auch wenn die Person gestorben ist und in keinem Dort erreichbar ist (Grossman 2011), oder durch einen Eisernen Vorhang getrennt ist oder selbst wenn diese Liebe in ihrem Dort mit einer Zugfahrt problemlos erreichbar ist und durch andere Hindernisse unerreichbar bleibt (vgl. Hölderlin 2004 Bd.9: „Menons Klage um Diotima“)… aber diese Liebe ist dadurch eben nicht umsonst und vergeblich. Warum auch? Und warum wird dann gefordert, man muss darüber hinwegkommen? Muss man? Und kann man das? Oder verdrängt man nur und trägt eine weitere Schicht Lack auf seinem Spiegel auf?
Interessanterweise weiß das Arvo Pärt Centre, dass das Stück oft von Menschen mit Geburt verbunden wird. Hier muss offen bleiben, ob nur der erste Aspekt der Zärtlichkeit herausgehört wird, oder ob auch das Abschied nehmen in der Geburt hier mitschwingt. Dagegen: „The “real” Alina of the piece was the daughter of close friends of Arvo and Nora Pärt, separated from her mother by the Iron Curtain — the daughter being left in England and the mother in the Soviet Union.“ Und als Charakterisierung des Stückes als „aesthetic is silence“ schreibt das Arvo Pärt Centre weiter, „in Für Alina, it is present not just as the silence framing the piece, but, paradoxically, silence has been written into the music as an acoustic space of sorts. As a hint for the pianist, the composer has noted that the piece be played ‚in calm, uplifted manner, listening to one's inner self’.“
Mit ihrem einordnenden und erklärenden Geschwätz fallen sie also über ihn genauso her, wie die prügelnde Meute beim Nachtreten in einer Schlägerei. Sie fallen über einen schwachen Waisen her, der eh schon alles verloren hat, der ohnmächtig und verlassen dasteht - und nun auch noch die Freunde auf ihn einprügeln. So empfindet Job zu Recht das Bemühen seiner Freunde um ihn.
Und Job durchschaut dies jetzt. Er hat erkannt was hinter dieser Fassade des anscheinend gutgesinnten und wohlwollenden Bemühens seiner Freunde steht. Den Freunden ist dies vermutlich gar nicht so klar, wie Job dies jetzt erkennt. Sie scheinen eh in allen Belangen die Situation nicht zu erkennen, weil sie alles nur durch eine vorgefertigte Brille sehen, wie ein Spiegel, auf den ein schönes Bild gemalt wurde und was man nun als die Realität nimmt (sozusagen ein elaborierter Lackeimer). Für Job blättert aber immer mehr Farbe und Lack ab, und er fängt an sich immer mehr selbst zu erkennen in diesem Spiegel, ohnmächtig und nackt, aber dafür kein Porträt von ihm (etwas gemalt von Kardinal Ratzinger), sondern er selbst.
Und Job merkt, dass er eigentlich nicht mehr sich sehnt zum status quo ante, d.h. vor dem Auftritt des Diabolos, sondern er sich nach Einsicht sehnt und einfach nur der Einsicht, sich selbst im Spiegel zu sehen. In dieser Sehnsucht möchte er mit seinen Freunden zusammenkommen. Die keine Werte von außen an ihn herantragen, sondern die ihn stützen und helfen den Spiegel zu säubern und den giftigen, Asbest verseuchten Lack (d.h. Moral und allgemeinen Wertvorstellungen) mit ihm entsorgen.
7. Fortsetzung Jobs Antwort
Ist nicht aufgegeben Prüfung dem Menschenleben auf dieser Erde,
Aber ist dieses Leben dafür nicht ein miserabler Lohn?
Oder ist es nicht wie ein Diener, der vor seinem Herrn im Schatten Zuflucht sucht,
Oder wie ein Tagelöhner, der auf seinen Lohn hofft?
So habe auch ich leere Monate ertragen,
Und Nächte voller Leid waren mir gegeben.
Und wenn ich mich hinlege, spreche ich: Wann kommt der Tag?
Wenn ich dann aufstehe, dagegen: Wann kommt der Abend?
So bin ich gefüllt mit Leid, vom Morgen bis zum Abend.
Mein Körper ist nur Moder und zerfressen von Gewürm,
So wird wieder aus einem Holzhaufen ein Erdklumpen.
Das Leben ist nicht mehr, als unbedachtes Geschwätz,
Es verlöscht in leerer Hoffnung.
Erinnere dich, dass Leben nur Atem ist,
Und mein Blick nicht zurückkehren wird, um Gutes zu sehen.
Nicht mehr werde ich das Auge spüren, von dem, der mich beobachtet,
In deinen Augen bin ich dann noch, aber ich existiere nicht mehr.
Wie eine Wolke, die am Himmel sich aufgelöst hat,
Denn so ist auch ein Mensch, der hinabgestiegen ist in die Hölle, er wird so nicht wieder aufsteigen.
Nicht wird er einkehren wieder in sein eigenes Haus,
Nicht wird ihn wiedererkennen die eigene Heimat.
Aber jetzt werde auch ich nicht meinen Mund zurückhalten,
Reden werde ich, weil ich in Not bin,
Zeigen die Bitterkeit meiner Seele, die nicht endet.
Bin ich denn das Meer oder ein Drache,
Dass ich im Kerker eingefriedet werden muss?
Ich sprach: Mein Bett wird mir Trost sein,
Und bergen wird mich mein Bett in meinem Flehen.
Du ängstigst mich durch deinen Scharfsinn und erschreckst mit deinen Einsichten.
Denn du entfernst den Geist aus meiner Seele,
Gibst den Tod meinen Knochen.
Denn nicht werde ich ewig leben, noch nicht einmal mehr lange,
Wende dich ab von mir, denn leer ist mein Leben.
Denn was ist der Mensch, dass du ihn groß gemacht hast,
So dass du selbst an ihn denkst,
Dass du ihn vom Morgen an beobachtest, was er tut,
Um ihn dann in seinem Ende zu richten?
Wie lange noch hältst du mich fest,
Lässt mich nicht los, bis ich geschluckt habe all mein Schluchzen und Leid?
Wenn ich gesündigt habe, inwiefern kann dir dies nutzen,
Da du doch den Verstand der Menschen beherrschst?
Und warum hast du mich gesetzt, dich anzuklagen,
Bin ich denn eine Last für dich?
Und warum lässt du mich nicht vergessen meine gesetzlosen Taten,
Und reinigst mich von meinen Sünden?
Nun bin ich von der Erde ausgelöscht,
Ein Aufrichtiger bin ich nicht mehr.
Job fragt sich hier, ob dass ganze Leben nicht eine Prüfung ist. Damit hat er aber nicht nur seine spezielle Situation erfasst, in der Gott und der Diabolos mit ihm spielen, sondern auch allgemein das Leben. Denn wenn das Leben als Bildungsprozess verstanden wird, hat man diese Prüfungen nicht nur im formalen Bildungssystem. Wir durchlaufen die Prüfungen und Stationen unserer Schul- und Berufskarriere, wir durchlaufen die Prüfungen im persönlichen Bereich wie den Wechsel von der Kita in die Schule, die Emanzipation von den Eltern, unglückliche Lieben, selber Eltern werden etc. Hier kann Prüfungen ein ständiges Vergleichen mit anderen bedeuten und damit auch eine soziale Normierung, weil dies auch ein Abgleich und Anpassung an gesellschaftlichen Normen darstellt, aber auch, dass man getestet und herausgefordert wird, weil man an seine Grenzen gebracht wird (etwa inwiefern verwinde ich die erste enttäuschte Liebe - und viel später fragt man sich dann, ob das überhaupt geht, aber alle anderen sagen, dass man sie vergessen soll, nur man selbst weiß, dass dies nicht geht - und wer behält am Ende Recht ;-)).
Auf dieses Weise haben wir es schon geschafft, den Menschen zu sozialisieren und zu kultivieren, auf einem sehr hohen Stand und Zivilisation. Dennoch fragt sich Job, ob ein solches Leben nicht ein miserabler Lohn ist für diese Anstrengungen? So fällt selbst bei einem „erfolgreichen“ Leben doch so oft die Lebensbilanz zumindest ambivalent aus. Wenn Herr Westerwelle todkrank sagt: „Meine Antwort auf die Frage ‚Was bereuen Sie?‘ wäre der Klassiker gewesen: Ich habe zu viel gearbeitet“ (siehe oben), so ist dies schon die Bilanz einer erfolgreichen Karriere, von jemanden der sich aus kleinen Verhältnissen bis hin zum Vize-Kanzler „hochgearbeitet“ hat. Aber er ahnt vielleicht, dass hier auch etwas gefehlt hat. Aber es scheint nur ein Ahnen zu sein und der Satz wird eher von ihm angebracht, weil man diesen Klassiker eben erwartet und Herr Westerwelle dies eben gerne immer bedient. Er bleibt also selbst in dieser existentiellen Situation im „Man“ (im Sinne Heideggers (1992)).
Aber es ist oft eine Ahnung da, dass am Ende des Lebens der Kontostand, die Titel und Orden an der Brust nicht das Wesentliche sind. Und das Karriere auch nur zu einem kleinen Teil etwas mit eigener Leistung zu tun hat und viel einfach mit Glück in einem Spiel von Selbst- und Fremdselektion (siehe hierzu die immer wieder erfrischenden inkongruenten Perspektiven von Luhmann (2000 101ff.)).
Job fragt, ob es dies alles Wert ist, denn er steht ja selber auch in einer Position, die man als erfolgreiche Karriere ansehen kann. Aber er empfindet selbst seinen erfolgreichen Weg als kontinuierliche Bedrohung und vergleicht es mit einem Knecht, der sich immer versucht vor der Willkür seines Herrn im Schatten zu verstecken. Und auch das der Lohn der ganzen Anstrengungen, immer offen und ungewiss bleibt, d.h. eine Selbstselektion, die immer mit der Kontingenz und der Unberechenbarkeit der Fremdselektion im Sinne Luhmanns zurecht kommen muss.
An dieser Stelle ist auch gar nicht klar, ob sich Job hier nun auf letzten Tage, Wochen (?) bezieht, nachdem der Diabolos in sein Leben eingegriffen hat. Oder ob er vielleicht in dieser Situation auch sein vorheriges Leben anders sieht. Das er durch den Verlust nicht nur besser sieht, was er gehabt hat und hier Bilanz zieht, sondern auch, dass er die Hilfskonstruktionen durchschaut, die ihn jeden Tag haben aufstehen lassen.
Denn offensichtlich war Jobs Leben auch vorher kein Selbstläufer, sondern es gab leere Monate, deren Beschreibung uns heute wie ein ausgewachsene Depression erscheinen. Er blickt auf Zeiten zurück, wo er sich abends ins Bett gelegt hat, erschöpft, aber ohne die Aussicht auf Ruhe, sondern nur in der Erwartung von kreisenden Gedanken und Grübeln und nur den Tagesanbruch ersehnend, um aus den quälenden Gedanken in der Ruhe der Nacht ausbrechen zu können. Aber auch der Tagesanbruch ist kein wünschenswerter Zustand: dieser Zustand, wenn man die Augen morgens aufschlägt und tief schockiert ist, dass man wieder wachgeworden ist, eigentlich nur noch Nicht-Sein will, alles sich wehrt dagegen, dieses Ich leben zu müssen. Gefangen in dieser Endlosschleife von Abend und Tagesanbruch, das eine im anderen ersehnend, aber nie Befriedigung findend. Eindrücklich beschreibt dies Hölderlin in „Menons Klage um Diotima“:
„…hinauf irret der Geist und hinab,
Ruh' erbittend; so flieht das getroffene Wild in die Wälder,
Wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht;
Aber nimmer erquickt sein grünes Laager das Herz ihm
Wieder und schlummerlos treibt es der Stachel umher.
Nicht die Wärme des Lichts und nicht die Kühle der Nacht hilft
Und in Woogen des Stroms taucht es die Wunden umsonst.
Und wie vergebens die Erd' ihr stärkendes Heilkraut
Reicht, und sein gährendes Blut keiner der Zephyre stillt.“
(Hölderlin 2004/9: 131)
Jobs einzige Zuflucht ist hier seine Vergänglichkeit, so dass er sich fast schon lustvoll im Moder seines Körpers sieht, der langsam von Würmern zersetzt und aufgelöst wird. Ein immer wiederkehrendes Motiv etwa vom Würmersack im Barock, dem wertlosen Hautsack bei Dogen Zenji im Japan des 13. Jahrhunderts oder heute etwa grandios beschrieben bei Josef Winkler, wo sich frische und verdorbene Früchte und ein erwachendes junges Geschlecht in ihren Gerüchen auf dem Wochenmarkt in Rom vermischen (Winkler 2001).
Aber in diesem Bild drückt sich nicht nur die Lust an der eigenen Vergänglichkeit und dem eigenen Auslöschen aus. Sondern auch etwas von der Sprachlosigkeit und Körperlichkeit von selbst psychischen Leid. Der Schmerz der sich psychosomatisch ausdrückt, und auch noch körperlich wahrgenommen wird. Wenn Gefühle nicht benannt, nicht getrennt, nicht lokalisiert, sortiert und zugeordnet werden können, dann fühlt sich der eigenen Körper oft wie ein Haufen Gewürm an, wo jeder Wurm für ein Gefühl steht und diese Würmer einen dann ganz buchstäblich zerfressen und auflösen.
Aber die Tiefe und den Abgrund, den Job hier erlebt hat, wird in der Regel verdrängt. Denn Anlass genug wird es hierfür wohl fast in jedem Leben geben, wenn auch nicht so zugespitzt wie bei Job. Aber das Leben verfließt so oft in unbedachten Geschwätz dahin, von Karriereambitionen ohne Inhalt, sondern nur auf Anerkennung aufbauend, von Fernsehen und Social Media, von Small Talk und flachem Witz… keine Frage, dass all dies auch sinnvoll genutzt werden kann. Vielleicht kann man hierfür auch ein paar Zeilen von Thomas Kling heranziehen:
„herzumlederun’. schwere.
geschüzze.
böschungen im schweren in
gescheuchtm mohn;
[…]
WIR AUF-
PFLANZER VON EWIGEM MOHN / DER SCHOSS
AUS UNSERN HÄUPTERN UNS IN DEN GESANG
DAS NANNTN WIR: herzumlederun’! schrienz,
(Kling 1997: 11)
Zwar geht es Kling hier in erster Linie um die Situation im ersten Weltkrieg, aber es sind auch Worte, die man hier im Kontext verwenden kann. Denn in beiden Situation geht es darum, dass man die Endlichkeit verdrängt, dass man sich abschließt und verschanzt (herzumlederun’), sowie das man sich berauscht und vergisst (Mohn) und das ganze im Gesang zusammengehalten wird. Es ist aber kein Gesang wie bei Hölderlin oder bei einer Bach-Kantate, der öffnet in den Abgrund hinein, sondern eher der Gesang der Fußball-Fans, der verbindet und das eigene Ich für einen Moment auflöst. Dies ist der „default“ Gesang von Social Media und Massenmedien.
Nur konsequent ist es dann, wenn jemand auf seinem Grabstein einen Fußball abbilden lässt. Und ist es so viel besser, als wenn jemand draufschreiben lässt Familie Prof. Dr. Dingenskirchen? Oder nachträglich ein Kreuz oder Maria, obwohl man ein Leben lang sich nicht um die beiden geschert hat und auch keine Beziehung zu ihnen hat? Das meiste was uns so durch den Alltag trägt „verlöscht in leerer Hoffnung.“ Und wir sind sehr erfolgreich dies zu verdrängen, nur manchmal hat man dieses schale Gefühl. Wie nach einem McDonalds-Besuch: satt sein bedeutet eher voll und übel, als gesättigt. Aber zumindest spürt man sich in seiner Übelkeit selbst, eine richtige Sättigung spürt man dagegen nicht.
Job erinnert dagegen daran, dass Leben Atem ist. Also zunächst etwas deutlich ruhigeres als der laute Gesang, etwas was keine Worte hat, sondern nur da ist, etwas was beschenkt werden (einatmen) kombiniert mit loslassen (ausatmen) und dies in jedem Moment lebt, etwas was in der Regel kaum bemerkt wird, was aber die Grundlage von allem anderen ist. Im Alten Testament steht der Ruach (רוּחַ) direkt am Anfang und im Neuen Testament ist der Geist (πνεῦμα) sogar ein Teil der Trinität. Aber praktisch kultiviert hat das Christentum den Atem nicht, eher hat man den Eindruck, dass der Atem auf diese Weise begrifflich diskutiert, theoretisiert und entsprechen archiviert worden ist. Hier gibt es im Buddhismus und Taoismus eine ganz andere Wertschätzung in der Praxis, die von der Bedeutung kaum zu überschätzen ist (vgl. etwa Lu 1994: 171ff.; Nan 1993: 145ff.). Hiervon sollte das christlich Beten lernen.
Der Osten kann uns hierbei nicht nur zeigen, dass der Atem die Endlichkeit lehrt genauso wie die fragile Basis von Leben und wie schnell der Atem enden kann (etwa beim Ertrinken). Sondern eine Besinnung auf den Atem (durchaus auch im Sinne von Heidegger (1997)), kann den Einblick in das Gute, d.h. in die platonische Trias aus Gut - Wahr - Schön und damit in unser Wesen ermöglichen. Und vielleicht ist es wirklich der zentrale Weg, denn auch das Christentum weiß, dass nach Jesus Tod, der Heilige Geist uns gesandt ist, indem wir beten (Joh 4, 24; Röm 8, 26).
Aber wir sind aufgefordert unsere Zeit zu nutzen, um hier einen Einblick zu gewinnen. Womit Einblick bedeutet, dass ich mich im Gebet aus den Augen Gottes betrachte, als der durch und durch gewollte Mensch, mit seinen verschiedenen Eigenschaften und dass ich erkenne, wozu ich geschaffen worden bin und welche Sendung mir aufgetragen ist (ganz im Sinne von Ignatius von Loyola im „Fundament“, siehe Przywara 1938: 47ff.). Denn diesen Einblick können wir nur im Leben gewinnen und bekommen wir eben nicht einfach im Tod geschenkt. Gott vollendet im Tod, das was wir mitbringen (vgl. Jüngel 1971; Rahner 1958).
Aber dieses sich anblicken lassen von Gott, ist eben nichts einfaches und auch nichts ungefährliches. Es ist kein Sonnenstrahl mit verkitschten gregorianischen Gesängen - sondern es ist oft der Abstieg in die Hölle. Es ist Nachfolge Jesus: sinnlose Hinschlachtung am Kreuz und Hinabstieg in die Hölle, und erst dann kommen auch wir zu Gott. Und dies hat eben nicht Jesus einfach stellvertretend für uns gemacht, so dass wir davon jetzt befreit sind. Er hat es uns vorgemacht, den Weg gewiesen - gehen müssen wir ihn schon selber, nur dass er uns nah ist in seinen Fußspuren.
Der Weg dahin, ist dieses feste Ich aufzulösen. Das Ich vergleicht Job hier mit einer Wolke. Sie ist nicht fassbar, verändert sich beständig und kann sich leicht am blauen Himmel auflösen. Die Wolke lässt einen so ohnmächtig und verzweifelt zurück, wenn man versucht sie festzuhalten. Genauso verzweifelt versuchen wir unser abgegrenztes Ich festzuhalten. Nur wir verdecken es, in dem wir Fotos von uns machen, Erster sein wollen, um so im Gedächtnis der anderen und der Geschichtsbücher festgehalten zu werden… aber letztlich bleiben wir eine Wolke, die mal interessantere mal weniger interessantere Formen bildet und dann sich einfach auflöst… ohne eine Spur am blauen Himmel zu hinterlassen. Niemand wird sich nach einer Zeit daran erinnern, nur bei Gott sind alle unsere Formen liebend aufbewahrt.
Aber durch diese Hölle müssen wir selbst gehen und auch erkennen, dass wir danach nicht einfach als ein besseres, tugendhafteres, schöneres Ich zurückkehren. Sondern wir kehren als andere Menschen zurück, die eigentlich nicht mehr von den anderen Menschen erkannt werden. Aber da nur das Innere getauscht wird (καταλλαγή, vgl. Przywara 1954) und nicht die Hülle, erkenne es die Menschen nicht. So wird Jesus mit dem Gärtner verwechselt, Heidegger mit einem Bauern und Ikkyu mit einem saufenden und hurenden dekadenten Mönch. So erkennt nur der Zen-Meister einen anderen Erleuchteten und auch in der westlichen Kultur erkennt man Bildung nur unter sich wie in Hermann Hesses Roman „Demian“.
Aber Job ist noch weit entfernt, das befreiende seiner Situation zu erkennen. Für ihn ist es nur ein leidvolles Auslöschen seines Ichs - wogegen er sich auflehnt. Hier ist er aber ganz mutig, denn er will sich nicht verkriechen und verstecken, damit er darüber nachdenken kann, was er möglicherweise falsch gemacht hat oder wo er gesündigt hat. Denn er kann öffentlich sein, weil er nicht gefährlich ist wie ein Drache, der weggesperrt werden muss oder das Meer, was eingepfercht werden muss durch Deiche oder Häfen.
Er will sich nicht schämen, sondern steht zu seiner Situation, die er nicht versteht und die so schwer zu tragen ist. Auch findet er keine Ruhe in der Einsamkeit, sein Schluchzen im Bett bringt ihm nichts. Er will darüber reden, aber wozu? Mitleid scheint er nicht unbedingt zu suchen. Wir nehmen eher an einem Schauspiel teil und zwar über die Beziehung von einem Menschen zu Gott. Nur das Job Gott sehr nahe steht, ihm sich weit öffnet und das diese Nähe deutlich mehr ist als das bukolische Idyll vom Anfang des Buches Job.
Job merkt oder besser ist selber eine Art Zuschauer, wie ihm sein eigenes Leben entzogen wird. Gott und der Diabolos, sind ihm dabei an Scharfsinn immer überlegen. Er ist in einer Situation wie der Suchtkranke, der immer seiner Sucht unterlegen ist, weil diese ihm immer einen Schritt voraus ist, egal was für rationale Entscheidungen man trifft. Job merkt, dass er dem nichts entgegenzusetzen hat und immer tiefere Einsichten in diese Abgründe, die er selber in dieser Gottesbeziehung ist und diese eröffnet bekommt.
Job fühlt sich gänzlich ausgelöscht, so dass ihm physisch der Tod gegeben wird und darüber hinaus auch noch der Geist aus seiner Seele genommen wird. Job fühlt sich so wertlos und am Ende, dass er sich auch nicht mehr nützlich für Gott und einen Gottesdienst ansieht. Seine Sendung scheint aufgelöst zu sein. Und paradoxerweise zeigt Job gerade darin eines der tiefsten Beispiele für eine Gottesbeziehung (ähnlich wie Jesus am Kreuz).
Job erlebt diese vernichtende Größe von Gott. Umso näher er Gott kommt, desto mehr verbrennt er vor ihm. Und trotzdem spürt er und wundert sich, dass Gott sich in seiner unermeßlichen Größe, dem wir so gar nichts entgegenzusetzen haben, sich für jeden einzelnen Menschen interessiert. Sich jedem liebend zuwendet, bei ihm ist, von morgens bis abends und die ganze Nacht hindurch während er schläft, in den banalsten Alltagssituationen, selbst beim Kacken, ist Gott nahe und interessiert sich für uns.
Warum ist Gott uns nahe? Um genau Buch zu führen und jede Verfehlung aufzuschreiben und bilanzieren zu können (was wohl Sophars Haltung wäre)? Oder sich daran zu ergötzen, wie wir uns in unserem Leid winden und verzweifeln, aber dafür umso kreativer nach Auswegen daraus suchen? Und genau mit diesen Fragen steht jetzt Job vor Gott, zerschunden an Leib und Seele. Er steht nur da, vor IHM, und ist allein so schon die beredte Anklage gegenüber Gott - ohne Worte, einfach nur in seinem Dasein! Diese Zerrissenheit zwischen einem Gott, der ganz nahe ist und sich liebend zuwendet und dem Gott, der durch seine unermessliche Größe Job in seinem Nichts verschwinden und untergehen lässt.
Und warum lässt Gott ihn einfach so da sein, ohne ihn zu heilen?
8. Erste Ansprache durch Baldad
Entgegnend sprach Baldad, der Sauchiter:
Wie lange willst du solches daherreden?
Es ist nur viel Wind, der aus deinem Munde kommt.
Denn wird der Herr Unrecht tun, wenn er richtet?
Oder wird der, der alles gemacht hat, die Gerechtigkeit beugen?
Haben deine Söhne gegen ihn gesündigt,
So sind sie in die Hand der Gesetzlosigkeit geschickt.
Du aber, stehe aufrecht vor dem Herrn, dem Allmächtigen, und bete!
Wenn du rein und wahrhaftig bist, wird dein Beten erhört,
Wiederhergestellt wird, dass du in der Gerechtigkeit zuhause bist.
So wird dein Früheres sogar geringer sein,
Und dein Künftiges überreich.
Schaue auf die früheren Generationen,
Und schaue auf die Generationen deiner Väter.
Denn wir sind nur Heutige und unwissend,
Denn in Nacht sind wir auf der Erde unser ganzes Leben.
Werden sie dich nicht lehren und dir verkünden,
Und zwar mit Worten aus ihrem Herzen heraus?
Wächst Papyrus denn etwa ohne Wasser,
Oder wächst Sumpfgras ohne Feuchtigkeit?
Was fest mit der Wurzel verbunden ist, wird nicht geerntet,
Steht zu trinken zur Verfügung, wird keine Pflanze vertrocknen.
Nicht so wird es aber letztlich allen ergehen, die den Herrn vergessen:
Denn die Hoffnung der Gottlosen wird sich auflösen.
Gar unbewohnbar wird sein Haus sein,
Nur ein Spinnennetz sein Zelt.
Auch wenn er sein Haus stützt, es wird nicht stehen bleiben,
Fasst er es nur an, so wird es dadurch untergehen.
Denn selbst wenn nur etwas Feuchtigkeit unter der Sonne ist,
So wird aus dem Schlamm ein Trieb aufsprießen.
Unter einem Steinhaufen wird er nur schlafen,
Aber mitten unter dem Schotter wird er leben.
Selbst wenn er verschlungen wird, wird er sich den Ort einrichten,
Nie gesehen wirst du so etwas haben.
Aber so wird der Untergang der Gottlosen sein,
Dass er aus der Erde jemand anderen erstehen lassen wird.
Denn der Herr wird nicht zurückweisen den Unschuldigen,
Aber alle Geschenke des Gottlosen wird er nicht nehmen.
Der Mund des Wahrhaftigen wird gefüllt mit Lachen,
Und ihre Lippen mit Lobgesang.
Ihr Feinde aber werden Schande übernehmen müssen,
Kein Zuhause werden die Gottlosen mehr haben.
Sein Freund Baldad erwidert darauf, dass er Job schlicht nicht glaubt. Er soll endlich aufhören mit dem Gelaber und dem sich in vielen Worten in seinem Mitleid ergehen. Für Baldad windet sich Job nicht im Leid, sondern in leeren Worten, die nicht zugeben wollen, wo er gesündigt hat.
Baldad scheint hier auch eher von einem schlichteren Geist zu sein. Denn zum einen geht er auf die Argumente von Job gar nicht ein, sondern qualifiziert sie von vornherein ab, als leere Worte. Er sieht auch nicht, dass Job wirklich tief und aufrichtig leidet und nicht nur nicht zugeben will, was er verbrochen hat. Und darüber hinaus hat Baldad ein sehr starres Gottesbild: es gibt die eine Gerechtigkeit und an die wird sich Gott halten.
Gott ist damit der Gerechtigkeit unterworfen, auch wenn er sie selber geschaffen hat. Er wird zu einer trivialen Maschine (im Sinne von Heinz von Foerster (2003)), der eher ein ausführendes Organ ist. Alles ist für Baldad klar geregelt und d.h. dass die Ursache nur bei Job liegen kann, der sich eine Ungerechtigkeit zu schulden kommen hat lassen und dafür jetzt gerecht gestraft wird. Und seine Tat muss Job selbst wissen und zugeben, denn nur er kann für diese Strafe verantwortlich sein. Denn hätten seine Söhne gesündigt, würden sie bestraft werden und nicht er für sie.
Job muss seine Tat vor Gott bekennen und so aufrichtig vor Gott stehen, indem was er zu verantwortet hat. Und eben nicht zu biegen und zu wenden, dass er nichts getan hat. Dann rastet auch direkt wieder die triviale Gottmaschine ein, so dass wenn a) Job seine Sünde bekennt, dann wird b) Gott ihn gerecht behandeln. Er muss nur wahrhaft bekennen und sofort ist alles wieder gut und er wird für sein Bekenntnis sogar noch belohnt.
Es ist so trivial und langweilig, was hier Baldad propagiert. Und so realitätsfremd! Denn selbst im Alltag läuft Realität nicht nach diesem einfachen Prinzip ab, oder zumindest nur dann, wenn man sehr allgemein etwas betrachtet. Und selbst die exakten Wissenschaften arbeiten mittlerweile nach dem Grundprinzipien der Unschärferelation oder selbst einer Fuzzy Logic. Und gilt dies nicht erst Recht für eine lebende Gottesbeziehung? Da reicht die Gemeinsamkeit von den launigen und gierigen animistischen Lokalgöttern bis hin zum hochelaborierten antiken griechischen Olymp oder dem östlichen himmlischen Jadekaiser bis hin zum Gott des Bundes der Juden und zu Jesus Christus… alle sind weit davon entfernt triviale Maschinen zu sein. Für den Taoist ist dies der wesentlich Punkt, nicht nach vorgefertigten Vorstellungen und Erwartungen zu handeln und zu denken, sondern jeweils den entsprechenden Umständen zu handeln und sich an diesen auszurichten… den unerwarteten und immer wieder überraschenden Windungen des Tao zu folgen: „Therefore, those whose actions can be predicted cannot be considered sages. Sages can do great deeds because their spirit is upright and they are steadfast in their courage. Because they teach according to the ways of the Tao“ (Wong 2014: 44).
Bildad ist hier ein klarer Konservativer. Nicht nur, dass für ihn relativ klar geregelt zu sein scheint, was richtig und falsch ist, sondern er findet dieses Richtig und Falsch auch am klarsten gelebt, umgesetzt und beschrieben in der Tradition. Sein Rat ist, vor allem auf die früheren Generationen zu schauen, weil wir sonst nur nach den Tagesmoden von heute und gestern agieren, die nur der Beliebigkeit und den Launen des Menschen ausgerichtet sind. Warum dies früher nicht der Fall war, bleibt hier zunächst unbeantwortet!
Denn der Mensch kann allein gar nicht erkennen, was richtig und falsch ist, da läuft er nur durch dunkle Nacht. Aus einer soziologisch-evolutionstheoretischen Perspektive muss ihm wohl auch Recht gegeben werden (Luhmann 1997: passim). Denn jede Variation ist erst einmal hochriskant und kann erst einmal nicht voraussagen, ob sie den Zyklus der Einpassung in das System „überlebt“ oder aussortiert wird (Weick 1985). Gleichwohl verändern sich auch Rahmenbedingungen, so dass sich dadurch auch funktionierende Traditionen als dysfunktional mit der Zeit erweisen können. Also auch hier eher komplexe Strukturen, als triviale Maschinen.
Als Legitimation des Rückgriffs auf die Tradition und die Väter nennt Bildad, dass sie „aus ihrem Herzen heraus“ lehren. Aber macht dies Job nicht auch? Mit Job haben wir einen Menschen vor uns, der ganz nackt ist (im doppelten Sinne), der offen sein ganzes Leid und Nicht-Verstehen herausschreit und offen legt. Der nichts mehr verdeckt oder versucht glatt zu bügeln. Der nichts verdrängt und mit oberflächlichen Erklärungen überpinselt. Dagegen haben wir bei der Tradition dies oft so, dass die Väter tatsächlich auch aus ihrem Herzen gesprochen haben, die Heutigen dies aber nur noch als kontextlose Dogmatik hören und damit vollkommen herzlos sind.
Diese Verbindung und das leben aus der Tradition beschreibt Bildad dann mit Pflanzen, die am Wasser stehen und auf diese Weise nicht vertrocknen können und immer genährt werden. Dieses Bild stellt eine Verbindung zum ersten Psalm dar: „Denn er [der Gerechte] ist wie ein Baum, der ist gepflanzt an den Flüssen voll Wasser“ (Ps 1, 3). Und auch zu Jeremia: „er wird wie ein saftiger Baum am Wasser sein und seine Wurzeln in Feuchtigkeit graben“ (Jer 17, 8). Und Jeremia sagt kurz davor, „verflucht der Mensch, der die Hoffnung auf einen Mensch setzt“ (Jer 17, 5).
Bildad kann sich also auf gute und gewichtige Belege beziehen. Allerdings ist an beiden nicht der Bezug auf die Tradition der Väter genommen, sondern auf den Herrn! Bildad liegt also nicht ganz falsch mit seiner Rede, nur er verfälscht sie, indem er sie greifbar machen will, sie festlegen will etwa in dem, was die Väter explizit gesagt haben. Er braucht diese triviale Maschine, die ihm immer ausspuckt, was gut und falsch ist. Für Jeremia ist der Mensch aber ganz das Gegenteil von einer trivialen Maschine. „Tiefer ist das Herz als alles Seiende, denn es ist ein Mensch. Aber wer kann ihn begreifen? Ich, der Herr, teste Herzen und prüfe Nieren, um jedem nach seinen Wegen und nach den Ergebnissen seiner Handlungen zu geben.“ (Jer 17, 9-10)
Die Psalmen und Jeremia verwenden zwar das gleiche Bild, aber das Wasser steht nicht für eine Dogmatik der Tradition, sondern für den abgründigen Herrn. Bildad hat recht, dass wir unser ganzes Erdenleben in tiefer Nacht und Unwissenheit verbringen, aber wo Bildad irrt, ist dass wir dies mit Hilfe der Tradition aufhellen können. Jeremia blickt hier viel tiefer und sieht das Herz, als das, was den Menschen von allem anderen Seienden unterscheidet und wodurch auch erst die Interaktion mit Gott entstehen kann, die kein anderes Seiende in dieser Form hat. Aber kann der Mensch sein Herz begreifen, kommt er damit je an eine Ende? Ist nicht selbst eine psychoanalytische Zergliederung nur ein Kratzen an der Oberfläche? Aber im Gebet kann der Herr viel weiter mit dem Menschen gehen, da er keine Worte braucht, wie der Therapeut und auch ein viel tieferen Einblick hat. Und hier testet dann der Herr Herz und Nieren. Interessant ist, dass das AT oft auch die Nieren nennt, was für den Taoismus (als Tu Mai (vgl. etwa Nan 1991; Needham 1983; Wong 2004)) und auch den Buddhismus eine überragende Bedeutung hat.
Aber warum testet der Herr überhaupt? Und gerade für Job ist dies ja eine zentrale Frage und selbst im knappen Vaterunser beschäftigt sich eine Bitte mit dem Test (πειρασμός): „und führe uns nicht in Versuchung“. So bemerkt Klaus Berger zurecht, dass dies eine der umstrittensten Bitten ist oder vielleicht besser auf das größte Fragezeichen und Unverständnis stößt und es hier auch eine ganze Reihe an Versuchen gibt, dies anders zu übersetzen (Berger 2014: 140f.). Berger spricht sogar als der „am wenigsten verstandene Satz der Bibel“ (Berger 2014: 151). Nun versucht Berger in einer phänomenologischen Betrachtung Versuchung darin zu beschreiben, „dass Menschen einem mächtigen, widerständigen Geist begegnen. Dieser Geist wird immer wieder als Feind begriffen, der alles zerstören will, was den Menschen biss dahin ausmachte. […] Er ‚kratzt‘ gerade an dem, was bislang als gesicherter ‚Kern‘ erschien.“ (Berger 2014: 150)
Im Christentum entsteht die Problematik der Versuchung vor allem daraus, dass in einem Monotheismus dieser widerständige Geist auf Gott bezogen werden muss und nicht selbständig von Gott gedacht werden kann. Bei Job ist dies noch ambivalent gehalten, indem Gott und der Diabolos als zwei Personen dargestellt werden. Allerdings ist es auch hier so, dass der Diabolos erst alle Macht durch Gott erhält, denn erst als Gott Job „freigibt“, hat der Diabolos die Möglichkeit ihn zu versuchen. Berger treibt diese Fragestellung nun zu seinem eigentlichen Kern weiter fort: „Ist dann die teuflische Bösartigkeit nicht doch irgendwie ‚göttlich‘ oder vordem göttlich, also ‚abgefallen‘? Folgt sie dem dualistisch-apokalyptischen Schema, nach dem alles Teuflische schlechte Kopie des Göttlichen ist? Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Das große Problem biblischen Glaubens ist der Dualismus. […] Und dieses Thema ist aufs engste mit der Theodizee verbunden.“ (Berger 2014: 151f.)
Vielleicht muss man das Buch Job auch mehr vor diesem Hintergrund sehen, dass es hier zunächst auch um die Theodizee und den Umgang mit Schicksalsschlägen geht, dann aber weiterschreitet was Gerecht und Ungerecht ist, aber hier schon in der totalen Unverhältnismässigkeit kollabiert. „Hinter den Rechtsbegriffen stehen gewiß ethische Begriffe und Fragen - ‚Warum bleiben die Bösen am Leben?‘ (21,7), warum werden sie an ihren Kindern statt an sich selber gestraft? (21,9), wo bleibt die Gerechtigkeit Gottes? (24, 1-17) -, aber diese Fragen begleiten ja nur seitlich, illustrierend Jobs eigenes, anders gelagertes Problem. Hinter dem Rechtsdenken steht eine letzte ästhetische Intuition: die Proportionen stimmen nicht - zwischen Jobs Leben und Jobs Leiden; mag man Gott noch so erhaben, transzendent, absolut schildernd sein, er bleibt für so elementare Proportionsfehler verantwortlich.“ (Balthasar 1989: 266f.). So ist die Theodizee eher der Vordergrund, worauf dann der Kampf des Dualismus durchgespielt wird. Das eigentliche Drama Jobs wäre somit das Zerbrechen aller Dualismen in Gott.
Um dies weiter zu verstehen, kann noch einmal auf Jeremias zurückgegriffen werden, da er sagt: „Du hast mich verführt, Herr, und ich habe mich verführen lassen.“ (Jer 20,7) Diesen Vers greift Origenes auf, was wiederum de Lubac zu einem buchlangen Kommentar veranlasst hat (Lubac 1984). Der entscheidende Punkt, den Lubac herausarbeitet, besteht darin, dass Gott in seinem Handeln nicht hinterhältig oder bestrafend handelt, sondern, so Origenes, „dieser Liebhaber göttlicher Pädagogik“ (Lubac 1984: 58), versteht dieses Handeln im Rahmen einer Kindererziehung. So schreibt Origenes in einer Homilie: „Bei der Erziehung der Kinder täuschen wir sie mit etwas Furchterregendem, das anfänglich notwendig ist, dessen Hinfälligkeit sie aber nachträglich erkennen.“ (zitiert nach Lubac 1084: 58) Wahrscheinlich würde man den Umfang mit Drohungen in der Erziehung zu arbeiten heute etwas anders gewichten, aber dennoch steht man vor der Herausforderung, dass Kinder noch nicht alles begreifen und einsehen, wozu sie dann ihre Eltern als Vormund und Erziehungsberechtigte benötigen. Heute ist dies nicht so oft Drohung mit Furchtbarem, sondern eher, dass das Kind Vertrauen in die Eltern haben muss, dass es sich daran halten muss. Und manchmal ist dies nur mit Zwang umzusetzen, was dann aber nur sehr geringfügig zu einer Einsicht führt - denn wer schreiend auf dem Boden liegt, hat wenig Möglichkeit zum nachdenken. Aber auch Vertrauen ist hier eine passende Analogie für das, was im Glauben passiert.
Lubac sieht dieses Vorgehensweise nicht nur beim Gott im Judentum und im Christentum, sondern genauso im Buddhismus (Lubac 1984: 70ff.). Hier wird noch viel häufiger das Bild vom Arzt verwendet, der nicht eine allgemeine Medizin für alle Menschen verwendet, d.h. eine Dogmatik „one size fits all“, sondern diese nach den jeweiligen Bedarfen verwendet. Es sind Mittel, um den vier edlen Wahrheiten zur Überwindung des Leides zu begegnen, was wesentlich durch die Überwindung des Dualismus geschieht. Die ganze Lehrtätigkeit des Buddhas ist danach ausgerichtet, so dass er (wenn man Zhiyi in seiner Einteilung des Lehre des Buddha folgt) zwar direkt nach seiner Erleuchtung im Huayan-Sutra seine ganze Lehre verkündet hat, aber diese nur für fortgeschrittene Bodhisattvas verständlich ist. Er ist deswegen nicht unmittelbar danach ins Nirvana eingegangen, um sich ebenfalls als göttlicher Pädagoge zu betätigen und hat sich die restlichen 40 Jahre seines Lebens nur dieser Aufgabe gewidmet, woraus die zahlreichen Sutren entstanden sind. Und selbst im Huayan-Sutra wird dieser Punkt deutlich, indem Sudhana auf seiner Pilgerschaft im letzten Buch immer weiter von Lehrerin zum nächsten Lehrer weitergeht und dies nicht um Wissen zu akkumulieren, sondern um die Lehre des Buddha in immer neuer individueller Form gespiegelt zu bekommen. Keinem fehlt hier etwas von der Buddha-Lehre, aber keine ist vollständig. Alles erleuchtete Individuen, die auf jeweils ihre Weise ihren Kampf ausgefochten haben.
Im Anschluss an Origenes versteht Lubac deswegen Versuchung immer als göttliche Pädagogik: „Die Rache des Herr ist immer erzieherisch, wie die Schrift im Alten und Neuen Bund es uns lehrt; die Züchtigung des Herrn trägt stets ‚eine Frucht des Friedens und der Gerechtigkeit‘. Was aber viel mehr, was einzig zu fürchten ist, als das Übel schlechthin, ist Gottes Vergessen.“ (Lubac 1984: 97)
Auf dieser Grundlage lässt sich dann die Vaterunser-Bitte neu übersetzen. Und zwar nicht wie Berger vorschlägt: „Lass uns nicht in Versuchung geraten!“ (Berger 2014: 154), da hierdurch schon die Freiheit der Übersetzung sehr arg strapaziert wird. Nehmen wir das Verb εισειμι, so kann dies vor Gericht auftreten oder ins Gericht führen etc. bedeuten. Aber es kann genauso auch überfallen, überkommen, einfallen etc insbesondere von Gedanken, Affekten, Ängsten bedeuten. Deswegen wäre auch die Übersetzung möglich (Mt 6, 6):
Und lass uns nicht überfallen werden von der Prüfung,
Sondern verteidige uns in der Not.
In dieser Form geht es gar nicht so sehr nicht geprüft und versucht zu werden, sondern eher, dass man darauf vorbereitet ist und auch entsprechende Selbstgewissheit mitbringt, weil man auf den Beistand vom Herrn setzen kann. Damit wäre dann eher ein sportliches Christentum gemeint oder im Sinne Adolf Kolpings, der ein Christentum nicht für die Betkammern reserviert und sich vor der Welt und ihren Herausforderungen abschließt, sondern ein Christentum für das Leben, was dieses Leben aktiv mitgestaltet wo Kolping sicher eines der besten Beispiele im 19. Jahrhundert war und im 20. Jahrhundert Oswald von Nell-Breuning.
Aber was Job hier erlebt ist etwas viel Tieferes als ein Vita Activa. Für eine Vita Activa muss erst dieser totale Abgrund durchgestanden worden sein und einmal wieder aus der Hölle auferstanden. Es ist etwas wie beim Ochsen und dem Hirten: lässig auf dem Marktplatz tummeln sich viele, aber nur der Buddha hat die neun Stationen davor durchlebt - und dies unterscheidet ihn grundlegend vom Rest (Ueda 2011: 11ff.). Oder der Unterschied bei einer Alkoholabstinenz von jemandem der nie getrunken hat im Verhältnis zu einem ehemals Abhängigen.
Denn die Prüfung ist nicht etwas, was man hoffen muss, nicht machen zu müssen. Der Kelch ist eben nicht dafür da, dass er an einem vorbeigeht. Und eine wirkliche Gottesbeziehung baut sich auch erst in dieser Prüfung auf, in einem Kampf mit Gott, so wie Jakob auf dem Jabbok (Gen 32, 23-33). So kann auch Przywara in Wien am Ende des Zweiten Weltkrieges im Geiste Jobs beten und den Kampf mit Gott als intime Nähe und Liebe verstehen:
„Aber, o Gott, wir danken Dir, daß wir mit dir kämpfen dürfen. O Gott, wir danken dir, daß wir mit dir kämpfen dürfen, wie Jakob kämpfte im Grauen des Morgens. Wir danken dir, daß wir mit dir kämpfen dürfen, wie Job gekämpft hat im Aufbegehren gegen Dich.
Aber, o Gott, wir bitten Dich, laß uns spüren in diesem Kämpfen, laß uns Spüren in diesem Ringen wie du Brust an Brust, wie du Herz an Herz uns nehmen kommst, wie deine Liebe brennender uns nahe wird. Wie Dein Wettersturm, der uns schlägt, das Übermaß Deiner Liebe ist, die uns schlagen will, ja, die uns niederschlagen will, ja, - aber die uns öffnen will, die öffnen will alle Mauern, die öffnen will alle Panzer, die zerfetzen will auch den leisesten Schleier, den wir um uns noch legen.“
(Przywara 1956: 505)
Vielleicht muss man sich diesen Kampf auch immer als ganze Biografie vorstellen, wo der Kampf zuerst ein grobes aufeinander Prallen ist, aber um so länger man kämpft, desto geschmeidiger wird es, man lernt immer mehr den Gegner und sich selber kennen. Sie kämpfen immer weiter, weil sie vielleicht nicht ebenbürtig sind, aber der eine Gegner sich dem anderen annimmt, ihm quasi als Trainer immer weiter an seine Grenzen bringt, diese aber immer weiter damit verschiebt. Und sich gleichzeitig über die Kreativität des Schülers freut, die er auch als überlegener Lehrer nie voraussehen kann und die immer überrascht und ihm Freude bereitet. Und sowohl der Lehrer als auch der Schüler merken, wie sich der Schüler in seinen eigenen Stil hinein entwickelt. Und umso länger sie kämpfen, desto mehr hört der Kampf auf, ein Aufeinanderprallen von zwei getrennten Parteien zu sein, die nur nach ihren eigenen Gesetzen aufeinanderstoßen und eindreschen. Sie schwingen sich immer mehr auf- und ineinander ein, so wird aus dem Kampf erst eine Capoeira und die Begegnung erhält erst dann ihren vollen Segen, wenn sie nur noch Tanz geworden ist. So muss man sich Job und Jakob vorstellen und nicht als bloße Gegner gegen Gott oder gar Gott als Gegner von Job und Jakob.
Tanz passt hier auch gut in den Kontext, weil es in der Systemtheorie als ein gutes Beispiel für eine Gesellschaft steht, die keine feste Strukturen mehr hat, sondern aus ihrer Instabilität und dem kontinuierlichen Zerfall ihrer Elemente (Autopoiesis) ihre Stabilität gewinnen muss (Luhmann 1996). Hier wird dann der Tanz als kontrolliertes Fallen beschrieben. Und Job ist dann die Person, die sich immer mehr in dieses Fallen hineinfindet und sich immer mehr in einen All-Rhythmus einer Analogia Entis einschwingt, Gott und Mensch immer von einander getrennt bleiben aber gerade im Tanz sich ineinanderfügen (Przywara 1996).
Alttestamentlich könnte man sagen, dass das Buch Job das Buch des Kampfes ist, während das Buch der Hohenliedes das Buch des Tanzes ist. Die Septuaginta hat die Nähe der beiden Bücher schon gespürt, nur hat sie sie nach dieser Logik in die verkehrte Reihenfolge gesetzt.
In diesem Sinne kann das Buch Job auch als Kommentar gelesen werden, zu so oft missverstandenen bzw. ignorierten letzten Vaterunser-Bitte. Aber nun nach diesem kleinen Exkurs wieder zurück zu Bildad.
Im letzten Teil seiner Rede zeigt Bildad auf, dass letztendlich die Talion greift: zwar sieht es oft so aus, als ob die Schlechten doch in ihrem Tun meist durchkommen und sogar Erfolg haben. Aber die Bilanz wird nach Bildad immer gerecht ausfallen.
Das Christentum war hierin besonders geschickt, indem Gott in seinem berühmten Buch (was offensichtlich mehr Menschen wichtig ist, als die Bibel) alle guten und schlechten Taten dokumentiert und am jüngsten Gericht dann Bilanz zieht. Das Judentum muss dafür allerdings noch am Boden bleiben. Aber Bildad schildert hier in sehr eindrucksvollen Bilder, die Entfremdung, die der Ungerechte erfährt, in dem ihm sein Zuhause genommen wird bzw. dies ihm keine Sicherheit und Schutz mehr bietet. Aber selbst dann scheint der Ungerechte noch nicht zerstört zu sein, denn die Ungerechten sind oft wie Unkraut, man rupft es aus, aber es kommt immer wieder: es braucht nur etwas Feuchtigkeit unter der Sonne und als erstes sprießt nicht das Einkorn, sondern das Unkraut, denn irgendwo hat der Samen geruht und auf seinen Moment gewartet. Und man wundert sich immer wieder, bis wohin und unter welchen Bedingungen es der Samen des Unkraut geschafft hat (selbst aus der Scheiße von Tieren wird es sprossen, so hartnäckig und indifferent ist das Unkraut gegenüber den Rahmenbedingungen - was man wieder auch wieder auf den menschlichen Bereich übertragen kann).
So wie das Unkraut sind auch die Ungerechten. Gott lässt diesen auch lange die Freiheit, so zu agieren (vgl. auch Mt 13, 24-30). Zwar wird das Unkraut lange stärker sein, aber letztlich wird Gott nur die Guten aus der Erde sich nähren und aufwachsen lassen. Dann verschafft er den Unschuldigen ihre Freiheit unbedrängt zu wachsen, aber die Gottlosen können nun tun, was sie wollen, sie können ihre Situation nicht mehr ändern. Es ist der lange Atem, der hier zählt (vgl. auch hier Mt 25, 1-13). Am jüngsten Tag wird abgerechnet und an der Bilanz kann dann nichts mehr geändert werden. Was so im Gegensatz zum Weltbild der Ungerechten steht, die sich immer auf irgendeine Weise aus negativen Situation herauswinden können. Aber hier hat dann eine neue Zeit und eine neue Ordnung begonnen, an der dann nichts mehr geändert werden kann. Dann werden die Gerechten Lachen, nach langen Zeiten der Bitterkeit und des Erdulden und den Herrn Loben und Seligpreisen (vgl. auch Lk 6, 20-25 und Mt 5-7).
Nach der zweiten Rede seiner Freunde zeigt sich zwar, dass sie Jobs Situation nicht erfassen und ihm so auch keine Trost geben können. Vielmehr stülpen sie Job ein Gerüst über, wonach er sich richten soll. Job ist aber ein starker Mensch und auch sehr tief und grundlegend von den Schlägen des Diabolos getroffen. Deswegen lässt sich Job nur noch schlecht in dieses Schema einpassen. Aber grundsätzlich vertreten die Freunde keine absurde Theologie und zwar eine Theologie, die durchaus auch grundlegend für das Neue Testament ist (wie die Vergleiche in den Klammern kurz andeuten sollten, wo es sich ja auch um sehr zentrale Stellen handelt).
Job würde dem vielleicht vom Grundsatz auch nicht widersprechen und selbst der Ausgang des Buches Jobs zeigt ja seine Richtigkeit. Nur die Anwendung der Freunde greift einfach so fatal zu kurz und in dieser Hinsicht ist dann das Buch Job immer brandaktuell geblieben, weil es gerade eine verkürzte Verallgemeinerung kritisiert. Und diese Verallgemeinerung muss die Kirche als Institution notwendigerweise immer vornehmen. Wie reagiert also Job nun darauf…
9. Jobs Antwort auf Baldad
Entgegnend spricht Job:
In Wahrheit zeigt es sich mir aber so:
Denn wie kann eine Sterblicher gerecht vor dem Herrn sein?
Will er denn mit ihm rechten,
So wird er nicht erhört,
So das tausende seiner Worte nichts ändern.
Denn Er ist weise genauso wie klug, stark ebenso wie umsichtig,
Wer ist so hart, dass er es Ihm gegenüber aushält?
Er, der die ältesten Berge, die keiner von Urzeit an kennt,
Er zerschmeißt sie im Zorn.
Er ist das Beben, von den Himmeln bis zu den Fundamenten,
Das die Säulen zur Erschütterung bringt.
Er, der zur Sonne sagt, dass sie nicht aufgeht,
Und die Sterne versiegelt.
Er, der alleine den Himmel umfasst,
Und umhergeht auf den Meeren wie an Land,
Er, der gemacht hat die Plejaden, den Hesperus und Arkturus und bis in den Süden reicht.
Er, der Großes und Unergründliches gemacht hat,
Lobenswert und unerforschlich, und unzählbar ist es.
Zieht er an mir vorüber, nicht werde ich ihn sehen,
Auch nicht wenn er mit mir geht, werde ich ihn erkennen.
Lässt er etwas fallen, wer will es aufhalten,
Oder wer will ihn infrage stellen: Warum hast du das gemacht?
Denn nur er selbst wendet den Zorn ab,
Selbst die Seeungeheuer unter den Himmeln ducken sich weg.
Auf mich aber soll er hören, und meine Worte einen Unterschied bei ihm machen?
Denn selbst wenn ich gerecht wäre, wird er mich nicht erhören,
Und trotzdem werde ich sein Urteil annehmen.
Selbst wenn ich schreie, dass er mich hört,
Glaube ich nicht, dass er mich erhört.
Ich bin mit einem Schlag niedergeworfen,
Und die vielen Verletzungen, die Er gemacht hat, für nichts sind sie.
Durch dich kann ich nicht mehr atmen,
Gefüllt bin ich durch dich mit Bitterkeit.
So wie Er mit Macht festhält,
Wie will man sich dem Urteil entziehen?
Denn selbst wenn ich gerecht wäre, so wird mein Mund gottlos sprechen,
Wenn ich ohne Tadel bin, werde ich krumm dastehen.
Denn selbst wenn ich gottlos war, ich erkenne es nicht in meiner Seele,
Nur dass weggenommen wird mein Leben.
So ist gesprochen: Große und Selbständige werden aufgelöst in seinem Zorn,
Die Antriebslosen werden einen unerträglichen Tod haben,
Dagegen werden die Gerechten ausgelacht.
Denn übergeben in die Hände der Gottlosen sind sie,
Die Gesichter der Richter verbirgt er,
Und wenn er es nicht selbst ist, wer ist es dann?
So ist mein Leben schneller als ein Läufer,
Entflohen, ohne etwas Gutes.
Oder gibt es bei Schiffen eine Spur ihres Weges,
Oder bei einem Adlerflug, der seinen Fraß sucht?
Denn wenn ich spreche, erleichtert mich mein Gerede,
Aber nur mit gebeugtem Haupt, und zögernd.
Beben sind alle meine Glieder,
Denn ich weiß, dass du mich nicht ohne Schuld bestehen lassen wirst.
Nachdem ich so aber ein Gottloser bin, warum bin ich dann nicht besser gestorben?
Denn auch wenn ich mich mit Schnee reinige,
Und säubere mit sauberen Händen,
Du aber hast mich doch in den Schmutz gestoßen,
So dass ich nicht im reinen Gewand dastehe.
Denn du bist kein Mensch wie ich, mit dem man rechten könnte,
Denn wir kommen nicht gemeinsam zu einem Urteil.
Wäre da nur ein Mittler zwischen uns, der hinweist,
Und der gerecht zwischen uns steht.
Er soll die Rute von mir nehmen,
Und die Angst vor ihm soll mich nicht mehr hin und her werfen.
Aber ich soll keine Angst haben, sondern soll reden,
Denn mir ist nichts bewusst.
Job antwortet auf Bildad indem er die aporetische Grundlage aufdeckt, die in seiner Argumentation liegt. Denn welcher Mensch kann schon gerecht vor Gott stehen? Niemand! Denn vor einem allwissenden Gott kann niemand bestehen. Denn vor ihm ist nichts verborgen und er kann auch immer neue Sünden von uns aus dem Hut zaubern, die wir vielleicht vergessen haben oder wo wir nie bewusst wahrgenommen haben, dass wir dies gemacht haben, oder wo etwas, was wir getan haben, indirekt dann negative Folgen hatte. Denn die Bewusstheit der Sünde, scheint in der Situation von Job ja nicht relevant zu sein. Und wenn letztlich alles mit allem zusammenhängt, können wir entweder für alles verantwortlich gemacht werden oder für nichts, weil wir selbst dann auch durch die Umstände bedingt sind… oder allein Gott kann zur Verantwortung gezogen werden.
Aus dieser Perspektive ist das Ziel eines gerechten Lebens unerreichbar. Es ist nur Gnade durch Gott, wie viel davon er einer Person zurechnet oder nicht. Hier kann ich so viel argumentieren und rechtfertigen wie ich will, ich werde Gott nie ausreichend antworten können. Eine stabile Lebensorientierung ist damit nicht mehr gegeben, weil es nicht von uns abhängt und als Ziel unerreichbar ist. Damit ist die Orientierung ein gerechtes Leben zu führen letztlich eine radikale Ohnmacht, weil es nicht erreichbar ist. Ich kann daraus die Konsequenz ziehen und mich an die 10 Gebote halten, an die Kardinaltugenden oder an die Gesetze… aber dies bleibt immer auf einer oberflächlichen Ebene. Gott kann hier jederzeit eingreifen und mich infrage stellen.
Aber diese Aporie scheint kein Konstruktionsfehler des abrahamitischen Gottesbildes zu sein, denn man findet eine ähnliche Aporie im Buddhismus. So kann man als eine wesentliche Grundlage des Mahayana-Buddhismus die vier Bodhisattva Gelübde ansehen, wie sie von Hui-neng gelehrt wurden. Und auch hier liegt eine Aporie vor, wie sie z.B. Okumura herausarbeitet: „I see a basic contradiction between the first and second half of each sentence: ‚Sentinent beings are numberless; I vow to save them‘: but if sentinent beings are numberless, we cannot possibly save them all - this is a contradiction. ‚Desires are inexhaustible; I vow to put an end to them‘: if they are inexhaustible, how can I put an end to them? That’s logically impossible. ‚The dharmas are boundless; I vow to master them‘: if they are boundless, then we cannot completely master them. The ‚contradiction‘ in the fourth vow is subtler: ‚The Buddha’s way is unsurpassable; I vow to attain it‘: it it’s so transcendent, can we really expect to realize it? These contradictions are very important and have a profound practical and also religious meaning.“ (Okumura 2012: 15)
Damit ist das, was man gelobt hat, von vorne herein nicht erreichbar. Und doch ist es damit nicht hinfällig und nur noch ein atheistisches positives Recht notwendig. Zwar kann man den Leitsatz „Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“ als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens nehmen oder etwas präziser von Kant formuliert: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Kant 1998: 337) Allerdings sind dies eher Hygiene-Faktoren, wie man dies für Organisationen in der Two-factor-theory von Herzberg bezeichnen würde: „Briefly, we asked our respondents to describe periods in their lives when they were exceedingly happy and unhappy with their jobs. Each respondent gave as many ‚sequences of events‘ as he could that met certain criteria— including a marked change in feeling, a beginning, and an end, and contained some substantive description other than feelings and interpretations […] The proposed hypothesis appears verified. The factors on the right that led to satisfaction (achievement, intrinsic interest in the work, responsibility, and advancement) are mostly unipolar; that is, they contribute very little to job dissatisfaction. Conversely, the dis-satisfiers (company policy and administrative practices, supervision, interpersonal relationships, working conditions, and salary) contribute very little to job satisfaction.“ (Herzberg 1964: 4)
Mit dem letzten Punkt sind die sogenannten Hygiene-Faktoren angesprochen, die zwar wichtig sind, aber nicht wesentlich für die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit beitragen: ein üppiges Gehalt und eine gute Kantine werden einen Pazifisten bei Heckler & Koch nicht glücklich machen, dagegen ist die Diskrepanz von einem schlecht bezahlten Job als Friedensaktivist bei einer NGO deutlich leichter auszuhalten. Übertragen bedeutet dies nun, dass positives Recht, aber auch moralisch-dogmatische Werte auch Hyginefaktoren sind, die in vielen Bereichen unverzichtbar und die Grundlage unseres Zusammenlebens darstellen, aber nur wenig zu einem sinnvollen Leben beitragen. (Auch beim aktuell laufenden Synodalen Weg scheint es hauptsächlich um Hygiene-Faktoren zu gehen wogegen die eigentlichen Motivations-Faktoren ausgeblendet bzw. nur von konservativer Seite mit einer einseitigen Ausrichtung eingebracht zu werden. Leider stimmt es deswegen wenig hoffnungsvoll, was hier am Ende rauskommt. Denn zum Aufbau und sich Einlassen auf eine Gottesbeziehung trägt jetzt nur wenig bei, wenn die Messe von einer Priesterin gefeiert wird, die am Sonntagmorgen schon Sex mit ihrer Partnerin hatte und von der transgender Bisch*öf*in in die Entscheidungsprozesse eingebunden wird. Denn an der fehlenden lebendigen Gottesbeziehung geht die Kirche kaputt, nicht an Beteiligungschancen (die gleichwohl als Hygiene-Faktor durchaus auch wichtig bleiben, aber eben im oben genannten Sinn).)
Bildad fokussiert in seiner Rede hauptsächlich auf die Hygiene-Faktoren und blendet dabei aus, dass diese vor Gott eh nie vollständig erreichbar sind. Er blendet diese Aporie aus, verwendet viel Mühe um ein codifiziertes Recht und Moral zu schaffen, verliert dabei aber eine lebendige Gottesbeziehung aus den Augen. Er ist wie jemand, der einen umfassenden Ehevertrag aushandelt, dabei aber nur halbbewusst hält, dass nicht alles geregelt werden kann, aber dann doch viel festgeschrieben hat. Nur er sieht nicht, dass die Liebesbeziehung damit schon längt abgemurkst ist. Job bricht dagegen immer mehr aus diesem Ehevertrag aus und tourt wie ein Studentenpaar wild fickend, aber ohne viel Geld durch Europa.
So hat die Unmöglichkeit gerecht vor Gott zu sein, sowohl etwas Ohnmächtiges aber auch etwas im sehr tiefen Sinn Befreiendes. So beschreibt Okumura weiter diese Aporie im Buddhismus und erfährt gerade in diesem Bezug Bestätigung von Nonnen aus dem Karmel, mit denen er das Verständnis von Gebet im Buddhismus diskutiert: „When we compare our achievement with something infinite, absolute, and eternal, it’s like nothing. […] We are right now, right here, with this body and mind, awakening to reality. This ist the complete manifestation of absolute, infinite, eternal enlightenment. […] All of our day-to-day activities should be based on the four vows and the four noble truths, which are the basic teaching of Shakyamuni Buddha. When I explained all this to the Christian nuns, they liked it! They felt that the teachings of Catholism are the same as those of Buddhism. In Christianity the absolute, the infinite, is God. Being in front of God, no one can be proud of their achievements. Therefore, believers have to be still in front of God.“ (Okumura 2012: 19f.; vgl. für den Zusammenhang von Karmel, Gebet und Zen auch einen anderen nicht verwandten Okumura (1981)). So schreibt Przywara ebenfalls für Christentum und Judentum bestätigend: „Im Alten Testament, aus dessen Sprache allein das Neue verstehbar ist, ergibt sich ‚Religion‘ einzig und ausschließlich aus dem ‚Bund‘ als ‚Hochzeit Gottes mit Israel‘ nicht nur in ‚Kult und Opfer des Tempels‘, sondern so, daß ‚ihr heilig sein sollt, wie Ich heilig‘ bin (wie das Urwort der Zehngebote im Leviticus lautet), d.h. so, daß alles leben des Volkes ‚Kulthandlung‘ zu sein hat, bis ins Kleinstes und Profanste hinein (wie die Gesetzgebung des Sinai ordnet und wie es später das Riesenwerk des Talmud ausdeutet, mehr als buchstaben-getreu).“ (Przywara 1996: 318)
So dämmert es Job immer mehr, dass er nicht mit Gott rechten kann über seine Situation und dass ein Rechtsstreit mit Gott einfach die falsche Kategorie ist, in der er seine Gottesbeziehung leben kann. Denn hier wird er immer den Kürzeren ziehen: „Will er denn mit ihm rechten,/ So wird er nicht erhört“. Denn jedes pochen auf seine Rechte verschließt eine Beziehung und schließt das Ich für sich ab, macht eine Festung aus dem Ich, dass auf seinen Ansprüchen beharrt und dafür kämpft. Hier wird nicht gelernt oder sich weiterentwickelt, sondern es wird versucht den eigenen Standpunkt durchzusetzen (vgl. hierzu normative und kognitive Erwartungen bei Luhmann (1990: 138ff.), wobei das erste ein Beharren auf der eigenen Position/Wissen bedeutet und das zweite Lernen, um das eigenen Wissen zu erweitern auf neue Situationen und Umstände).
„Wer ist so hart, dass er es Ihm gegenüber aushält?“ Job merkt, dass er mit einer normativen Erwartungshalten bei Gott nicht sehr weit kommt. Gott ist bei den Griechen aber auch im AT doch eine sehr starke Persönlichkeit (wenn man dies anthropologisch beschreiben möchte): voller Leidenschaft, spielend in einer Beziehung, unberechenbar - und vor allem aber, unbedingt und bis ins letzte liebend! Und dieser liebende Gott steigt Job immer mehr aus dem Abgrund entgegen. Aus einem Abgrund, indem nichts mehr fest steht, der keinen Halt mehr gibt, den alle menschlich-heuristischen Konstruktionen nicht mehr zu fassen bekommen. Aus diesem Abgrund kommt ihm Gott entgegen, flüstert ihm ganz leise seine Liebe zu und dass er gerade in diesem freien Fall unendlich gehalten ist. Und eben nur im freien Fall wirklich gehalten ist. Wie die Glocke, die erst aus allen menschlichen Gerüst befreit werden muss, um dann frei über dem Abgrund zu hängen und nur so endlich läuten kann.
Im Text folgen dann einige Aussagen über Gott, die seine Gewaltigkeit und Macht ausdrücken und die jeweils mit einem etwas distanziertem „ὁ“ beginnen, was mit „er“ oder „der“ übersetzt werden kann. Dies ist von Relevanz weil im zweiten Teil dieser Rede Jobs Ansprache von Gott sich wandelt. So wechselt diese von einer distanziert-neutralen Ansprache, die eher rationale Theologie betreibt, hin zu einer persönlichen Anrede des Du. Und gerade dieser Haltungswechsel ist zentrales Thema im Buch Job und gar nicht mal so sehr die inhaltlichen Aussagen über Gerechtigkeit und Theodizee.
Was Job jetzt im folgenden beschreibt, sind auch gar nicht in erster Linie Aussagen über Gottes Eigenschaften, sondern eher ein Stimmungsbild, wie sich Job vor Gott fühlt: nämlich klein und ohnmächtig. Nämlich vor einem Gott der als einziger die Welt von Anfang an kennt und der nicht nur einen Menschen zerstört, sondern in seinem Zorn auch schon immer dagewesene Berge in seinem Zorn zerschlagen kann. Aber nicht nur Bergmassive, sondern selbst den Himmel und die Erde bringt er ins Wanken. Und selbst dies drückt noch nicht die Gewaltigkeit Gottes aus, denn damit zerschlägt er selbst Aussagen, die er über sich selbst und die Ordnung der Welt gemacht hat: „Er hat die Erde gegründet auf ihren sicheren Fundamenten,/ sie wird nicht erschüttert werden von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Ps 104, 5) und „er hat ja auch den Erdkreis befestigt, welcher nicht wanken wird.“ (Ps 93, 1) Aber genau dies bringt Gott hier ins Beben und Wanken und damit erodieren auch alle dogmatischen Aussagen, die über Gott gemacht wurden, selbst wenn sie in den Psalmen oder in der Genesis stehen, wo Gott alles wohl geordnet hat. Der Mensch kann sich selbst in diesen Aussagen nicht einrichten und zuhause fühlen und zur Ruhe kommen. Selbst dies wird zerschlagen, genauso wie jede Vorstellung von Gerechtigkeit, die Job versucht gegen Gott vorzubringen.
Job erinnert daran, dass Gott irgendwann der Sonne befehlen wird, nicht mehr aufzugehen und dann die Welt untergehen lässt. Und all dies liegt in Gottes Hand, alles umfasst er von Himmel und all seinen Gestirnen bis zum Land und den Meeren. Von dem Größten bis zum Kleinsten, was wir aufgrund der Größe oder Kleinheit als Menschen gar nicht mehr erfassen können (und auch mit einem Mikroskop uns immer nur an einen Horizont annähern, der immer größere Tiefen eröffnet). „Zwischen Gott und Mensch gibt es kein ‚Recht‘, kein Gericht, das über den Streitenden stünde, keinen Schiedsmann, keinen Schlichter. Rechtlos, restlos ist der Mensch dem Gewaltigen ausgeliefert, über nichts verfügt er, den Part ihn zu bieten. - Ijjob erfährt an sich die Zerstörung des Gottes der Weisen, des an das Rechte, und das Recht gebundenen Gottes. Gott offenbar sich als GOTT, da zerfallen die ‚Bilder‘, des Gottes und des Menschen Bild. Jetzt beginn Ijjob, Gott zu suchen, seinen verlorenen Gott, um den zu finden, der ihn sucht.“ (Stier 1956: 284)
Job realisiert so immer mehr die Gewaltigkeit seines Gottes, der alles sprengt, was er an Denkmöglichkeiten hat. Es ist nicht mehr so dahingeschwätzt, dass Gott der Allmächtige ist, sondern Job realisiert es für sich, d.h. es ist nicht nur einfach nachgesprochen, sondern er erfährt dies in seinem Wesen, geht über in implizites Handlungswissen. Auslöser dafür ist sicher sein aktuelles Leid, wo alle Kategorien, die er zu Verfügung hat dieses zu verstehen und Sinn darein zu lesen, zerbrechen und widersprüchlich sind. Aber darüberhinaus realisiert er, dass Gott für ihn erst jetzt sich nähert, indem alle Gottesbilder zerfallen und sich Gott entzieht durch seine immer größere Herrlichkeit. Selbst wenn Gott ihm ganz nah ist, realisiert Job, dass er es womöglich nicht merken würde. Selbst wenn er die ganze Zeit ihn begleiten würde nicht (was dann im NT mit der Emmaus-Erzählung wieder aufgegriffen wird (Luk 24, 13-35)).
Weiter realisiert Job, dass eigentlich niemand etwas aufhalten kann, was Gott beschlossen hat, sondern nur zuschauen kann in Ohnmacht. Muss ein Mensch sterben, können wir es nicht aufhalten, sondern können nur danebenstehen und ohnmächtig zuschauen. Natürlich hat Medizin hier immer mehr erreicht, um Leben zu retten oder zu verlängern, aber letztlich bleibt die Frage nach Leben und Tod immer umverfügbar.
Auch kann man Gottes Willen nicht infrage stellen, nach den eigenen Maßstäben etwa von Gerechtigkeit, denn er handelt nach seinen eigenen Regeln. Nur er kann seinen Zorn abwenden und selbst die mächtigsten Erdenwesen ducken sich nur vor ihm weg. Dies alles realisiert Job und dass auch alle seine Klagen gegen Gott über seine ungerechte Situation nicht erhört werden. Und er zieht daraus einen erstaunlichen Schluss: „Und trotzdem werde ich sein Urteil annehmen.“ Und dieser Schluss erscheint hier zum einen als totale Kapitulation, aber gleichzeitig klingt hier auch Stärke und Hoffnung durch, die aber weit entfernt von dem ist, was sich die Freunde unter Gott vorstellen. Job hat dagegen alle Vorstellungen von Gott zerschlagen und losgelassen und nähert sich fassungslos ganz langsam diesem unbegreiflichen Gott in seiner Herrlichkeit.
Job realisiert eine Mystik, die eigentlich keine Funktion hat auf den Menschen bezogen. Sie tröstet nicht, sie gibt keine Antworten auf Sinnfragen, sie hilft nicht, z.B. indem Gott hilft die richtigen Entscheidungen zu treffen oder das er den Weg dafür ebnet. Diese Form von Mystik gibt keine Ruhe und sie gibt kein wohliges Gefühl von Geborgenheit in Gott. Dies sind alles Punkte, die motivieren könnten, an Gott zu glauben. Job realisiert dagegen, dass es mit dem allen im Glauben nicht weit her ist und dies bestenfalls Vorstufen auf dem Glaubensweg sein können. „Alles Gebetsleben (bis in Mystik und grad in Mystik hinein) ist insoweit echte Form religiöser Erfahrung, als alle Nähe oder gar Erfahrung der ‚Liebe‘ sich ernüchtert in die ‚je immer größere‘ Ehrfurcht in die ‚je immer größere‘ Ferne hinüber: daß aller ‚heiliger Tausch und Traum‘ auch ‚geistlicher Sinne‘ und alls ‚mystischen Gewißheiten und Aufträge und Sendungen‘ je immer mehr verdämmern und verstieben in die ‚heilige Kühle‘ des augenlosen, ohrlosen, rastlosen, ‚Geschehe dein Wille‘, - der ‚je immer größeren Unähnlichkeit‘ zu allem ‚Innewerden‘.“ (Przywara 1996: 330f.)
Wie hart und unverständlich das Wort Gottes dasteht und darin trotzdem als Auftrag an den Menschen nicht verschoben werden kann und einfach angenommen werden muss, beschreibt auch Jesaja (55, 8-11): „Denn nicht sind meine Pläne wie eure Pläne und nicht wie eure Wege sind meine Wege, spricht der Herr:/ sondern so, wie der Himmel entfernt von der Erde ist, so fern ist mein Weg von euren Wegen und sind eure Gedanken von meinem Denken./ Denn ebenso wie der Regen oder Schnee vom Himmel niedergeht, er gewiss nicht zurückkehrt, ehe er nicht die Erde reichlich getränkt hat und Saat keimen macht und sprießen lässt und Samen gibt den Säenden, und Brot zur Speise,/ so wird mein Wort sein, das, wenn es aus meinem Mund herausgeht, gewiss nicht umkehrt, bis alles vollendet wird, was ich gewollt habe, und ich deine Wege und meine Gebote zum Erfolg geführt habe.“
Job realisiert, dass es keinen Sinn macht sich zu verteidigen, da er noch nicht einmal weiß, für was er sich zu verantworten hat. Er ist einfach in die Nacht geschmissen, in der er wie Kafka vor dem Schloß oder im Prozess kauert. Er merkt nur, dass sich ihm sein Leben immer weiter entzieht. Dass Gottes Wort einfach dasteht, unveränderter und auch unverständlich in seinem Sinn. Nur - „dein Wille geschehe“!
Für den weiteren „Pilgerweg“ von Job ist es aber wichtig, dass er sich nicht komplett aufgibt und sein ganzes Weltbild zu einer trivialen Maschine wird (da hat er sich gegenüber Bildad schon gewehrt). Sondern Jobs Weg kann verstanden werden als die Realisierung einer Analogia Entis (Przywara 1996). Hierfür kann das Beispiel einer musikalischen Fuge ein gutes Bild liefern. Damit wäre dann der Wille Gottes der Themeneinsatz (Dux, von lat. „Führer“) in einer Fuge. Die Melodie wird damit durch Gott vorgegeben und steht für das ganze Stück fest und kann als Grundlage nicht geändert werden, sondern nur variiert und eingesetzt werden. Zur Dux gesellt sich dann der Mensch mit seiner zweiten Stimme (als Comes, von lat. „Gefährte“), der das Thema aufgreift, aber versetzt und abgewandelt vorträgt, um gleichzeitig die Tonart zu wahren. In verschiedenen Durchführungen kann so das vorgegebene Thema von verschiedenen Stimmen aufgegriffen und in anderen Tonarten umgesetzt werden.
Zwar gilt heute die Fuge in der Musik als veraltet, aber dennoch gilt sie als Nachweis von besonderen kompositorischen Fähigkeiten (insofern teilt sie das Schicksal des Gebets, da dieses auch als veraltet gilt). Meister der Fuge war sicher Bach und hier zeigt sich dann auch, dass die Fuge eben keine triviale Maschine ist, sondern bei einer entsprechenden Beherrschung zur höchsten Freiheit führen kann. Denn keine Musik ist so gebunden und gleichzeitig so frei, wie die Musik von Bach. Und nicht umsonst können auch unreligiöse Menschen hierin etwas Göttliches wahrnehmen.
Im folgenden soll dies das Grundverständnis dienen, auf dem Job mit Gott ringt. Gott setzt das Thema (Dux) und Job lernt es anzunehmen und langsam aufzugreifen (Comes). Vom Prinzip ähnelt dies auch dem Konzept der Theodramatik bei Hans Urs von Balthasar, allerdings ist die Analogia Entis eine deutlich grundlegendere Form ähnlich wie die Laws of Form von George Spencer Brown (1969).
10. Fortsetzung Jobs Antwort
Gebeugt ist meine Seele,
Stöhnend überlasse ich ihm meine Worte,
Redend, weil umfangen von der Bitterkeit meiner Seele,
Und ich ersuche den Herrn: Lehre mich nicht, unfromm zu werden!
Und warum hast du mich so gerichtet?
Oder ist es gut für dich, wenn ich im Unrecht bin,
Dass ich herausgehalten bin aus dem Werk deiner Hände,
Übergeben dem Rat der Gottlosen?
Beobachtest du, wie jemand aus Fleisch schaut,
Oder beobachtest wie eine Mensch schaut?
Ist dein Leben so wie das eines Menschen,
Oder deine Jahre wie die eines Mannes?
Denn gesucht hast du meine Gesetzlosigkeit
Und meine Sünde erforscht.
So weißt du, dass ich nicht unfromm bin,
Aber wer ist es, der mich aus dieser Hand herausnimmt?
Dabei habe mich deine Hände geformt und geschaffen,
Aber danach hast du dich umgedreht und mich verworfen.
Erinnere dich, das du mich aus Lehm geformt hast,
Und jetzt gibst du mich der Erde zurück.
Oder wie vergossene Milch,
Die nicht zum Käse wird.
Mit Haut und Fleisch hast du mich versehen,
Und zusammengefügt mit Knochen und Sehnen.
Und Leben und Barmherzigkeit gabst du mir bei,
Und schaust und bewachtest den Geist bei mir.
Aber dies alles gründet in dir, du bestimmst dies,
Oder greifst auch nicht ein.
Denn als ich sündigte, bewachtest du mich,
Da ich gesetzlos war, hast du mich nicht von der Schuld befreit.
Wenn ich unfromm war, Schande über mich,
Fühle ich mich gerecht, so kann ich nicht aufschauen,
Denn ich bin voller Unehre.
Gefangen bin ich wie ein Löwe vor der Schlachtung,
Und du wendest dich ab, verwirfst mich als nichts.
Denn du stellst mich erneut auf die Probe,
Dein wuchtiger Zorn ergeht an mir,
Um mich zu versuchen.
Warum hast du mich aus dem Mutterschoß hervorgebracht,
und warum bin ich dann nicht sofort gestorben,
Dann wäre nie ein Bild von mir gesehen worden.
Und ich wäre wie jemand, den es nie gab?
Warum habe ich denn nicht direkt das Grab
gegen den Mutterschoß getauscht?
Ist nicht kurz die Zeit meines Lebens,
Ist darin nicht eine kleine Pause,
Bevor ich dahin aufbreche, wovon ich nicht mehr umkehre,
Zur Erde, der dunklen und finsteren,
Zur Erde, in die ewige Dunkelheit, wo kein Licht ist,
Und kein Leben von Fleisch zu sehen ist.
Es ist auch interessant auf die Redesituation zu achten und darauf, wen Job mit seiner Rede und manchmal auch seinem Monolog adressiert. So verweigert er sich am Anfang dem Gespräch und er sitzt mit seinen Freunden eine Woche schweigend zusammen. Dann lässt er sich auf die Argumente und Einordnungen seiner Freunde aber auch seiner Frau ein. Job antwortet ihnen zwar auf ihre Anfragen und Vorhaltungen, aber es wird oft in seinen Antworten deutlich, dass diese Fragen weitgehend nicht „seine“ Fragen sind, dass dies nicht das ist, was ihn beschäftigt. Und so driftet seine Rede auch immer wieder von den Freunden als Adressaten ab und er scheint dann mehr einen Monolog zu führen und sich selber seine Fragen vorzulegen und explizit zu machen. Er übt eine Parrhesia gegenüber sich selbst.
Aber im Verlaufe des Buches verschiebt sich auch dies immer mehr, denn eigentlich kann er sich diese Fragen gar nicht selber beantworten (und die Freunde noch viel weniger). Und um so offener er wird, um so mehr er sich in der Parrhesia einübt, um so klarer ihm seine Fragen werden, und um so klarer ihm sein Schicksal, sein Leid, seine Zerrissenheit wird, desto mehr legt er sich dies nicht mehr selber vor, sondern Gott.
„Ijob sprach nicht zu, sondern über Gott. Bereits mit der zweiten Rede änder sich das: Ijob klagt nicht mehr nur über Gott (6, 4-9), sondern auch zu Gott (7,7). In dieser Wende von einem Sprechen über Gott zu einem Sprechen zu Gott liegt ein Schlüssel zum Verständnis des Buches und des in ihm verhandelten Problems. […] Die Freund Ijobs sprechen ausschließlich über Gott. Was sie sagen, ist wahr und über weite Strecken Ausdruck einer großartigen Theologie. Aber der Sprung von einem Sprechen über Gott zu einem Sprechen zu Gott kommt ihnen nicht in den Sinn. Sie haben, so scheint es, auch keinen Grund dazu. Ihnen geht es gut. So ist Ijob, der in seinem Leid von Gott geschlagen zu sein scheint, in Wahrheit auf einen Weg geworfen, der von ihm immer mehr als ein Weg angenommen und begangen wird, der ihn zu Gott führt, zu einem Gott, denn er allerdings noch nicht kennt.“ (Schwienhorst-Schönberg 2007: 61f.)
Was Job zu tragen hat, ist viel zu groß für ihn. Aber dies liegt gar nicht so sehr in seinem leidvollen Schicksal. Vielmehr bringt ihn sein Schicksal „nur“ dazu, sich diese letzten Fragen zu stellen. So geht es gar nicht primär um Jobs besonders schweres Leid, sondern um das sich frei Aussprechen vor Gott. Und in diesem Aussprechen auf die ganzen Aporien unseres Lebens zu stoßen. Zu realisieren, wie klein wird sind und wie wenig wir durchblicken und wie fragil eigentlich der Boden ist, auf dem wir glauben sicher zu stehen (denn in jedem Moment kann durch Tod oder Trennung dies alles ins Wanken kommen und sich auflösen). Diese Fragen können wir eigentlich nur verdrängen, auf einer immanenten Ebene (bestenfalls kann man für alles eine Versicherung abschließen und bekommt dann Geld ausgezahlt, aber ist dies nicht eine der größten Illusionen? Welche Summe ist denn angemessen etwa für die Missbrauchsopfer in der Kirche? Aber gesellschaftlich ist dies offensichtlich die einzige Währung die wir noch haben, zwischenmenschlich sieht dies noch einmal manchmal anders aus).
Die Parrhesia ist Jobs Weg zu Gott. Sein Gebet ist damit so gar keine Doxologie. Es gibt sicher auch Lob und Preis in Job für Gott und Job wird sicher auch formale Gebet in seinem Gebet mit Gott verwenden. Aber in erster Linie spricht er sich frei vor ihm aus. Unverstellt und nackt; schreiend, weinend, verständnislos, und so gar nicht pietätvoll; Gott anklagend, und dies wieder zurückziehend; Fragen stellend, und die Fragen als unzulänglich erkennen; Gott nicht verstehen zu können, und indem er dies vor Gott äußert, dann doch auf sehr eigentümliche und tiefe Weise seine Nähe zu spüren…
Im Buch Job geht es damit gar nicht so sehr um einen Mann, der ein schweres Schicksal erleidet, indem er sein Eigentum und seine Kinder verliert und mit schwerer Krankheit geschlagen wird (was so auch besser in den Panorama-Teil der Zeitung passen würde und nicht in die Bibel). Auch nicht um jemanden der Gerechtigkeit vor und von Gott einfordert. Sondern um jemanden, der über diesen Weg seines Schicksals und dass dies mit keinerlei Vorstellung von Gerechtigkeit zusammenpasst dahin kommt, dass all unser menschliches Fragen und Antworten, wenn es an grundlegende Fragen kommt, scheitert, zerbricht, leer ist… Johannes Chrysostomos schreibt in seinem Kommentar zu Abschnitt 10, 10-12: „Deswegen beschreibt Hiob im Einzelnen die Erschaffung des Menschen, um anzudeuten: ‚Nachdem du mich aus dem Nichts erschaffen hast, läßt du mich jetzt unbeachtet?‘ Er will andeuten, daß der Mensch ein Nichts ist.“ (Chrysostomos 1990: 101)
Gerade da wo es wichtig und existentiell wird, haben wir keine Worte und kein Verstehen. Für Job zerbrechen immer mehr alle Maßstäbe, die er hatte und die ihm ein sicheres und anerkanntes und gutes Leben ermöglicht haben. Jetzt merkt er, dass dies alles Illusion und menschliche Konstruktion ist. Wenn man dies als sein Unglück ansieht und nicht, dass ihm Leid widerfahren ist und er mit der nicht realisierten Gerechtigkeit hadert, kann man einem modernen Kommentar zustimmen (Schwienhorst-Schönberg 2007: 64), dass Job eine allgemein menschlich existentielle Situation ausspricht, so „dass im Unglück, das Ijob widerfährt, die Not eines jeden Menschenlebens zum Vorschein kommt. Aus christlicher Sicht scheint es sich bei dieser Not um eine der individuellen Schuld des Menschen vorausliegende Bestimmung zu handeln, die ihn von Gott trennt.“ Und man möchte hier hinzufügen, dass Job nicht nur von Gott getrennt ist, sondern auch von sich selber. Er hat keinen Grund mehr, auf dem er steht und von dem er sich selber noch zugänglich wäre, von dem aus er sein Leben einordnen kann. „In der theologischen Tradition sprechen wir von der ‚Erbsünde‘ oder der ‚Ursünde‘ - ein durchaus nicht unmissverständlicher Begriff.“ Denn ich hier lapidar und ganz ohne moralischen Ballast als „draw a distinction“ verstehen würde (Spencer Brown 1969) und was im weiteren Verlauf wieder aufgegriffen wird. „Das Alte Testament kennt diesen Begriff [der Erbsünde] nicht. Es weiß aber sehr wohl um die Not einer den Menschen auf unbegreifliche Weise treffende Gottesferne (vgl. 23, 8-9).“ Diese Gottesferne und das jedes Verstehen letztlich zerbricht, liegt in jedem Menschen. Dies kann man verdrängen oder man kann sich wie Job hier immer weiter hineingraben. Der moderne christliche Kommentator hält diese Gottesferne aber keinen einzigen Satz weiter aus, so dass er, wie aus dem Nichts und ohne eine textliche Grundlage an dieser Stelle dafür zu haben, hinterherschicken muss, dass die Botschaft „zumal die des Ijobbuches, ist eine frohe Botschaft.“ (Schwienhorst-Schönberg 2007: 64) Auch hier wird wieder deutlich wie Kirche heute kaum ihren eigenen Gott aushält, sondern lieber immer direkt dies mit Dogmatik zukleistert. Da wundert es nicht, dass die Botschaft der Kirche so oft als wenig authentisch wahrgenommen wird. Ingeborg Bachmann hat mal gesagt, dass „die Wahrheit den Menschen zumutbar ist“. Vielleicht sollte die Kirche sich dies auch mal zu Herzen nehmen und sich eingestehen, dass die Gottesferne und der Abgrund unserer selbst, den Menschen zumutbar ist. Zumal es ja selbst viele Heilige gibt, die sehr umfänglich diese Gottesferne erfahren haben und eben genau daraus auch gelebt und ihre Kraft gezogen haben.
Für Kapitel 10 gilt also: „Wieder wendet sich Ijjob von der Auseinandersetzung mit den Freunden zum Sprechen mit Gott“ (Stier 1954: 285). Er kommt so vor Gott, wie er ist, gar nicht zurecht gemacht für den Sonntagsgottesdienst und mit Verdiensten geschmückt, sondern ganz nackt und gebeugt. Und es ist auch keine zurechtgelegte Rede, die schöne Versatzstücke zum Lob Gottes zusammenbastelt, er ist kein Benedikt, sondern Job, ein wahrer Mensch, der unverstellt, ausgestoßen von der Gesellschaft und deren Wertmaßstäben und Erklärungsversuchen, vor Gott tritt. Er redet einfach direkt aus dem Leid seines Herzens heraus, unüberlegt, er überlässt seine Worte, die in ihm ganz von selbst aufsteigen ohne Zensur Gott. Hier gibt es keine biedere Ehrfurcht oder Pietät mehr vor Gott, aber dafür eine unverstellte Beziehung.
Aber was da aus Job aufsteigt, was sein innerster Wunsch ist, dass ist nicht, dass Gott den status quo ante wiederherstellt. Meist wird seine Bitte übersetzt mit, „sprich mich nicht schuldig“. Aber zumindest die Septuaginta ist da nicht so festgelegt. Denn ein Freispruch wäre wieder eine gesellschaftlich-moralische Kategorie, die Job aber an dieser Stelle schon weit hinter sich gelassen hat.
Denn das Buch Job ist in seinem Verlauf eher eine Art Striptease von Job. Am Anfang ist er noch toll angezogen mit Besitz und Ehre und diese werden ihm immer mehr genommen bzw. nachdem ihm alle Äußerlichkeiten genommen wurden, legt er auch noch selber alle inneren Wertvorstellungen und Verstehenskonstrukte ab, weil nichts ihm eine tragfähige Antwort auf seine Situation und sein Empfinden liefern kann. Und ähnlich wie bei einem Striptease sieht auch Job echter und anziehender aus, um so mehr er die schicken, aber halt auch fremden und verdeckenden Klamotten ablegt.
Job hat alle Konzepte abgeklopft, ob diese wirklich tragfähig sind in seiner Situation. Keines hat dies überstanden, das einzige woran er festhält ist, dass er sich an Gott wendet. Den er zwar immer weniger versteht, aber der für ihn eigentlich der einzige „Halt“ oder besser Ausrichtung noch ist. Auch wenn es sich wie ein Fallen in den Abgrund und ein Griff ins Nichts anfühlt. Was Job Gott hier bittet ist gar nicht ein Wiederherstellung, von dem was er vorher weder materielle noch moralisch besass. Job ist hier ganz feinfühlig, so dass er merkt, dass er viel oder fast alles hat fallenlassen müssen. Was er nicht fallenlassen darf, ist sein Gottesbezug! Dies ist die feine Schranke, die der Nihilismus überfährt - und dann in diese tiefste Einsamkeit eines Egos fällt, die Freiheit verspricht, aber nur aussichtslose Ohnmacht ist. Denn einsam ist Job nicht.
Job bittet deshalb Gott, dass er aus Verzweiflung eben nicht unfromm werde, dass seine Situation ihn eben nicht lehrt, dass alles Nichts ist und dass er alles hinschmeißt. Dies ist dieser feine Grat auf den Job abbiegt, der alle Moral und Dogmatik eines kirchlichen Glaubens zerschmettert hat und trotzdem nicht dem Nihilismus verfällt. Ein äußerst riskantes Spiel, was Gott hier mit Job spielt… aber was er wohl mit jedem spielt, der sich ihm wirklich nähern möchte: Lehre mich nicht, unfromm zu werden.
Aber Job begreift noch nicht wirklich, worum es in diesem Spiel auf Leben und Tod geht. Denn er fragt sich und Gott, warum er so gerichtet wird. Brauch Gott dies zu seiner Unterhaltung oder damit er als Gott die Menschen erst verstehen kann? Ist Jesus Mensch geworden, dass Gott versteht wie ein Mensch so „tickt“? Wohl kaum.
„Doch hat sich Ijjob in der neuen Wirklichkeit, in der er sich, des verständlichen Gottes bereits verlustig, befindet, noch nicht eingefunden, denn er versteht seine Lage nur darum nicht, weil er sich an den verständlichen Gott und sein Verständnis wendet.“ (Stier 1954: 282) Job muss weiter diese Fragen stellen, warum ihm dies geschieht. Aber er ist jetzt so weit, dass er merkt, dass diese Fragen alle hohl sind und keine Antwort haben können. Das diese Fragen und Konstruktionen gute Hilfsmittel im Alltag sind und diesen strukturieren. Aber auf die Frage nach uns selbst, keine Antworten geben können. Aber er fragt weiter danach: er betont aufrichtig seine Frömmigkeit und sein Festhalten an Gott und fragt gleichzeitig wer ihn aus der Hand befreien kann. Aber dies ist hier schon doppeldeutig: denn hier scheint immer mehr durch, dass es nicht die Hand ist, die ihm seine Kinder genommen hat und ihm die Krankheiten auferlegt hat. Sondern der viel härtere Griff, aus dem Job sich befreien muss ist, Gott und sich selber begreifen zu wollen. Das ist der eigentlich Griff, aus dem sich Job befreien muss. Aber das kann er nur selber und er begreift noch nicht, dass ihm hierbei keiner helfen kann: Aber wer ist es, der mich aus dieser Hand herausnimmt?
Job wundert sich dann, wie Gott so etwas wundervolles wie den Menschen schafft und sich dann von ihm abwendet. Er schafft den Menschen aus Lehm, bläst ihn seinen Geist ein, schenkt ihm somit ganz zärtlich Leben und Barmherzigkeit - und wendet sich dann von ihm ab, lässt ihn allein in seiner Freiheit. Es ist wie, wenn Milch gemolken wird, daraus aber kein Käse mehr gemacht wird, sondern sie nur verschüttet oder sauer wird. Und man muss zugeben, dass Job hier wirklich einen Punkt hat, so dass Babys eigentlich durchgängig als liebenswert wahrgenommen werden und umso älter der Mensch wird, desto stärker nimmt dies durchschnittlich ab. Vielleicht weil ein Baby noch ganz Bezug ist, so gar nicht selbständig, so ohne Hintergedanken seine Bedürfnisse „aussprechend“ - Parrhesia. Und auch noch so basal auf das wichtigste konzentriert: Liebe und Ernährung. Dies verlieren wir oft immer mehr, indem die Suche nach Liebe zum Hecheln nach Anerkennung wird und Ernährung beim Imbiss und möglichst billig stattfindet. Und klar gibt es große und liebenswerte erwachsene Menschen, aber hier wohl dann auch nach zwei Polen: die einen die anerkannt sind (wie die Stars und Sternchen in den unterschiedlichen Branchen) und Menschen, die meist wie Job einmal durch die Hölle gegangen sind, und dann wieder zu einer Art Baby-Zustand zurückgefunden haben… sozusagen die konfessionslosen Bodhisattvas (vgl. hierzu auch (Leighton 2021)).
Aber diese Abwendung Gottes von seinem Menschen ist durchaus zwiespältig. So umsorgt er den Menschen zwar nicht mehr, wie bei seiner Erschaffung, sondern entlässt ihn in seine Freiheit. Aber er wendet sich ihm doch zu und bewacht ihn genau, in dem was er tut und wohl insbesondere bei der Sünde. Gott hat mich also weiter im Blick, aber eben wohl so gar nicht mehr mit einem liebenden Blick wie in der Schöpfung, sondern mit einem bewertenden Blick, nur darauf aus, unsere Fehltritte zu dokumentieren. So dass man so gar nicht mehr die Möglichkeit hat, offen zu ihm zu schauen, weil man eigentlich nur vor Scham vergehen kann. Der Mensch ist auf diese Weise wie ein Löwe vor der Schlachtung. Einst stolz und stark und schön, aber jetzt eingesperrt und in Ketten (der eigenen Verfehlungen) und jede Hoffnung hat sich von ihm abgewendet, denn ist der Löwe (resp. der Mensch) einmal gefangen und in der Maschinerie des Menschen (resp. Gottes) drin, so gibt es hier kein Entrinnen, weil sie überlegen und ausgeklügelt ist, hier bringt die ganze Kraft des Löwen nichts mehr, die in freier Natur ihn so überlegen macht. Job fragt sich oder klagt eher Gott an, ob er mit seinen Geschöpfen genauso verfährt wie die antiken Herrscher in ihren „venationes“, indem sie Tiere zur Belustigung in der Arena zu Tode hetzten.
Job fühlt sich so unendlich in die Ecke gedrängt, da er ohne Ausweg dasteht, und Gott sich immer weiter an ihm mit seinem Zorn ergeht. Aber eigentlich hat Gott bzw. der Diabolos nun gar nichts mehr getan. Es gab keinen neuen Schlag. Aber Job wird dies so empfinden, denn er realisiert erst in Wellen, dass er seinen Besitz und seine Kinder verloren hat, dass er krank und ausgestoßen ist, dass seine Denkkategorien und Wertmaßstäbe nicht mehr greifen und zählen… dies hat zwar Gott alles in schnellen Schlägen längst zerstört, aber dies ist so gewaltig, dass dies bei Job erst in kleinen Schritten ankommt, er realisiert es erst Schritt für Schritt… und jeder Schritt, sich dies zuzugeben, ist eine erneute Prüfung… „And he himself, he is dead, I know now. I now can say - though always in a whisper - 'The boy is dead.' I understand, almost, the meaning of the sounds: the boy is dead. I recognise these words as holding truth: he is dead. I know. Yes, I admit it: he is dead. But his death - it swells, abates, fulminates. Unquiet, unquiet is his death. So unquiet…“ (Grossman 2014: 68)
Job spürt wie immer mehr die Welt über ihm zusammenbricht und wie immer mehr der Abgrund ihn verschlingt, in jeden Winkel seines Körpers schleicht und überall durch seinen Geist weht. Ein langsames und leises Kollabieren, was gleichzeitig so unendlich laut in diesem Schweigen ist. Das, was er jetzt erlebt ist so abgründig finster und schrecklich, dass er sich wieder wünscht nie geboren worden zu sein. Er will alles auslöschen von seiner Existenz, er will noch nicht einmal mehr das Gute in seinem Leben haben - und Job hatte nach menschlichen Maßstäben alles, was man im Leben erreichen kann. All dies wünscht er sich weg, weil nichts diesen Abgrund aufwiegt und er merkt, dass dieser Abgrund auch in seinen „guten Tagen“ da gewesen ist. Ganz nah. Nur hat er ihn mit Gedankenkonstruktionen und gesellschaftlichen Beschäftigungen geschickt verdeckt - so wie die meisten anderen auch.
Job sieht nur noch die finstere, dunkle Erde, in die er bald zurückkehrt… Aber nicht ganz, noch hat Job immer noch nicht ganz aufgegeben, ein wenig Hoffnung ist noch da… denn er bittet Gott, angesichts der Perspektive, zur toten Erde zurückzukehren und dass das Leben kurz ist, noch um eine Pause. Man ist etwas irritiert und weiß nicht ob man lachen oder bitterlich um Job weinen soll. Denn was will er denn in der Pause machen?… und wie kann eine Pause aussehen?…kann er einfach alles auf einmal ausblenden?… will er noch mal kurz ein Eis essen gehen und sich ein Jazz-Konzert anhören? Job stehen wohl doch noch einige weiteren Stufen für den Abstieg bevor… er ist so unglaublich, was er alles erleidet und dennoch weiter kämpft, und nicht tot zu bekommen ist… aber vielleicht ist genau das der Grund, warum er so leiden und warum er so tief hinabsteigen muss…
11. Erste Ansprache durch Sophar
Entgegnend sagte Sophar, der Minäer,
Der viel redet, soll seinerseits zuhören,
Oder glaubt der, der viel redet, dadurch auch gerecht zu sein?
Gepriesen ist eher der, der weiß, dass er durch eine Frau geboren wurde.
Nicht viele Worte sollst du machen,
Denn niemand ist gegen dich.
Denn du kannst nicht behaupten, dass du rein in deinen Werken bist,
Und alles offen liegt vor Ihm.
Oder spricht der Herr etwas anders zu dir?
Denn er wird seine Lippen vor dir öffnen.
Dann wird er dir verkünden die Macht der Weisheit,
So dass er doppelt überragt alle anderen!
Und letztlich wirst du dann erkennen, dass du gesündigt hast vor dem Herrn.
Wirst du die Spur des Herrn finden,
Oder bist du beim Letzten angekommen, was der Allherrscher geschaffen hat?
Denn hoch ist der Himmel, wie willst du daran gelangen?
Und Tief ist die Hölle. Was kann man davon wissen?
Viel größer als die Maßstäbe dieser Erde,
Und tiefer als das Meer.
Wenn Er dies alles aber umwirft, wer sollte Ihn befragen: Warum hast du dies gemacht?
Denn Er kennt die Werke der Gesetzlosen,
Sieht die das Nicht-passende, dies übergeht er nicht.
Anders ein Mensch, der ja nicht in Worten schwimmt,
Der nur Sterblicher, von einer Frau geboren und wie ein Einsiedler ist.
Wenn du dein Herz offen vor Ihn stellst,
Deine Hände sich suchend zu ihm erheben,
Sollst du alles Ungesetzliche in deinen Händen,
weit weg tuen von dir,
Und alles Ungerechte soll nicht bei dir zuhause sein.
Denn so wirst du leuchten, dass dein Gesicht klar wie Wasser ist,
Und deine Not geht unter und du fürchtest dich nicht mehr.
Und deine Mühen werden aufgehoben,
Wie eine Welle die verebbt ohne ein Erschrecken.
Und dein Segen sei wie aufsteigendes Licht,
Und aus der Mitte heraus wird dir Leben zurückgegeben.
So vertraust du darauf, dass für dich Hoffnung ist,
Womit aus der Sorge und dem Kummer dir Friede erscheint.
Denn so wirst du ruhig werden und niemand wird dich bedrängen,
Umkehren werden viele und dich um Vergebung bitten.
Von ihnen aber hat sich Rettung abgewandt,
Denn sie haben die Hoffnung verloren,
Ihre Augen schauen nur noch Erschrecken.
Nun antwortet auch der letzte Freund. Und der Exeget erkennt darin: „Zofar redet keineswegs an Ijob vorbei. Er geht sehr wohl auf das von Ijob Gesagte ein, indem er ihn sachlich korrekt zitiert“ (Schwienhorst-Schönberg 2017: 65). Aber ist das wirklich so? Reicht es, wenn man einen Satz aus einer Rede korrekt zitiert, um auf jemanden einzugehen? Oder redet nicht auch Sophar genauso wie die beiden anderen Freunde komplett an Job vorbei? Haben die drei nicht ihr theologisches Konzept, wie Gott und die Welt zu sein hat? Und wenden dieses auf alles an, was ihnen unterkommt?
Für Job ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten. So könnte er durchaus auf die Freunde eingehen, seine Situation durch ihre Weisheitslehre „framen“ lassen. Dann wäre dies alles eingeordnet und Job (oder das was dann noch von ihm übrig ist) wäre fest in ein externes Korsett gepfercht, was ihm Stabilität gibt, um dadurch durchs Leben zu kommen. Bei vielen Menschen ist dies vermutlich richtig und vielen Bereichen muss dies jeder Mensch auch so machen. Aber ist dies für Job in dieser Situation eine Option? Eher kommt die Assoziation, dass in diesem Korsett Job sich bewegt wie Frankenstein in frühen Stummfilmen oder eine Marionette, die im falschen Theaterstück mitspielt.
Und genau deswegen verstehen die Freunde ihn halt so falsch. Zwar sind sie nicht böswillig gegen ihn, aber sie Spielen einfach in einem ganz anderen Spiel. Job benötigt keine externe Antwort zur Einordnung (genauso wenig sollte die Kirche immer mit der Auferstehungs-Keule und der frohen Botschaft kommen). Denn so richtig vieles davon ist, was die Freunde (und die Kirche) sagen, so unpassend ist es an dieser Stelle.
Job braucht Empathie - und keine Antworten. Von den Freunden weiß er schon, dass sie ihm beides nicht geben können. Von Gott hofft er dies aber weiterhin. Aber genau dies ist das fundamentale Missverständnis zwischen Job und den Freunden, wo dem wissenschaftlichen Exegeten dann auch widersprochen werden soll. Und dieses Missverständnis beginnt bei der Intention die Sophar der Rede Jobs unterstellt. Sophar geht davon aus, dass Job viel redet, um sich reinzuwaschen und rauszureden. Hier zeigt sich dann durchaus die Weisheit von Sophar, da es ein bekanntes Phänomen ist, das Leute gerade dann viel reden, wenn sie nichts zu sagen haben oder Fragen ausweichen wollen. Dies hat Sophar als Prinzip durchschaut, allein es passt nicht auf Job. Hier wird wieder (ein kluges und richtiges) Konzept übergestülpt, ohne die Situation zu beachten.
Job redet aber nicht in erster Linie, um sich zu rechtfertigen, sondern um sich auszusprechen oder besser um sich auszuweinen und auszukotzen. Was sozusagen ein ausgeweitetes Verständnis der griechischen Parrhesia wäre. Hier ist erstmal auch kein Trost oder Einordnung nötig, sondern bestenfalls einfach nur ein offenes Ohr, schweigend. Und dies wäre für die Freunde vermutlich viel schwerer auszuhalten, als mit Sprüchen von vermeintlich tröstender Weisheit zu antworten. Denn es gibt hier keine Antworten. Und auch wenn wir so gepolt sind, auf jede Frage eine Antwort finden zu müssen, darf man dies nicht mechanisch einschnappen lassen, da hier selbst eine sehr kluge Antwort falscher ist, als die Frage einfach so stehen zu lassen und auszuhalten. Was vermutlich auf die meisten Sinnfragen zutrifft und diese Aporien unseres Lebens nie aufgelöst werden. Die Frage, warum eine Liebe zerbrach, wird nie eine Antwort erhalten! Die Frage, warum ein Kind sterben musste, wird nie eine Erklärung erhalten! Man kann dies Verdrängen und zum nächsten Lebensabschnitt übergehen, das Grab verwildern lassen, womit es sich gut einpasst in die anderen verwilderten Kindergräber. Respektive man sucht sich nach einer zerbrochenen Liebe die nächste Beziehung, da ja genügend Menschen auf der Suche nach der Liebe sind. Oder man zerbricht daran. Aber vielleicht gibt es hier dann doch den Mittelweg, da sich unser eigentliches Menschsein gerade aus diesen Aporien und unserer Zerbrechlichkeit entwickelt. Und klar werden Gestalten wie Alexander der Große, Napoleon oder Putin gesellschaftlich bewundert, aber letztlich sind es kleine Männer gewesen (und werden gerade von ebensolchen bewundert).
Aber finden wir Menschlichkeit nicht gerade im Gegenteil? Eben im so gar nicht Triumphalen und im Erfolg. So zeigen gerade die beiden „göttlichen Gestalten“ Jesus und Buddha den menschlichen Kern bzw. das menschliche Herz darin, dass sie verletzlich sind und in diese Aporien geraten, die sie nicht lösen in einer fertigen Antwort, sondern auf eine ganz eigentümliche Weise aufgehoben werden - am Kreuz oder unterm Bodhibaum. Aber dies gilt auch für alle weiteren wirklich „menschlichen“ Gestalten, so dass uns Werther, Hyperion oder Romeo und Julia beeindrucken, weil sie sich hoffnungslos verstricken in ihrer Liebe. Oder Odysseus, Dante, Hans Castrop oder Wyatt Gwyon, die sich auf die Pilgerreise machen und existentielle Fragen aufwerfen, ohne darauf ausreichende Antworten zu finden und einfach diese Fragen stehen lassen, aushalten, weitergehen.
Sophars Weisheit, dass man nicht alles mit viel Gerede überdecken soll, geht hierbei sogar in etwa in die gleiche Richtung und auch dass man eher bescheiden darauf sich besinnen soll, dass man nicht von göttlicher Abstammung ist und somit himmlisches Wissen hätte, sondern durch eine Frau geboren wurde. Und man sich deswegen darauf bescheiden sollte, wenige Worte zu machen, über das wenige was man weiß.
Und Sophar schließt seine Einleitung damit, dass die Freunde ja nicht gegen Job sind, sondern nur Gutes für ihn wollen. Aber dies geht alles an Job vorbei, sie leben auf verschiedenen Planeten. Sicher wollen sie nur das Beste für ihn, aber sie sind gar nicht in der Lage Job da abzuholen, wo er ist. Und Job selber ist über ihren Standpunkt längst weit hinaus. Er ist selber, durch die Schläge gegen ihn, so stark geworden, auch wenn man dies vielleicht nicht so sieht, aber das er ein Exo-Skelett an externer Moral und Weisheit nicht mehr gebrauchen kann. Da passt er nicht mehr rein. Außerdem macht Job nicht viele Worte, um sich rauszureden, sondern um sich selber freizulegen und Macht- und Denkstrukturen in sich zu aufzubrechen, sich nicht mehr durch fremde oder überflüssige Konstruktionen bestimmen zu lassen. So wird er immer mehr zu einem Mann der wenigen Worten, der immer mehr merkt, dass es keine Antworten gibt, sondern nur Hinweise in ein so unendlich tiefes Geheimnis. Und dieses Geheimnis ist erstmal so gar nicht verortbar und auch nicht verstehbar, sondern erschließt sich erst ganz tief im Leiden, wo eben die Hohlheit von allem was wir als wichtig erachteten sichtbar wird.
Auch das Weitere, was Sophar sagt, ist nicht falsch und würde Job auch nicht grundsätzlich verneinen und dennoch sind es Antworten in einem anderen Spiel. Es ist etwa so, als wenn man Nietzsche Aphorismen nur als psychologische Einsichten und Kalendersprüche liest. Natürlich hat Nietzsche damit auch auf dieser Ebene Recht und gibt tiefe Einblicke in das Leben, aber dahinter liegt noch eine weitere Ebene, die eben seine Philosophie ist und in die jeder einzelnen Aphorismus eingeordnet werden muss und dazu ein Mosaikteil ist. Damit diese psychologische und lebensweisheitliche Lesart ist nicht falsch als Einstieg, aber man muss darüber hinauskommen. Man muss den Sprung in Nietzsches Philosophie schaffen. Dies ist in etwa auch der Unterschied zwischen Job und seinen Freunden.
So auch für Sophar, der auf einer moralisch-theologischen Ebene bleibt, wo Job bereits mitten im Sprung zum Glauben ist. Und da ist jede Theologie eben nur noch Stroh, wie Thomas von Aquin dies am Ende seines Lebens erfahren und formuliert hat. Wir schauen Job dabei eigentlich mitten im Sprung zu, er wird von Gott und dem Diabolos in diesen Sprung gestoßen. Und vielleicht ist es wirklich so, dass man von selbst nie den Mut hätte zu springen. Diesen Sprung ins Nichts und Bodenlosen. In einen Bereich, wo nichts mehr hält und trägt, was bisher Sicherheit gegeben hat. Aber ist es wirklich nichts? Klar sieht es für Job zunächst danach aus, als ob alles zerbrechen würde. Aber seine Freunde liegen mit ihren Positionen auch im Sprung nicht ganz falsch, nur das Job nun schon das andere Ufer sichtet… jiedie, jiedie… wie das Herz-Sutra aufmuntert und in dieses Geheimnis hineinwinkt…
Denn das Job in seinem Leben untadelig ist, ist eben auch falsch. Natürlich hat er Fehler gemacht und gesündigt, war blind oder schwach in bestimmten Situationen, ist süchtig geworden und ist gefallen, hat sich verliebt, gegen gesellschaftlichen Normen, hat geträumt, was nicht sein darf… Hier ist Job ganz Mensch, wie jeder andere Mensch auch. Seine sprichwörtliche Frömmigkeit besteht nicht darin, dass er ein besonderer Tugendbold, oder Moral-Meister wäre, sondern dass er sich dies selbst und Gott frei zugänglich macht und sich eingesteht. Und diese Freiheit und Offenheit vor Gott zeigt sich jetzt in aller Konsequenz in Jobs jetziger Situation. Er spricht frei vor Gott, wer er ist (Parrhesia). Ordnet nichts in eine Dogmatik ein, was sein darf und was nicht, was er empfinden darf und was nicht… sondern er lässt alles in sich aufsteigen und bringt es vor Gott und sich selbst. Legt es ihm vor, weinend, kreischend, flehend, blutend, kotzend… liegt nackt vor ihm, so wie er ist. Nichts versteckt er. Und in all dem spürt er die Nähe Gottes - aber Gott schweigt!
Aber irgendwo liegt Sophar auch mit seiner Position richtig, dass Gott vor uns seine Lippen öffnen wird und dann die ganze Macht seiner Weisheit über uns ergeht, die alles andere unendlich überragt und wir bis zum letzten erkennen, dass wir gesündigt haben und im Grunde unseres Wesens eigentlich Nichts sind. (Der christliche Dogmatiker wird hier direkt intervenieren und sagen: ja, aber auch unendlich geliebt! Darauf würde ich antworten: steht hier aber noch nicht und es braucht diesen Weg, den Job geht, um dies überhaupt zu realisieren. Und dafür gibt es keine dogmatischen Abkürzungen.)
Außerdem ist Job viel näher an Gottes Selbstmitteilung, als Sophar. Denn Gottes Schweigen ist diese überragende Macht der Weisheit und nicht angelesen Theologie. Job ist in diesem harten Griff des Schweigens Gottes gefangen und kommt dort auch nicht mehr heraus. Und die theologischen Einordnungen seiner Freunde helfen ihm tatsächlich in der Hinsicht, dass er realisiert, dass diese alles nichts ist, nur hohles Halbwissen, aber Mittel, die zur Hinführung durchaus nützlich sind. Aber als Mittel eben auch irgendwann zurück- und liegengelassen werden müssen und nicht als Zweck in sich selbst gesetzt werden dürfen.
Paulus schreibt in dieser Richtung: „Jetzt sehen wir nur in einen verschmutzten Spiegel - dann aber von Blick zu Blick. Jetzt sehe ich nur Splitter, dann aber werde ich erkennen, wie ich gesehen werde (von Ihm)“ (1. Kor 13, 12) Der Spiegel ist auch im Zen ein beliebtes Motiv, so dass man diesen von allem Dreck und letztlich auch Staub säubern muss, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Aber dieser Spiegel ist erstmal über und über bemalt, mit Werten, Konstruktionen, Theorien etc. Zunächst sehen wir nur die Bemalungen und zwischendurch zeigt sich manchmal dann noch eine Spiegelung. Und sicher brauchen wir diese Konstruktionen um leben zu können. Vielleicht macht es Sinn ein Lächeln auf den Spiegel zu malen, um die eigene Stimmung zu heben… und dann ist dieses gemalte Lächeln richtig, weil es etwas Richtiges bewirkt. Aber irgendwann muss es auch weggewischt werden. Aber interessanterweise bleibt Paulus hier gar nicht beim säubern des Spiegels stehen, sondern überwindet den Spiegel ganz, indem er zum direkten Blickkontakt zu Gott kommt - eine sehr gefährliche Situation, wie wir von Moses wissen… und gleichzeitig auch sehr intim, im Blickkontakt mit Gott zu sein.
Das Verständnis von Paulus nimmt damit die gleich Wendung, wie die entscheidende Pointe des wichtigsten chinesischen Zen Patriarchen Huineng (638-713). Huineng ist Mönch im Kloster des 5. Patriarchen Hongren, der die Mönche auffordert ein Gatha über ihr Verständnis des Zen zu verfassen und danach würde er seine Nachfolge bestimmen. Der „Präfekt der Glaubenskongregation“ im Kloster verfasst darauf hin das folgende Gatha: „The Body is the tree of englightenment,/ The mind is like a clear mirror-stand./ Polish it diligently time and again,/ Not letting it gather dust.“ (Cleary 2001c: 10). In Rom wäre dies allerdings schon ein sehr erleuchtetes Gatha, weil es bereits die Dogmatik vom Spiegel wegwischt. Im China der großen klassischen Tang-Zeit ist allerdings dies bereits schon Dogmatik geworden. Und Hunineng merkt dies sehr feinfühlig und wandelt diese Verse ab und „korrigiert“ sie: „Enlightenment originally has no tree,/ And a clear mirror is not on an stand./ Originally there’s not a single thing -/ Where can dust be attracted?“ (Cleary 2001c: 12)
Paulus hat wie Huineng diesen Sprung vollzogen, und spürt in sich diesen Blick Gottes, der auf das gleiche hinausläuft, was der Zen-Mönch unter „Kong“ (空, Leere) versteht. Allerdings wird dieser Sprung in der Geschichte von Huineng deutlicher vollzogen bzw. es wird sichtbarer, welcher Zwischenschritt mit dem säubern und befreien des Spiegel gemacht werden muss, um aber selbst dies auch nur als Mittel zu übersteigen.
Aber soweit ist Job noch nicht. Er ist dabei den Spiegel zu säubern, von den Konzepten, die die Freunden versuchen dauernd neu auf seinen Spiegel aufzutragen (aber Job braucht kein aufgemaltes Lächeln und genauso wenig eine Sündenzerknirschung, sondern will sich nur nackt sehen, so wie er ist). Aber Job bringt zwei wesentlich Eigenschaften mit, die ihn weiter fortschreiten lassen auf dem Weg von Paulus und Huineng: Vertrauen und Zweifel (die zwei Hauptvoraussetzungen auf dem Erleuchtungsweg (vgl. etwa Hakuin 2019)). D.h. er hat genug mutigen Zweifel, um alle Tröstungen und menschlichen Weisheiten als für sich nicht tragfähig zu erkennen und zu zerschlagen und er hat trotzdem einen so tiefen Glauben und Vertrauen in Gott, dass er weiterhin Seine Nähe spürt… in diesem Abgrund und dieser Leere. Denn Gottesschweigen ist so viel lauter, als jeder vorgefertigte Lobgesang.
Sophar fährt dann in seiner Rede fort, indem er ein Argument vorweg greift, was Gott später selber verwenden wird: nämlich seine unermessliche Größe, an die der Mensch nie heranlangt. Deus semper maior! Sophar betont, dass der Mensch niemals in der Lage sein wird, alles zu erfassen und zu verstehen, was Gott geschaffen hat. Der Mensch hat damit auch nicht die Möglichkeit mit Gott zu Rechten, weil ihm einfach die hinreichende Einsicht fehlt. Für Sophar ist dieses Argument in dem Sinne auf Job übertragbar, dass Job nicht von sich aus seine Unschuld gegen Gott einklagen kann, weil ihm die Einsicht fehlt. Denn so könnte man einwenden, irgendwo hat Job gesündigt, vielleicht nicht bewusst und aus Nachlässigkeit oder auch bewusst in dem Moment, aber im Nachhinein verdrängt und für Job selbst nicht zugänglich.
Aber auch dieses Argument von Sophar trifft Job nicht, sondern geht an ihm vorbei. Denn Job Rechtet nicht mit Gott, sondern er spricht sich aus vor Gott, Job öffnet sich ganz frei vor Gott wie er sich fühlt und noch mehr, durch dieses Öffnen vor Gott entdeckt er erst, wer er wirklich ist und wie er sich befreit von menschlichen Deutungsmustern fühlt. Er lässt dies alles vor Gott aus und in sich aufsteigen. Job Rechtet nicht mit Gott, sondern betreibt Parrhesia (wie bereits oben beschrieben). Alle Anklagen sind eher rhetorische Hilfsmittel, um sich auszusprechen und keine Anwendung von juristischen Paragrafen gegen Gott.
Sophar hat mit seinem Argument einen tiefen und wichtigen Punkt aufgegriffen, nur dass er damit nicht Job trifft, sondern sich selber. Es ist eher ein Boomerang. Sophar ist eher wie der Narzisst, der seinen ganzen Mitmenschen einen narzistische Störung vorwirft oder der Querdenker, der allen gesellschaftlichen Institutionen Lüge bezichtigt, aber selbst für seine Positionen viel weniger wissenschaftlich, evidenzbasierte Fakten und Einordnungen vorlegen kann. Die Paradoxie bei Sophar geht aber noch weiter. Denn eigentlich müsste er durch sein Argument, des immer größeren Gottes, die eigene theologische Aussagekraft relativieren. Aber sein Argument ist zunächst einmal absolut richtig, hier legt Sophar eine tiefe theologische Wahrheit offen dar. Nur er verwendet sie falsch! Denn er verwendet sie, um jemand anderen, in diesem Falle Job, zu reglementieren und ihn zurecht zu weisen. In diesem Sinne ist er in seinem Wesen ein hervorragender kirchlicher Theologe.
Job hat dagegen die gleiche Einsicht in die Unendlichkeit und Übermacht Gottes. Nur dass er diese nicht theologisiert, sondern versucht in seiner Existenz zu realisieren. Er setzt sich dem aus und spürt wie er vor Gott immer mehr zum Nichts vergeht. Das Realisieren bedeutet bei Job, dass er die Ohnmacht erlebt, dass alles Hab und Gut auf Erden vergänglich ist, das eigene Leben in jedem Moment von Krankheit und Tod bedroht ist….und dass alle Erklärungsversuche hierfür nur menschliche Hilfskonstrukte sind, die letztlich nicht tragen und in sich kollabieren, wenn man dies soweit treibt und hinterfragt wie dies Job tut. Dies bedeutet für Job das „Deus semper Maier“ zu realisieren. Und dies muss immer in neuen Wellen geschehen, ist vermutlich nie abgeschlossen, aber Job steht noch am Anfang dieses Prozesses, so dass dieses Thema immer wieder neu aufgegriffen wird, bis es zuletzt selbst von Gott vor Job ausgebreitet wird.
Zum Abschluss seiner Rede findet Sophar sehr schöne und passende Worte, wie man sich durch seine Einstellung vor Gott sozusagen das Heil zugänglich machen kann bzw. sich darauf vorbereiten kann, für dieses Geschenk. Aber auch hier kann man zwei verschiedene Lesarten sehen. So kann ein reines Herz bedeuten, dass man ein tugendhaftes Leben geführt hat, aber selbst Sophar hat schon festgestellt, dass es ein unbeflecktes Menschenleben nicht geben kann. Aber καθαρός kann neben rein und unbefleckt auch versöhnlich, offen, leer bedeuten.
Damit kann es zum einen so verstanden werden, dass man vor Gott mit einer Lebensbilanz tritt und er dann die guten und schlechten Taten abwägt und dann kommt man halt in den Himmel oder die Hölle. Für mich erscheint dies von vorne bis hinten unplausibel und auch Job muss bis zur Bitterkeit schmecken, dass dies nicht stimmt. So radikal wird dies heute nicht mehr oft vertreten, aber gemilderte Spielarten sind durchaus noch normal.
Zum anderen kann man es so verstehen, dass es um eine Haltung vor Gott geht. Die um die Verfehlungen im Leben weiß, die im Leben gefallen und wieder aufgestanden ist, um nur erneut mit dem eigenen Dickkopf gegen Betonwände zu laufen. Aber zumindest war in diesem Dickkopf eine Person drin (eine nicht-triviale Maschine im Sinne von Heinz von Foerster) und nicht nur ein streberhafter Schwiegersohn, der alles so macht wie man es erwartet und die Augenweide von jedem ist, aber eben keine Person, sondern nur die Erwartungen erfüllt, die an ihn gestellt werden (also ein triviale Maschine). Unsere Gesellschaft und Erziehung ist definitiv auf letztere angelegt. Jesus hat sich aber so gar nicht an die Streber gewandt. Er hat die Sünder und die Gefallenen gesucht.
Aber indem Jesus die Sünder gesucht hat, war es vielleicht gar nicht primär seine Intention aus allen Schwiegersöhne zu machen. Wie soll dies auch gehen, wenn jemand sein ganzes Leben auf Abwegen unterwegs war? Aber μετάνοια, also die Umkehr zu der er aufruft, kann nicht nur die Umkehr ins bürgerliche Leben bedeuten, sondern eine Haltung vor Gott, die sich öffnet. Die immer wieder sich vom eigenen sich durchsetzenden Ich hin zu Gott wendet und dies mit einem offenen und suchenden Herzen.
Als Resultat dieser reinen, offenen Hinkehr zu Gott beschreibt Sophar in wunderschönen Worten diese Offenheit. Dies mag man gar nicht kommentieren, sondern einfach nur immer wieder lesen, um so die Aussicht und die eigenen Hoffnung zu nähern. Hier schöpft er schon aus einer langen Tradition und Glaubensfundus, von Menschen die diesen Weg schon beschritten habe und Worte hierfür in sich aufsteigen haben lassen.
Allerdings muss man feststellen, dass Job schon mit einer solchen offenen Haltung sich an Gott wendet. Und das von Sophar beschrieben Resultat stellt sich eben so gar nicht ein. Aber vielleicht ist Job noch immer nicht tief genug in sich hinabgestiegen… Vielleicht hat er die Selbsterkenntnis noch nicht erlangt, um offen vor Gott zu treten… Vielleicht ist diese Offenheit viel umfangreicher, als nicht bewusst zu lügen… Vielleicht sind wir vor Gott so viel mehr als unser bewusstes Ich… und müssen erst auf einem langen Weg uns aufmachen zu unserem Selbst… ein Weg durch den Abgrund und die Dunkelheit, um erst so tatsächlich ein Verhältnis und eine Hinkehr zu Gott ganz tief in uns zu spüren…
12. Jobs Antwort auf Sophar
Entgegnend sagte Job:
Ihr seid so menschlich,
Und führt auch nur so die Weisheit aus.
Aber auch ich habe ein schwaches Herz wie ihr.
Denn ein gerechter und untadeliger Mann ist geworden zum Spott.
Zu einer passend gesetzten Zeit fiel er heraus aus den anderen,
Ebenso sein Haus ging an die Gesetzlosen.
Aber es ist nicht so, dass die, die Schlechtes tun, darauf vertrauen dürfen unschuldig zu sein,
Und gerade so den Zorn des Herrn provozieren,
Denn letztlich werden auch sie es offenlegen.
Doch beobachte die Vierfüßler, was sie berichten,
die Vögel des Himmels, was sie verkünden.
Lass offenbaren die Erde, was sie vorträgt,
Und aussprechen die Fische des Meeres,
Wer hat nicht in all diesen Dingen erkannt,
Dass die Hand des Herrn diese geschaffen hat?
Sind nicht in seiner Hand die Seelen aller Lebewesen,
Und der Geist eines jeden Menschen?
Das Ohr vernimmt nur die Worte,
Aber verarbeitet werden muss erst die Nahrung.
Zwar braucht lange Zeit die Weisheit,
Und braucht langes Leben das Wissen -
Aber Weisheit und Kraft kommen von Ihm,
Von ihm kommt erst Rat und Einsicht.
Was er zerstört, wer soll es aufbauen?
Was er dem Menschen verschließt, wer soll es zugänglich machen?
Wenn er das Wasser zurückhält, dann verdorrt die Erde,
Wenn er sie loslässt, dann stürzt Zerstörung auf sie.
Bei ihm sind Gewalt und Stärke,
Er hat Wissen und Verstand.
Er hält gefangen die Ratgeber,
Die Richter der Erde setzt er ab.
Er setzt Könige auf Throne,
Und bindet Gürtel um ihre Hüften,.
Er sendet die Priester in die Gefangenschaft,
Die Mächtigen der Erde schmeißt er um.
Er verkehrt die Lippen der Frommen,
Erkennt die Gedanken der Ältesten.
Er schüttet Unehre auf die Anführer,
Niedrige aber heilt er.
Enthüllt das Tiefe aus der Finsternis,
Bringt das Licht in den Schatten des Todes.
Er hat Völker geschaffen und sie befreit,
Vernichtet Völker und verwirrt ihren Weg.
Er verändert die Herzen der Anführer der Erde,
Lässt sie umherirren auf ihrem Weg, ohne dass sie dies merken.
Sie schauen nur Finsternis und kein Licht,
Irren umher wie Betrunkene.
Nun antwortet Job und legt die beiden Ebenen frei, die die Freunde nicht unterscheiden können. Denn Job ist kein Spielstein in einem menschlichen Spiel, sondern unversehens direkt in das göttliche Spiel hineingeraten - wo er gnadenlos in seinem menschlichen Ich verbrennt.
Was die Freunde sagen, ist damit nicht direkt falsch und auf diese Weise will Job sie auch gar nicht widerlegen. Denn sie vertreten eine Weisheit, wo man sich von den meisten Menschen nur wünschen würde, dass sie eine solche Haltung zum Leben und Zusammenleben hätten. Und auch Job selber teilt dies und versteht menschliche Weisheit so. Aber der Schauplatz für Jobs Kampf befindet sich genau auf diesem Übergang, dem übertritt von der menschlichen Weisheit in das göttliche Spiel (was immer tödlich ist). Job steht mit seinem Denken noch ganz in einer menschlichen Weisheit, allerdings steht er nicht mehr so selbstsicher wie seine Freunde darin, sondern merkt wie diese zerbröckelt, wenn Gott einmal daran fast. Sieht wie alle menschliche Weisheit nur Heuristik ist, selbst bis in die heutige Wissenschaft hinein (kritischer Rationalismus).
Job realisiert immer mehr den Abgrund, der in uns ist und den wir meist sehr geschickt mit menschlicher Weisheit und allen anderen Errungenschaften der Zivilisation überdecken. Allerdings verschwindet er dadurch nicht, denn der eigene Tod und der von geliebten Menschen verschwindet nicht, genauso wenig Schicksalsschläge, wie dies Job erleidet. So viel wir zivilisatorisch auch über die Jahrhunderte errungen haben, so wenig oder besser desto mehr haben wir verlernt mit diesem Abgrund zu leben. Der eigene Tod soll schnell sein und möglichst wenig mitbekommen werden. Der Tod der anderen wird trivialisiert und skandalisiert in Krimis und Panorama und damit nah geholt, aber auf Distanz gebracht. Eigentlich ist die einzige Möglichkeit, die wir uns gesellschaftlich Verfügung stellen (selbst durch die Kirchen), Verdrängung.
Denn selbst das Christentum hat mittlerweile in weiten Teilen eine solche Strategie: die Auferstehung. Aber ist die Auferstehung eine Verlängerung oder zweite Halbzeit des bisherigen Lebens? Und ist dies die Strategie, mit dem Abgrund und der Unzugänglichkeit und dem Nicht-Verstehen des Todes umzugehen, indem man sagt, ach, ist alles Unfug, es geht einfach weiter, nur besser? Denn das kann der allmächtige Vater: Aber eigentlich sagte er dies nirgends und als Lieblingszitat wird immer Apk 21,5 gebracht: ἰδοὺ καινὰ ποιῶ πάντα (also: „Siehe, ich mache alles neu“). Aber hier steht ja nicht, ich mache dich wieder fit für eine Verlängerung, sondern ich mache ALLES neu, d.h. wir haben keinerlei Möglichkeit hier mit unseren Denkkategorien weiter anzuschließen.
Ein schönes Beispiel für die menschliche Weisheit, die mit der göttlichen kollidiert und diese ersetzt oder überschreibt, ist der Eintrag „Auferstehung des Fleisches“ in der zweiten Auflage des Lexikon für Theologie und Kirche, der in den dogmatischen Teilen im Jahr 1957 von einem jungen Theologen namens Ratzinger verantwortet wird. So schiebt er diesem Beitrag die „Lehre der Kirche“ vorweg (anders als bei der Auferstehung Christi, wo mit dem Neuen Testament begonnen wird). So weiß der Dogmatiker von vornherein: „Als theol. Schlussfolgerung im Rang einer (nicht definierten) veritas catholica ergibt sich daraus die Unsterblichkeit u. Unverwüstlichkeit aller Auferstehungsleiber; ferner die grundsätzliche Gleichzeitigkeit der Auferstehung für alle“. Als offener und mit einer normalen Textkritik versehener Leser wundert man sich über diese Selbstsicherheit erstmal und denkt sich, dass dies die Methode des Dogma im schlechtesten Sinne ist. Und total in die Absurdität wird dies getrieben, wenn man direkt den nächsten Satz liest, von seinem Kollegen vom Alten Testament: „Das AT kennt infolge seiner besonderen Auffassung v. Tod u. Leben den Auferstehungsglaube nur in wenigen späten Zeugnissen, deren Erklärung wegen der Verbindung v. Bild u. Wirklichkeit oft stark kontrovers ist.“ Für den Dogmatiker ist dagegen jede Kontroverse abgeschnitten. Und auch der Kollege vom Neuen Testament hat wenig Belege anzuführen, außer Ansätze bei Paulus. Bei Paulus wäre aber dann die Frage, was er damit meint, denn oft scheint es so, dass Paulus viel verstehbarer wird, wenn man ihn liest wie einen Zen-Meister, der nicht von einem physischen Paradies spricht, sondern vom „großen Tod“, der aber eben hier mitten in dieser Welt stattfindet und eben dadurch auch das Königreich Gottes hier und jetzt anbrechen lässt.
Ratzinger und viele andere Theologen vertreten in diesem Kontext eher eine menschliche Weisheit, wie sie Jobs Freunde repräsentieren. Die nicht unbedingt deswegen falsch sein muss, aber die etwas vollkommen anderes ist, als Jobs Ringen mit Gott. Während menschliche Weisheit zum Glasperlenspiel, Dogmatismus und Borniertheit neigt, geht es bei Job gar nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um den nackten Kampf auf Leben und Tod.
Auch für Job ist die menschliche Weisheit der Ausgangspunkt und er versucht immer noch vergeblich seine Situation in diesen Kategorien einzuordnen, „denn ein gerechter und untadeliger Mann ist geworden zum Spott.“ Aber umso mehr er menschliche Weisheits-Kategorien auf sich anwendet, realisiert er langsam, dass dadurch seine Situation nicht erklärt werden kann und dass diese Kategorien dafür zu flach sind. Sie sind hilfreich, um den menschlichen Alltag zu regeln - aber sie verschließen auch, wenn wir wirklich zu den Tiefen unseres Selbst gelangen wollen, wenn wir dem Abgrund in uns begegnen, wie dies Job widerfahren ist und langsam realisieren, dass der Abgrund in uns Gott ist, auf den nichts von menschlichen Kategorien passt und die einfach nur verbrennen müssen. Und wir letztlich realisieren, dass wir selbst nichts anderes sind als dieser Abgrund in Gott, dunkel und haltlos, an dem all unsere menschliche Weisheit zerbrechen muss und erst wenn man sich ganz darin fallen hat lassen, ohne Hoffnung, ohne Erwartung, sterbend, blutend… vernimmt man den Zuspruch Gottes, der dir ganz intim, nahe und leise zuflüstert: Ich will das du bist! Ich liebe dich! Du bist unendlich groß in meinen Augen!
Aber Job ist hierzu noch am Anfang seines Weges. Damit verfällt er aber keinem amoralischen Nihilismus, wo sich jeder selbst am Nächsten ist. Sondern die Taten eines Menschen werden eben gerade hier radikal offen gelegt, nur dass die Bewertungsmaßstäbe hierfür noch nicht definiert sind. Denn ein traditionelles Gutsein hilft offensichtlich nicht, um entsprechend in diesem Leben entlohnt zu werden. Und warum sollte dies nach meinem Tod anders sein? Job hat nichts mehr in den Händen, er kann nicht seine guten Taten auf die Wage legen, sie zählen offensichtlich nicht mehr, denn er sitzt trotz allem in der größten Scheiße und es geht ihm so viel schlechter als so vielen mörderischen Herrschern. Job steht nackt da. Selbst seine Freunde hat er verloren, weil sie ihn nicht mehr verstehen, leben auf der Ebene der menschlichen Weisheit, die Job verlassen hat.
Das einzige was Job noch hat, ist sein Leben. Aber ist es „sein“ Leben? Realisiert er nicht gerade, dass dieses ihm mit einem Handstreich genommen werden kann? Und was ist schon ein Leben wert? Offensichtlich nichts, wenn Gott dies als Spieleinsatz verwendet und damit die ganze Achtlosigkeit eines Spieles dort hineinbringt. Und doch ist es so viel… jedes einzelne Leben! Der Mensch schätzt sein eigenes Leben so unendlich hoch, viel wichtiger als fast alles andere. Und doch ist Leben das banalste überhaupt und wenn wir uns umschauen wimmelt es überall von Leben: die Fliege auf meinem Schreibtisch, die aufsprießenden Keimlinge im Frühling, aus denen das Gemüse im Sommer wächst, das einsetzende Vogelgezwitscher am Morgen… ein so sinnloses Treiben von Leben und Sterben, wie Job selbst… und doch, wenn man richtig hinhört, gerade darin unendlich schön und tief, weil uns darin der Geist Gottes entgegen weht. Aber dieser Geist ist eben ganz leise, so dass wir ihn nur selten hören und wahrnehmen. Gerade weil er so geschickt verbaut wird durch unsere menschliche Weisheit.
Aber Job fängt an dies wieder zu hören. Zwar zerbrechen all seine Erklärungen und Weisheiten, aber er ahnt und realisiert immer mehr, dass alles durch Gott geschaffen wurde und aus allem sein Geist weht. Verstehen tut er es deswegen noch langen nicht. Und das einzige was Job nun noch hat, ist sein nacktes Leben. Aber er nimmt immer mehr wahr, dass „sein“ Leben nicht sein Besitz ist, sondern ein Geschenk. Ein Geschenk was Liebe und Verbundenheit ausdrückt, was eine innige Beziehung zwischen dem Beschenkten und dem Schenkenden ausdrückt. Und dies auch, wenn man es dem Objekt gar nicht ansieht, sondern dies mitunter nur die beiden an dem Geschenk beteiligten wissen, dass dies ein Geschenk ist und kein bloßer Gebrauchsgegenstand. So kann eine Teekanne ein guter Gebrauchsgegenstand sein, aber sie kann als Geschenk auch noch so viel mehr sein… und zerbricht diese Kanne, zerbricht eine ganze Welt, die in diesem Gegenstand mitvorhanden war. Gleichzeitig zerbricht mit dem Gegenstand nicht die Beziehung, sondern besteht weiter.
Martin Buber schreibt zur Wahrheit die Gott eröffnet folgendes: „Die Propheten Israels haben nie den Gott angesagt, auf den die Sicherheitssucht ihrer Hörer rechnete; sie sind je und je darauf ausgegangen, alle Sicherheit zu zerschlagen und im aufgerissenen Abgrund der letzten Unsicherheit den unerwünschten Gott zu verkünden, der dass Wirklichere seiner Menschengeschöpfe, ihr Menschwerden von ihnen erheischt und alle, die in die Sicherheit ausweichen zu können vermeinen, daß der Tempel Gottes bei ihnen ist, zuschande macht.“ (Buber 1962: 557) Es ist einfach ein so ganz anderer Glaube, als die vielen Wertkonservativen, die durch ihren Glauben zu wissen vermeinen, was richtig und was falsch ist. Aber es ist auch eine Absage an alle, die davon ausgehen, dass sie qua eigenem Denken sich die Welt erschließen und verstehen können.
Job verwendet dafür das Bild, dass das Ohr jedes Wort vernehmen und unterscheiden kann, aber die eigentliche Verarbeitung und das Verstehen woanders passiert. Wie bei der Nahrung, die erst im Mund (resp. Ohr) aufgenommen werden muss und dort vorbereitet wird, aber die eigentliche Verarbeitung findet im Magen statt (resp. Kopf-Herz-Bauch). Menschliche Weisheit liegt damit nur auf der Ebene des Mundes/Ohres, die vorbereiten kann. Sie ist notwendig, aber kann nur eine Vorstufe sein. Ich kann unendlich lange etwas im Mund zerkauen, aber letztlich muss ich es runterschlucken und es verschwinden lassen, damit es mich nährt (so wie der Samen in der Erde sterben muss, um neues Leben zu ermöglichen). Und der Prozess des Verdauens ist dann auch meiner bewussten Kontrolle entzogen, er funktioniert von selbst, aber er funktioniert auch in der Regel sehr verlässlich.
Und so verhält es sich auch auch mit Weisheit und Wissen, so dass der Mensch lange braucht, um diese zu erlangen. „Zwar braucht lange Zeit die Weisheit,/ Und braucht langes Leben das Wissen -/ Aber Weisheit und Kraft kommen von Ihm,/ Von ihm kommt erst Rat und Einsicht.“ Aber er darf dabei nicht stehen bleiben, bei seinen eigenen Aktivitäten. Manchmal kommen einem die Gescheiten dieser Welt vor wie kleine Kinder, die sich dadurch als toll beweisen, was sie sich alles in den Mund gestopft bekommen haben an Essen (und dies ist tatsächlich manchmal beeindruckend ;-)) und einem dauernd zeigen, was da alles drin ist. Aber sie haben noch gar nicht verstanden, dass es hier nicht um eine Show geht, sondern um Ernährung. Sie wollen gar nicht runterschlucken und dadurch, dass sie so vollgestopft sind, können sie es auch gar nicht mehr.
Was bei Kindern schon nur begrenzt lustig ist, sollte bei Erwachsenen eigentlich nur das Kotzen hervorrufen. Aber genau so ist offensichtlich unsere Wissensgesellschaft gebaut. Und wer kennt nicht aus dem Studium, die vielen Professoren und Doktoranden, die viel wussten, aber als Menschen mehr als problematisch waren. Aber eben auch einige wenige, die meist noch mehr wussten, aber gar kein Aufsehen darum gemacht haben und einfach beeindruckende Persönlichkeiten waren.
Dies erinnert an Deshan Xuanjian (德山宣鑒, japanisch Tokusan, 780/2-865), einem Gelehrten des Diamant-Stura, der erst von seiner Gelehrsamkeit befreit werden musste, um dann aber der Vorfahren von gleich zwei wichtigen Schulen der „Fünf Häuser“ im Zen zu werden. Es sei hier recht ausführlich seine Geschichte mit dem Kommentar von Dogen Zenji zitiert aus dem Kapitel „Shin fukatoku“:
„Zen Master Zenkan Tokusan once said, “I have mastered the Diamond Sūtra. My understanding of Seiryuji’s commentary is without equal. I am the Supreme Master of interpreting this sūtra.” Tokusan also wrote twelve volumes of commentary on the Diamond Sūtra and the profundity of his lectures was unsurpassed. He was the greatest scholar of his era, and the last Zen priest who advocated the supremacy of the scriptures.
Once he heard that there was a famous master in the south who transmitted the True Law. Tokusan became jealous and decided to go and test this master’s knowledge on the scriptures. He took along his many volumes of commentary and notes. On the way he heard that there was going to be a Zen sesshin held by the famous master Sōshin Ryūtan. He headed towards the temple, but before he reached it he sat down for a brief rest. Soon, a very old woman came along and stopped to rest beside him.
Tokusan asked her, “Who are you?”
“I am a rice cake seller,” she answered.
“Good, I’d like to buy some,” he said.
“What for?” she asked.
“I’m hungry and would like a small meal,” he replied.
Then the old woman said, “Tell me, Honourable Priest, what’s in your bag?”
Tokusan told her, “Have you ever heard of the Master of Masters of the Diamond Sūtra? I am the world’s greatest scholar on that sūtra. I know everything there is to know about it. In this bag I have my commentaries.”
Hearing this the old woman said, “I have a question. Will you permit me to ask it?”
He replied, “All right, ask me whatever you want.”
She then said, “A long time ago I heard someone chanting the Diamond Sūtra. I especially remember the verse, ‘Mind cannot be grasped in the past, present, or future.’ If you buy a rice cake with what mind do you eat it with? If you can answer I will sell you one; if not, you must go hungry.”4-EN
Tokusan was too surprised to say anything. Consequently, the old woman brushed herself off and went her way leaving Tokusan empty handed.
It is truly regrettable that such a great Buddhist scholar, who studied thousands of volumes of commentary and for many years explained their theories, could not answer an old woman’s simple question. There is a big difference between acquiring knowledge through books and acquiring knowledge through experience. For the first time Tokusan learned, much to his chagrin, that a painting of a rice cake cannot satisfy hunger. Later on, Tokusan became a disciple of Zen master Ryūtan and transmitted the True Law, but even then he probably thought about the old woman with dread. Anyway, after years of study Tokusan had failed to accomplish the true Buddhist Wisdom – he was far from enlightened.
However, we should not simply laugh at Tokusan and praise the old woman. Even though she made Tokusan look foolish, we cannot be sure she herself was enlightened. Since Tokusan was not yet the real Tokusan [i.e., enlightened] he had no ability to evaluate her understanding. Furthermore, she did not answer her own question; if she had we could be certain that she was enlightened. Perhaps she thought those lines from the Diamond Sūtra meant that if Mind cannot be grasped it does not exist. “Unless a person speaks the truth, he is not enlightened,” is a saying that can be applied to the old woman. On the other hand, Tokusan was guilty of bragging about his own knowledge.
Let us reconstruct this story putting ourselves in Tokusan’s place. When the old woman asked her question Tokusan should have said, “Then don’t sell it to me!” or something like that. If he had it would have been clear that he was enlightened or at least possessed a very good understanding.
Conversely, if Tokusan said, “I don’t know. What mind do we use to eat a rice cake?” the old woman should answer, “Your mind is too preoccupied with the rice cake; you don’t know that your mind contains the rice cake. The mind itself doesn’t know what to take for a small meal.” If Tokusan did not understand, and surely he would not, the old woman should offer him three rice cakes and say, “Our Mind cannot be grasped in the past, present, or future!” When Tokusan reached for the cakes she should pick one up and hit him with it and shout: “You stupid priest! Stop being an idiot!” If Tokusan gave a good reply she could have been satisfied that he learned his lesson. If not, she should have tried to explain further. In the original story, however, she left him there and showed no intention of guiding him to the truth. Also, Tokusan did not say, “I cannot answer, old woman; please tell me what to say.” Neither Tokusan nor the old woman showed any real understanding in the original dialogue. This is a very sorry situation.
Tokusan’s situation continued long afterwards. He studied more and more under Ryūtan, coming in contact for the first time with true Buddhist teaching, but did not attain great enlightenment until one evening when he was walking down a dark corridor and Ryūtan suddenly blew out his candle. Preparation for enlightenment is long, but it finally comes suddenly, as if by chance. But do not think that such an insignificant event is merely an accident.
To transmit the Law, you must be diligent, earnest, and humble in your study of the Buddhist Way. Do not be lazy! Do not avoid hardship. Hardship is necessary for advancement. This is true for all Buddhist study. Do not seek to define your mind. Trying to grasp the mind is like trying to eat a painting of a rice cake.“ (Übersetzung von Nishiyama, vgl. auch Dogen 2013: 251ff.)
Die Geschichte von Deshan (auf japanisch Tokusan) hilft sehr gut, die Passage in Jobs Rede zu erläutern. So wird Deshan schmerzlich deutlich, dass Wissen und Gelehrsamkeit nicht alles ist, nicht Zweck, sondern nur ein Mittel sind. So dass man Reiskuchen toll malen und wissenschaftlich und poetisch beschreiben kann oder unendlich den Geschmack im Mund genießen kann, aber der Reiskuchen muss runtergeschluckt werden und verschwinden, um zu nähren.
Aber Deshan zeigt auch, dass Wissen nicht nutzlos ist und das Streben danach und die damit verbundenen Bemühungen und Anstrengungen nicht umsonst sind. Denn sie schaffen die notwendige Voraussetzung für alles Folgende. Und auf diesen Punkt macht Dogen sehr nachdrücklich aufmerksam. Denn auch wenn Deshan alle seine gelehrsamen Kommentare des Diamant-Sutra hinter sich lassen muss, war dies nicht umsonst. Zwar erlangt er Erleuchtung in einem Augenblick und dies bezeichnenderweise auch nicht über die Meditation einer philosophischen Sachverhaltes, sondern ganz praktisch beim Ausblasen einer Kerze. Aber für diesen Augenblick hat er den Weg dahin benötigt und hat dorthin auch seine Kommentararbeit gebraucht… ansonsten wäre die ausgeblasene Kerze, so belanglos und schnell vergessen wie so viele alltägliche Verrichtungen.
Dieses Verhältnis von Wissen und dieses Wissen zu übersteigen, stellt Masao Abe in eher theoretischen Worten noch einmal dar: „It is clear that Zen is not a philosophy. It is beyond words and intellect and is not, as in the case of philosophy, a study of the processes governing thought and conduct, nor a theory of principles or laws that regulate people and the universe. For the realisation of Zen, practice is absolutely necessary. Nevertheless, Zen is neither a mere anti-intellectualism nor a cheap intuitism nor is it an encouragement to animal-like spontaneity. Rather, it embraces a profound philosophy. Although intellectual understanding cannot be a substitute for Zen's awakening, practice without a proper and legitimate form of intellectual understanding is often misleading.“ (Abe 1989: 4)
Vor diesem Hintergrund erschließen sich erst wirklich die Zeilen von Job: „Zwar braucht lange Zeit die Weisheit,/ Und braucht langes Leben das Wissen -/ Aber Weisheit und Kraft kommen von Ihm,/ Von ihm kommt erst Rat und Einsicht.“ Job ist auch an der Stelle wie Deshan nach der Begegnung mit der Alten. Er sieht sein Wertesystem zerbröckeln, ahnt aber, dass dieses eigentlich auch nur das Wesentliche und das viel Tiefere verdeckt, aber er hat noch keinen direkten Zugang dazu. Jobs Kerze ist an dieser Stelle noch nicht ausgeblasen. Job hat wie Deshan noch einen langen Weg und Abstieg vor sich, dem ihn keiner abnehmen kann und den er weiter gehen muss. Bis er sich soweit vorbereitet hat, dass er in der Lage ist, das Geschenk von Gott, wahren Rat und Einsicht zu erlangen, annehmen zu können.
Aber auch wenn Deshan sich auf sein Erleuchtungsereignis vorbereitet hat, er darf es nicht erwarten oder fordern. Und es steht ihm auch nicht zu und er hat es sich auch nicht verdient. „Was er dem Menschen verschließt, wer soll es zugänglich machen?“ sagt Job. Deshan und Job kommen damit in einen Bereich wo ihre Selbstwirksamkeit radikal an ihre Grenzen stößt, wo sie eine radikale Ohnmacht ihres Ichs verspüren. Wo sie eigentlich nichts tun können, aber ihr ganzes Leben davon abhängt. Und doch sind sie in einem hohen Maße aktiv. Vielleicht ist es die Anspannung, wie wenn man das erste Mal vom Drei-Meter-Brett springt. Eigentlich muss man auch hier nichts tun, als sich fallen zu lassen. Und trotzdem ist dies mit einer hohen Anstrengung verbunden.
Eigentlich ist es ein zermalmendes Gefühl, worin sich Job immer mehr einfühlt. Ihm ist alles genommen worden, was er sich im Leben aufgebaut hat. Und Job realisiert, dass so viele Sachen, die für uns lebenswichtig sind, für uns umverfügbar sind. Die wir jeden Tag als normal entgegennehmen, wie den Sonnenaufgang, aber die so gar nicht selbstverständlich sind und die wir selber nicht machen können. Vielleicht ist unsere Unfähigkeit dies zu denken, auch das Problem, warum wir den Klimawandel nicht ernst nehmen. Dies ist etwas, was wir als Homo Faber verloren haben. Auf der einen Seite hat man damit sehr viel erreicht. Allerdings hat man auch das sich passiv beschenken lassen verloren.
Aber Job dreht diese Ohnmacht des Menschen gegenüber Gott noch eine Windung weiter. Denn es sind nicht nur die offen für den Menschen unverfügbaren Ereignisse, in denen der Mensch seine Bedürftigkeit und Fragilität gegenüber Gott empfindet. Sondern er greift auch in die menschliche „Handlungssphäre“ ein. So dass Richter abgesetzt werden, denen eigentlich die Rechtsprechung obliegt, Könige werden von ihm eingesetzt und nicht vom Volk, Priester, die befreien sollen, werden in Gefangenschaft geworfen…so erinnert es durch die Umkehrung unserer Verhältnisse, wie „Niedere aber heilt er“, an das Magnificat (Lk 1, 46-55). Die Lesart wäre aber verkürzt und vermutlich sogar falsch, wenn man hier rauslesen möchte, dass es um die Wiedergutmachung der „Schlecht-Weggekommenen“ gehen würde, denen die Hoffnung gegeben wird, wenn nicht in diesem Leben, werdet ihr im nächsten Leben Könige, Herrscher, Tyrannen etc. sein.
Aber vielleicht kann man auch das Gegenteil von dieser Wiedergutmachung lesen, was Job hier meint und vielleicht ist Job doch ein Nietzsche-Anhänger. So schreibt Nietzsche in einer Aufzeichnung aus dem Nachlass: „ich glaube, daß die große vorwärts treibende und unaufhaltsame demokratische Bewegung Europa’s—das, was sich “Fortschritt” nennt—und ebenso schon deren Vorbereitung und moralisches Vorzeichen, das Christenthum—im Grunde nur die ungeheure instinktive Gesammt-Verschwörung der Heerde bedeutet gegen alles, was Hirt, Raubthier, Einsiedler und Cäsar ist, zu Gunsten der Erhaltung und Heraufbringung aller Schwachen, Gedrückten, Schlecht-Weggekommenen, Mittelmäßigen, Halb-Mißrathenen, als ein in die Länge gezogener, erst heimlicher, dann immer selbstbewußterer Sklaven-Aufstand gegen jede Art von Herr, zuletzt noch gegen den Begriff “Herr,” als ein Krieg auf Leben und Tod wider jede Moral, welche aus dem Schooße und Bewußtsein einer höheren stärkeren, wie gesagt herrschaftlichen Art Mensch entspringt,—einer solchen, die der Sklaverei in irgend welcher Form und unter irgend welchem Namen als ihrer Grundlage und Bedingung bedarf; ich glaube endlich, daß bisher jede Erhöhung des Typus Mensch das Werk einer aristokratischen Gesellschaft war, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubte und die Sklaverei nöthig hatte: ja daß ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschiede der Stände, aus dem beständigen Anblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf unterthänige und Werkzeuge und ihrer ebenso beständigen Übung im Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, auch jenes andre geheimnißvollere Pathos gar nicht entstehen kann, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz die “Selbst-Überwindung des Menschen,” um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen.“ (Nietzsche 1988b:72f.)
Diese Perspektive der Niederwerfung aller Herrschenden dient nicht der Genugtuung der Niederen, sondern dient eher dazu die Ohnmacht zu zeigen, die bereits gegenüber unverfügbaren Phänomenen wie dem Sonnenaufgang sichtbar wurden. Nun ist es allerdings so, dass man hierauf unterschiedlich reagieren kann. Nietzsche kritisiert das Christentum und die ihm folgende demokratisch Bewegung als Verflachung und Gleichmachung des Menschen. Hierzu muss man zunächst sagen, dass dies auch äußerst positive Bewegung waren, indem jeder Mensch als Mensch anerkannt und Wertschätzung erfährt und auch heute in einer kapitalistischen Gesellschaft das Christentum aber auch sozialdemokratische Stimmen, sich für die aus dieser Gesellschaft Ausgestoßenen ausspricht, wo dann doch all zu oft nicht jeder Mensch als Mensch zählt.
Gleichzeitig hat dies auch zur Folge, dass ein devot, langweilig-graues Christentum entstanden ist, was zu Recht die meisten Menschen heute kaum noch interessiert… und Maria 2.0 als aufmüpfige Gegenbewegung zu sehen, ist an bitterer Komik kaum zu überbieten. Aber auch außerkirchlich hat dies die Folge, dass viele Menschen sich aufgewertet fühlen, über ihre Grenzen hinaus. So dass verwundert, wie Privatmeinungen die von Querdenkern bis zu amerikanischen Präsidenten reichen, tatsächlich Ernst genommen werden. Die Ängste dahinter müssen unbedingt Ernst genommen werden und hier muss auch gehandelt werden, aber sicher nicht die Argumente. Das sind dann die Personen, die Job folgendermaßen beschreibt: „Sie schauen nur Finsternis und kein Licht,/ Irren umher wie Betrunkene.“
Und hier greift dann tatsächlich Nietzsches Kritik, der genau diesen Stillstand der Personen, die mit der Anerkennung, aller Menschen als gleich, einhergeht. Vielleicht versteht man Nietzsches Intention auch zu undifferenziert, und er gibt hier durchaus auch immer wieder für Anlass, wenn man dies als Herrschaft zwischen mächtigen Menschen gegenüber einer hörigen Herde versteht. Vielleicht ist das Pathos der Distanz auch eher eine innere Haltung zu sich selbst. So widmet das „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ dem sogar ein eigenes Lemma, wo Volker Gerhard zwar zunächst festhält, dass es Nietzsche um zwischenmenschliche Herrschaftsformen geht, aber damit noch mehr verbunden werden muss. „‚Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitet Alles vor.‘ Im Pathos ist die von Nietzsche später kritisierte Unterscheidung zwischen ‚Täter‘ und ‚Tat‘, zwischen (innerem) Motiv und (äußeren) Folgen überwunden. Das Pathos ist reine Gegenwart eines Geschehens, das gleichermaßen ‚innerlich’ wie ‚äußerlich‘ ist. Es ist unmittelbar wirksamer (leiblicher) Ausdruck eines inneren (seelischen) Zustandes.“ Denn Nietzsche spricht in dem Zitat oben ja „auch jenes andre geheimnißvollere Pathos [an, was ohne eine entsprechende zwischenmenschliche Distanz] gar nicht entstehen kann, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst“. Somit wäre die äußere Distanz eigentlich etwas, was eine innere Veränderung bewirkt und dies scheint eher Nietzsches Intention zu sein, der wie kein anderer Philosoph, weniger die Rationalität und das Zusammenleben erkundet hat, sondern die ganze Tiefe und Weit des Menschlich, Allzumenschlichen.
So schreibt Gerhard weiter: „Das ‚Ideal der Vornehmheit’ bewirkt eine Steigerung der gegebenen sozialen Distanz, […] Das Pathos der Distanz ist die auf Vergleichung beruhende Zurückweisungen aller Vergleiche; damit ist sie die individuelle Wertsetzung par excellence, in der die ‚Grundfähigkeit des Geistes: sich von sich selbst lösen können, sich gegenüber zu treten wie einem Dritten‘ [Simmel], zum höchsten Ausdruck kommt.“ Nietzsche hat damit im Blick, diese Weite und Tiefe (die Griechen würden wahrscheinlich βάθος dazu sagen) in dem Menschen selber zu erzeugen. Und dies ist dann tatsächlich ein aristokratische Perspektive, da weite Teile unseres Kulturkonsums ja auf Affirmation beruhen. Und vielleicht sind deswegen Bibellektüre, Koans oder auch Gedichte so unbeliebt, weil sie gerade dies eben nicht tun, sondern in den Abgrund stürzen.
Jobs Ausführungen, dass Gott alles umwerfen und umkehren kann, kann deswegen auch im Sinne Nietzsches gelesen werden. Denn es geht darum, sich eben nicht irgendwo einzurichten, in allem die Unbeständigkeit wahrzunehmen und das fallen in das Gegenteil. Man könnte auch sagen, dass Job hier eine Re-Entry-Party im Sinne von Spencer Brown (1969) feiert, oder besser eine Orgie, in der alle Markierungen gekreuzt werden.
Dies wird auch in einem der schönsten Verse des Buches Job ausgedrückt (13, 22): „ἀνακαλύπτων βαθέα ἐκ σκότους, ἐξήγαγεν δὲ εἰς φῶς σκιὰν θανάτου.“ D.h. „Enthüllt das Tiefe aus der Finsternis,/ Bringt das Licht in den Schatten des Todes.“ Zwischen all den Umkehrungen der Verhältnisse, die sich eher auf das Zusammenleben der Menschen beziehen, taucht dieser Vers erratisch auf. Aber auch er bedeutet eine Umkehrung der Verhältnisse, aber deutet wohl eher in die Richtung von Nietzsches „neue Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst“. Während die anderen Verse Jobs wohl noch rechtfertigen oder plausibel machen können, dass auch Job alles verloren hat, geht er hier einen Schritt weiter. Und es scheint so, dass dies Jobs Pilgerweg hier ist.
Job ahnt, dass diese Finsternis in der er sich befindet ein unermessliches Licht birgt. Dass es nicht darum geht sein Schicksal zu verstehen oder zu überwinden, um dann schnell wieder zum status quo ante zurückzukehren und ein funktionsfähiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Vielmehr lässt sich Job von der Finsternis wirklich anrühren, sie greift immer tiefer in ihn hinein. Zwar lähmt sie ihn zunächst, gleicht etwas einer Depression. Aber Job versucht gar nicht sich wieder an die Oberfläche zu kämpfen. Er lässt sich immer tiefer ziehen und lotet die Abgründe seiner eigenen Seele aus. Aber ist es nur der Abgrund seiner Seele? Oder entdeckt er nicht das ganz Andere in ihm selber wieder?
In Hölderlins „Menons Klagen um Diotima“ findet man eine ähnliche Bewegung. Hier verarbeitet Hölderlin die Trennung und Aussichtslosigkeit seiner Liebe mit Suzette Gontard. Beide lieben sich so rückhaltlos, können aber nicht zusammenleben. Suzette stirbt am 22. Juli 1802, Hölderlin wird sie 41 Jahre überleben müssen. Das Gedicht ist noch vor ihrem Tod entstanden und zeichnet so eindrucksvoll, das Leid was er durch diese Trennung trägt, aber auch ein unermessliches Licht, was ihm aus dieser Finsternis entgegen leuchtet. Gleichwohl wird gerade an Hölderlin auch deutlich, wie gefährlich dieser Weg ist, da Hölderlin Suzettes Tod nur 4 Jahre ausgehalten hat und ab 1806 in die sogenannte „Umnachtung“ gefallen ist. Aber wenn wir uns mit Albert Camus Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen können, vielleicht können wir uns auch den alten Hölderlin nicht als geisteskrank vorstellen, sondern gerade als jemand der tiefste Klarheit geschaut und realisiert hat.
„die blutenden Fettige sind ja/ Schon genesen, verjüngt leben die Hoffnungen all./ Großes zu finden ist viel ist ja noch übrig und wer so/ Liebte gehet, er muß, gehet zu Göttern die Bahn.“ Ausgehend von Hölderlins Hinweis soll nun dem nachgegangen werden, inwiefern eine tiefe Liebe zwischen Menschen, und dann das Scheitern zwar nicht der Liebe selbst, aber zumindest einer gelebten Form davon (denn Hölderlin und Suzette haben sich weiter rückhaltlos geliebt, auch nachdem sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation hingenommen haben), auf die Suche nach Gott vorbereitet bzw. ein wesentliches Fundament dafür liefert.
Für ein Verständnis von partnerschaftlicher Liebe soll hier auf die Auffassung von Luhmann zurückgegriffen werden. So versteht Luhmann nicht Verschmelzung als die Grundlage von Liebe, so dass hier in keiner Weise eine unio mystika stattfindet. Zwei Liebende werden damit nicht zu einer Person, sondern verbleiben in ihrer jeweiligen Andersheit füreinander. Aber sie synchronisieren sich in ihrer Gegenseitigkeit, was systemtheoretisch eine zwischenmenschliche Interpenetration von zwei selbstreferentiell geschlossenen Systemen bedeutet. Für Luhmann findet in der Liebe ein kontinuierlicher Bezug von Handeln und Erleben im Partner statt: d.h. alle meine Handlungen reproduziere ich parallel aus der Perspektive, dass mein Partner diese erlebt und für sich einordnen. Liebe ist damit immer eine Art Mitführen einer doppelten Perspektive.
Liebe „hat zu beachten, daß sie als Handlung des einen Systems zugleich Erleben des anderen ist, und das ist nicht nur eine äußerliche Identifikation, sondern zugleich Bedingung ihrer eigenen Reproduktion.“ (Luhmann 1982: 219) Liebe funktioniert also nur so, wenn ich mein Handeln immer aus der Perspektive des anderen mitbeobachte, was aber nicht unbedingt bedeutet, dass es immer zu gleichen Einschätzungen kommen muss, sondern auch zu Abweichungen, Überraschungen, Provokationen - und vielleicht macht dies auch gerade erst eine lebendige Liebe aus. Denn durch Abweichungen kann man noch besser darstellen, dass man den anderen mitberücksichtigt, als sich dauernd einig zu sein (was schnell sehr einfach herzustellen ist, aber genauso langweilig ist und auch eine gehörige Selbstverleugnung notwendig macht).
Abweichungen haben aber noch eine weitere Funktion, denn sie erweitern den Sinnhorizont des Partners, weil Grenzen getestet werden. Und gerade in einer Liebesbeziehung ist dies in einer sehr tiefen Ebene möglich, die sonst niemand anderes überschreiten darf: eben die Öffnung des eigenen Intimbereich für jemanden anderen. Gleichzeitig können zu starke Abweichungen auch die stärksten Verletzungen hervorrufen. Aber diese Verletzungen kommen dann eigentlich nicht aus der Abweichung, sondern entstehen nur dann, wenn darin nicht mehr die andere Perspektive mitgedacht wird, sondern ein Partner die Abweichung sozusagen als Ego-Trip nur noch aus sich selbst heraus macht und der Partner nur noch der Mitspieler dabei ist. Und dann ist man bei dem nächsten Punkt, der für die Liebe tödlich ist: die Lüge. Denn gerade hier wird dem anderen dass Miterleben der Doppelperspektive verweigert.
Somit ist Liebe meist ein sehr lustvolles Spiel, was aber auch immer eine Gefahr einer zu starken Überschreitung in sich birgt. Dies kann immer unterschiedlich stark ausgeprägt sein, aber ganz fehlen kann dies nie, da eine Indifferenz wie ein „na meinetwegen“ oder „mach wat du willst“ eine Liebe nicht tolerieren kann.
Es geht nicht in erster Linie darum, dass man sich in allem an den anderen angleicht, sondern „es geht darum, in der Welt eines anderen Sinn zu finden. Da diese Welt nie unproblematisch ist, kann auch der sie bestätigende Sinn nie unproblematisch sein. […] Er muss das Risiko laufen, letztlich nicht zu wissen, was für den anderen gut ist, und sich statt dessen an die Liebe halten.“ (Luhmann 1982: 220) Denn diese Verschränkung, dass die Partner gegenseitig in sich Sinn finden, erhält nur die Dynamik, weil sie eben sich in ihrer Andersheit gegenüber stehen und auch flexibel sind, den eigenen Sinn durch die Beobachtung des anderen zu ändern oder neue Facetten davon zu sehen. Es wird durch diese Doppelperspektive angereichert und in der Dynamik noch weiter gesteigert, weil der eigenen Sinn verflüssigt wird, problematisch, kontingent wird. Und auf dieses Risiko kann sich nur eingelassen werden, weil es ein sehr grundsätzliches unbedingtes Ja zum Partner in der Liebe gibt. Jeder Schritt ist zwar problematisch, aber gleichzeitig abgesichert, durch das Ja der Liebe. Und hier findet dann wieder eine Dynamik statt und eine gegenseitige Steigerung statt: je größer das Ja, desto risikohafter kann das Ausloten von Grenzen sein… und dieses entgegengebrachte Vertrauen und das sich einlassen auf dieses riskante Spiel steigert wieder um das Ja… und so weiter. „In ihrer Handlungsgrundlage, als Sinnerfassung, ist Liebe auf die Welt eines anderen Systems gerichtet, verändert durch ihren Vollzug also das, was sie beobachtet. Sie kann sich nicht auf Distanz bringen. Sie selbst macht sich zum Teil ihres Gegenstandes. Ihr ‚Objekt‘ hält nicht still, sondern nimmt die Operation ins sich auf und verändert sich dadurch. Das Vom-anderen-Erlebt-werden wird zur Komponente operativer Reproduktion. Selbstreproduktion und Fremdreproduktion bleiben nach Systemkontexten getrennt und werden doch uno acta vollzogen.“ (Luhmann 1982: 220)
Die Intensität einer Liebe konstituiert sich damit paradox: sie braucht zum einen die gegenseitige Orientierung der Partner aneinander, funktioniert aber nur, wenn gleichzeitig jeder Partner in seiner Andersheit verbleibt, aber diese kontinuierlich an der Andersheit des Partners orientiert, womit sich dieser wieder verändert… ad infinitum. Die Liebe lebt damit aus einem hochinstabilen Zustand, in einer dynamischen Stabilität. Um so weiter die Liebe fortschreitet und umso stärker sie sich nur an dem Sinnerleben des Partner orientiert, ist sie von außen nicht mehr zu regulieren und folgt ihren eigenen Gesetzen, nämlich „daß die Liebe sich ihre Gesetze selbst gibt und zwar nicht abstrakt, sondern im konkreten Fall und nur für ihn. Die für das 17. Jahrhundert charakteristische Version war etwa: Es gebe allgemeine, geradezu technische Regeln das sachgerechten Verführung; wenn aber die Liebe gewonnen sei, gelte nur dass, was die Geliebte sage und fordere.“ (Luhmann 1982: 223)
Luhmann entwirft hier ein hochanspruchsvolles Konzept von Liebe, was sicher nicht jeder leisten kann und man sicher auch nicht immer und in jedem Moment einer Liebe leisten kann. Dennoch ist dies kein Gegenargument, sondern sollte eher ein Anspruch sein. Und jeder der es mal gekostet hat, wird wissen, dass es die Anstrengung und Konzentration Wert ist. Spencer Brown beschreibt diesen Zustand auch, aber er findet dafür eigentlich den passenderen Begriff. Denn Liebe ist ein sehr abgegriffener Begriff, worunter viel läuft, was mit dem oben beschriebenen Verständnis nicht mehr viel zu tun hat. Spencer Brown spricht dagegen vom Paradies, ein ebenso abgegriffener Begriff, aber er markiert zumindest die hier mitgemeinte Hürde und den Anspruch, der damit verbunden ist: „Traditionally, there is a place called paradise. Instead of regarding it as a place, it is equally true, and sometimes practical, to consider it as a state of mind. The state, or the place, whichever you like to call it, is frequently attained by the artist while alone, removed as far as possible from the distracting influences of the world. What has become clear to me now is that it need not be alone. Two people can, but quite a different way, take a trip to paradise together.“ (Spencer Brown 1994: 23) Eigentlich ist dies die brillante Kurzfassung von Luhmanns Ausführungen zur Liebe.
Und auch hier verschmilzen die beiden Partner nicht auf ihrem Weg zur Liebe, sondern finden jeweils für sich, aber auch parallel den Weg ins Paradies. Und hier zeigt sich einfach, dass Liebe so viel mehr ist, als die beiden Liebenden und sie so unermeßlich übersteigt. So schreibt Höderlin in einem anderen Gedicht: „Trennen wollten wir uns, wähnten es gut und klug;/ Da wir’s thaten, warum schrökt uns, wie Mord, die That?/ Ach! Wir kennen uns wenig,/ Denn es waltet ein Gott in uns.“
Und dass es um dieses waltende Dritte geht, wird am Ende von Luhmanns Buch noch einmal sehr deutlich. Auch wenn er dies als Soziologe etwas nüchterner formulieren muss, als der Dichter. Gleichwohl auch Luhmann das letzte Wort einem Dichter überlässt. „Radikaler als je zuvor wird man konzedieren müssen, daß Liebe alle Eigenschaften auflöst, die für sie Grund und Motiv sein könnten. Jeder Versuch, den anderen zu ‚durchschauen‘, führt ins Bodenlose, in jene Einheit von wahr und falsch, von aufrichtig und unaufrichtig, die sich allen Kriterien entzieht. Deshalb kann nicht alles gesagt werden. Transparenz gibt es nur in der Beziehung von System zu System, sozusagen an Hand der Differenz von System und Umwelt, die das System konstituiert. Liebe kann diese Transparenz nur selbst sein:
Ein Gesicht vor dem
Einen
keins mehr Subjekt
nur noch Bezug
unfaßbar
und
fest
(Friedrich Rudolf Hohl)“ (Luhmann 1982: 223)
Luhmann ist klug, da er sein Buch genau an dem Punkt enden lässt, an dem es für die konkrete Liebe spannend wird, d.h. wo sich die beiden liebenden Subjekte auflösen. Sich aufheben in der Liebe und nur noch dieser Bezug sind. Durch diese Sprung verliert man viel, aber gewinnt auch alles. Luhmann führt nur hin, wie die von ihm zitierten Ratgeber des 17. Jahrhunderts. Springen und lieben muss deswegen jeder selber, in seiner Form und in seinem Rhythmus.
Zwar haben wir jetzt schon die Rede von Job sehr frei ergänzt und uns von seinen direkten Worten entfernt: aber im Hintergrund bleibt weiter der Vers präsent: „Enthüllt das Tiefe aus der Finsternis“. Aber vermutlich ist es notwendig diese Erläuterungen einzuschieben. Jobs Weg und Rede gleicht eher einer Pfahlwurzel, die konsequent immer weiter in die Tiefe weiterstößt. Sudhana bewegt sich aber eher in Rhizomen, die sich an Jobs Pfahlwurzel ansetzen. Sie sind wie Zwischenlager bei einer langen Bergbesteigung, wo man Kraft schöpfen kann, um dann weiter vorzustoßen.
Die gegenseitige Bezogenheit lässt sich auch gut am Beispiels des Tanzes verdeutlichen. Przywara findet dieses Grundprinzip als die Bezogenheit in einem kulturverglichenden Kontext. So erkennt er chinesischen Yijing und seinen Polaritäten und Scharfgarbenwurf „Tanz-Figuren“ und das „daß Göttliche (im späteren Sinne Platons) als ‚Metro‘ dieser Figurationen erscheint: Gott tritt hervor im Zeihen des Erregenden/ […] Er erfreut sie im Zeichen des Heiteren,/ Er kämpft im Zeichen des Schöpferischen,/ Er müht sich im Zeichen des Abgründigen,/ Er vollendet sie im Zeichen des Stillhaltens.“ (Przywara 1959: 52 (und Zitat aus dem Yijing)). Aber Przwara erkennt dies auch als Grund-Prinzip bei Laozi, so dass „das Letzte des chinesischen Kosmos heißt darum ‚Tao‘, d.h. die (dynamische) ‚Bahn der Bahnen‘, bei Lao-Tse: als ‚Wesensgleichmaß der (in Gegensätzen schwingenden) Dinge‘ […] Das in sich also schwingende All ist darum ‚Kreislauf‘ als ‚Stete‘“ (Przywara 1959: 52f.). Und auch bei Kong Fuzi ist für Przywara „‚das Denken dem Kreislauf der Dinge ähnlich‘, also selber gleichsam ein Tanz zwischen Gegensätzen entsprechend dem Kreislauf-Tanz der kosmischen Gegensätze.“ (Przywara 1959: 53) Das chinesische Denken bleibt bei Przywara noch sehr holzschnittartig, weil zu seiner Zeit auch vieles an Grundlagentexten noch nicht in westlichen Übersetzungen vorlag. Aber Przywara hat doch sehr genau den Kern dieses Denkens erfasst.
Er findet dies dann weiter in der griechischen Antike, so findet er bei Pythagoras das „‚Schwingen zwischen Gegensätzen‘, die zuletzt ‚Harmonie analogia‘ sind, ‚tönende Harmonie im Zueinander“ (Przywara 1959: 53). Genauso ist dies beim Denker der Gegensätze schlechthin angelegt, so „Heraklit dass Hinüber und Herüber seiner in einander schlagenden Gegensätze […] verstanden wissen: als ‚schönste Harmonie aus dem Unterschiedlichen‘, in der aber, andererseits ‚alles gesamt gemäß der Eris erwird‘ also im besonderen Symbol des ‚Kontre-Tanz‘.“ (Przywara 1959: 53) Und auch im Abschluss der klassischen griechischen Philosophie findet er dies wieder und hier scheint für Przywara auch weiterhin die Analyse aus seinem frühen Büchlein „Analogia Enti“ tragbar: „Trug der platonische ‚unsterbliche Kampf‘ so sehr doch die Züge des antiken, zuletzt tänzerischen, Egon, daß er gleichsam ‚mozartscher Tanz-Rhythmus‘ ist, - so tönt durch den aristotelische ‚Kreisumschwung‘, der im ‚Vorzeichen‘ des ‚anders und anders‘ und des letzten ‚Torso‘ steht, gleichsam ‚beethovenscher Tanz-Rhythmus‘ hindurch, tragisch-heroisch.“ (Przywara 1959: 54)
Diese Denkansätze stellen sozusagen die Wurzel von Sudhana dar, worauf dann sich das eigene Verständnis von Christentum und Buddhismus entfaltet. Aber auch diese beiden als „anders und anders“, sich gegenseitig aufeinander beziehend, ergänzend, weitertreibend, tanzend. Ohne dass allein in dem einen die Wahrheit liegen würde oder das eine vom anderen aus verstanden werden kann. Auch keine gemeinsamer kleinster gemeinsamer Nenner ist zu finden, kein Weltethos. Sondern nur der tanzende Vollzug von beiden in Sudhana, der auch nur für Sudhana Sinn macht.
Przywara führt diesen Gedankengang des Tanzes dann auch für den Alten und Neuen Bund weiter. Aber leider hat Przywara nie einen wirklichen Zugang zum Buddhismus gefunden, so dass man auf Ausführungen von ihm hierzu nicht zurückgreifen kann. Und wenn er sich zum Buddhismus äußert, erreichen diese Aussagen meist nicht die nötige Tiefe.
Hier macht Przywara gerade in den Psalmen einen kosmischen Tanz zwischen den Gegensätzen aus, die gefeiert und vollzogen werden und mit Hohenlied dann den Hochzeitstanz. Dazu kommt noch der verrückte und erniedrigende Tanz Davids. Dies alles sieht er dann verleiblicht in der Inkarnation Christi und „im Hochzeitstanz Martens im All, in den sich sowohl der aristotelische Eros als innerster Bewegungs-Antrieb des ewigen ‚Kreisumschwungs in Weihe der Vollendung‘ erfüllt, wie auch der Tanz Davids vor der Bundeslade.“ (Przywara 1959: 56)
Davids Tanz gibt nun aber auch den Blick wieder auf Job frei. Denn sein Tanz ist kein einstudierter Tanz, weder ein einstudierter leidenschaftlicher Tango noch ein gesellschaftliches Event wie der Wiener Opernball. Es ist eher ein Tanz zu einem zerspringenden Akkord (wie eine der ersten Dissertationen über das Werk von Przywara betitelt ist). David tanzt vor der Bundeslade (2 Sam 6), nach der „Zerschlagung Ozas“, der versuchte hatte, die Bundeslade „festzuhalten“, und der Beobachtung, dass die Lade dem Hause Abbedaras, wo David sie dann aus Furchte „parkte“, nur Segen brachte. Aus dieser Ambivalenz von Gefahr und Segen heraus tanzt David und es ist ihm egal, das Melchol, die Tochter Sauls, ihn dafür verachtete und er entblößt und lächerlich sich vor dem Volk gemacht hat. David hat hier nur einen Bezug: Gott, vor dem es ihm schaudert (Oza), aber er auch alles Heil erwartet (Abbedara).
Dieser Tanz drückt sehr gut aus, wohin Job am Ende des ersten Rededurchgangs gekommen ist. Zwar tanzt Job nicht offensichtlich, aber er findet sich immer tiefer hinein in diese Ambivalenz bzw. Paradoxie von Schauder und Heil. Und Job vermag nicht mehr dieses Paradoxie etwa in einer theologischen Dialektik aufzulösen, wie dies seine Freunde versuchen.
Am Ende des ersten Redegangs ist es vielleicht sinnvoll einmal zu bilanzieren, wo wir mit Job angekommen sind. Dies soll in Abgleichung und Differenz zur wissenschaftlicher Exegese geschehen (die aber hier eher als die externe Perspektive der Freunde erscheint, als der beteiligte Blick Jobs, den wir versucht haben auf unsere Weise und in unserem Weg mitzugehen). Der Alttestamentaler Ludger Schwienhorst-Schönberger (der Name stimmt wirklich!) schreibt am Übergang vom ersten zum zweiten Rededurchgang, im Buch Job „geht es nicht darum, das Leid möglichst schnell zum verschwinden zu bringen. Es soll verstanden werden. Job will verstehen“ (2007: 95) Zuzustimmen ist, dass es Job nicht darum geht wieder zu einem status quo ante zurückzukommen und wiederhergestellt zu werden. Deswegen ist ihm auch der Weg der Freunde versperrt, weil es für ihn kein Weg ist, durch die Beichte seiner Sünden wieder komplett rehabilitiert und wiedereingesetzt zu werden. Es geht hier nicht im Ansatz um Sündenvergebung, dies ist hier die vollkommen falsche Ebene! Denn Job theologisiert sich nicht selbst, weigert sich dass er in das Moralsystem der Freunde hineingepresst wird, sondern spricht sich ganz offen und nackt, nicht vor den Freunden und Beichtvätern, aber vor Gott aus - und dies macht seine eigentliche Größe aus. Und so tanzt er nackt und lächerlich vor Gott, wie David vor der Bundeslade.
„Dieser Weg zurück bleibt Ijob versperrt. Er wäre - im wahrsten Sinne des Wortes - ein Rückschritt. Was ihm bleibt, ist allein der Weg nach vorn. Ijob scheint zu ahnen, dass von dort her eine Antwort kommt, die ihn über dass hinausführt, was er bisher von Gott (zu) erfahren (geglaubt) hatte.“ (Schwienhorst-Schönberger 2007: 96) Damit verfängt sich Job auf der einen Seite ganz existentiell in allen Fallstricken der Theodizee und treibt diese bis in die letzte Konsequenz, und dies viel weiter als seine Freunde. „In Ijob vollzieht sich ein Prozess der Klärung, bei dem der Unterschied zwischen dem, was er wahrnimmt, und dem, was wirklich ist, immer deutlicher hervortritt. In Ijob bricht die Erkenntnis durch, dass es noch einen ‚anderen Gott‘, den Ijob als Zeugen anruft, kein anderer als der eine, wahre Gott, der ‚der ihm Recht verschafft: ‚Nemo contra Deum, nisi Deus ipse‘ (‚Niemand gegen Gott außer Gott selbst‘) - dieses Wort unbekannter Herkunft, mit dem Goethe im 20. Buch von ‚Dichtung und Wahrheit‘ das Dämonische zusammenfassend kennzeichnet, konnte auch als Überschrift über Ijob 16, 18-22 stehen [und noch an so manch anderen Stellen des gesamten Buches]. Diese zunächst paradox klingenden Worte deuten darauf hin, dass Ijob von der Vorstellung, Gott würde ihn verfolgen, befreit wird. Die Erfahrung bricht in dem hier auszulegenden Text blitzartig durch, aber es braucht noch vie Zeit und Leid, bis sie in Ijob zu einer tragenden und bleibenden Gestalt gefunden hat.“ (Schwienhorst-Schönberger 2007: 98)
Aber genau an dieser Stelle muss auch erkannt werden, dass Schwienhorst-Schönberger Job als wissenschaftlicher Theologe liest. Sudhana ist aber eine Pilgerin, der mit Job mitbeten möchte, und keine publizierende Wissenschaftlerin (und wenn dann eher im Stile von Deleuze, Bataille oder Heidegger). Zwar stimmt es, dass es keine Rückkehr zu einem status quo ante gibt - aber es stimmt nicht, dass es hier etwas zu „verstehen“ gibt (was der Theologe oben behauptet hat)! Denn der Weg, den seine Freunde ihm weisen, kann Job nicht gehen, dafür hat er sich viel zu sehr direkt auf eine Ansprache durch Gott eingelassen und „versteht“ ihn nicht mehr durch eine Theologie. Zwar stimmt es, dass in Job eine Klärung stattfindet, zwischen dem was er wahrnimmt und was tatsächlich ist - aber hier ist eben keine „Lösung“ zu finden, dass der „verfolgende Gott“ bloß eine „Vorstellung“ Jobs ist und am Ende sich einfach in eine christliche „frohe Botschaft“ auflöst (so die Begriffe des Theologen). Dies ist Job alles scheißegal, denn er muss keine theologische Wissenschaft oder dogmatische Positionen retten - sondern sein Leben! Und Job scheint auch viel sensibler als seine Freunde wahrzunehmen, was tatsächlich ist, weil er eben nicht alles durch die Brille einer Dogmatik betrachtet. Hier hat Job einen deutlichen Schritt in die Freiheit getan, die die Gesprächsgrundlage zu den Freunden (und auch mit den wissenschaftlichen Theologen) immer weiter erodieren lässt. Allerdings eine Freiheit, die Abgrund ist und zwar ein Abgrund, der nicht einfach aufgelöst werden kann, sondern der alles zerbrechen lässt und dann gerade in dieser zersplitternden Zerbrochenheit in einer Schwebe zu diesem ganz anderen Gott kommt.
Wenn man auf das Leben zurückblickt, was uns von Job hier vorgestellt wird, so nimmt es den Ausgangspunkt in einer auf den ersten Blick kitschigen und sogar schon dekadenten Idylle: Job der alles hat und dies auch noch nicht einmal hinterhältig erworben hat und der alles richtig macht. Wir hatten ihn oben als ekelhaften Streber beschrieben, der hervorragend sich seiner Umwelt anpasst und ihr entspricht. Gottes Schläge gegen ihn haben aber gezeigt, dass er gar nicht dieses langweilige Milchbrötchen ist, er ist kein flaches, dahinplätscherndes Gewässer, sondern es tut sich ein unglaublich tiefer und dunkler Bergsee in ihm auf. Vielleicht liest man Jobs früheren Besitz auch aus der heutigen kulturellen Distanz falsch. Heute ist Besitz weitgehend eine Zahl auf einem Bankkonto, die zu einem Ego gehört, worüber dann berichtet oder spekuliert und ggf. in den Geschichtsbüchern an dieses Ego erinnert werden soll (z.B. Jakob Fugger oder Jeff Bezos). Zu Jobs Zeiten war Besitz bzw. dass eigene Haus aber weniger an ein Ego gebunden, sondern war eher ein in Beziehung-Stehen: zu der Familie, zu dem eigenen Haus, zum sich zuneigenden Gott. Vielleicht muss man sich Job doch weniger als ein raffgieriges Ego vorstellen oder einen langweiligen Mitläufer, dem alles in den Schoß durch sein Anpassung fällt, sondern als einen großen Liebenden. Nur eben noch niemanden, der dies in einer romantischen Lieben lebt, da dieses Konzept sich erst viel später entwickelt (Luhmann 1981), sondern die von Luhmann beschriebene Struktur, sein Handeln im Erleben eines anderen mitzuführen, in seinem Haus gelebt hat. Unter diesen Voraussetzungen ist dann Job aber nicht jemand, der einfach nur seinen ganzen Besitz verloren hat, sondern jemand der aus seiner ganzen Beziehungshaftigkeit herausgerissen worden. Dann ist die Geschichte Jobs eine große und tiefe Geschichte von Liebeskummer. Und dies ist der eigentliche Sinn dieser Geschichte. Nämlich nicht, dass jemand alles materielle Gut, sein gesellschaftliches Ansehen, seine Kinder und sogar sein Verständnis von Gott verliert, sondern dass er aus seinem tiefsten Wesen herausgerissen wird - aus seiner innigen, liebenden Beziehung, aus der heraus er lebt.
Job ist ein Liebender und Tänzer im oben beschriebenen Sinne gewesen. Gott hat ihm dann seinen Tanzpartner weggerissen… und nun stolpert, fällt, taumelt Job ohnmächtig durch die Gegend. Ihm fehlt sein Gegengewicht, es kann kein Oben und Unten mehr finden. Und dies zeigt sich umso stärker, desto mehr man sich auf den Partner eingelassen hat. Job war ein großer Liebender, der genau deswegen so tief nun in die Scheiße gefallen ist. Er war ein rückhaltlos Schenkender, der aber genau dadurch auch unendlich beschenkt wurde in dieser liebenden Beziehungshaftigkeit. Und genau deswegen fällt er so tief, so tief in diesen Abgrund, den Gott in ihm aufgerissen hat.
Als liebender Tänzer ist es jetzt allerdings so, dass er nicht allein weiter tanzen kann oder sich einfach einen neuen Tanzpartner suchen kann - zumindest für „seinen“ Tanz findet er keinen Partner (zumindest nicht direkt). Er könnte höchstens wieder in einen gesellschaftlichen Standardtanz einsteigen, aber wer einmal wirklich getanzt hat, ist hierfür dann für immer verbrannt und schaut den anderen eher verwundert zu, wie wichtig sie sich in ihrem angelernten Abläufen nehmen.
Vielleicht lässt sich Jobs Situation am ehesten mit einem Koan vom bedeutendsten japanischen Zen-Mönch nach Dogen begreifen. Hakuin (1686-1769 und damit die Generation von J.S. Bach) hat das Koan „Geräusch vom Klatschen mit einer Hand“ als das effektivste Koan für sich ab der Mitte seines Lebens eingesetzt. Dieses Koan stammt von Hakuin selbst und hat für ihn das Koan Mu von Zhaozhou Congshen (趙州從諗) ersetzt. Denn so wie in diesem Koan dem Klatschen eine Hand abhanden gekommen ist, fehlt Job sein Gegenüber im Tanz. Welches Geräusch resp. welcher Tanz bleibt nun übrig? Was macht Hölderlin nachdem Susette gestorben ist?
Aber man muss sich hier hüten, zu schnell zu antworten. Zwar ist die Antwort zunächst richtig, dass man hier nichts mehr hört resp. dass hier nichts mehr von einem Tanz zu sehen ist. Aber man hat längst noch nicht realisiert, was mit dem Nichts hier im Koan gemeint ist und auch nicht in welches Nichts Job hier immer tiefer stürzt. Dieses Nichts zu realisieren ist Jobs Aufgabe, die Sudhana für sich mitvollzieht, indem er Job nachfolgt, allerdings auf dem eigenen Weg. Aber dies ist der Hintergrund worauf der weitere Weg von Job gelesen werden soll und nicht wie es die klassische Exegese tut vor der Frage der Theodizee, ob nun Gott letztlich doch ein gerechter Gott ist - zumal man mittlerweile verstanden haben sollte, dass diese Frage rational nicht entscheidbar ist.
Hakuin erklärt zwar nicht rational sein Koan, aber er gibt an vielen Stellen Hinweise und Winke (wie Yuanwu im Hekiganroku). Hier soll ein Wink angeführt werden, denn Hakuin zu einem von ihm gemalten Bild von Guanyin (siehe hierfür vor allem das Herz-Sutra) mitgibt. Hier lehrt Guanyin eine Versammlung von Arhats und Devas mit den folgenden Versen: „You beings who have assembled here/ Are no different whatsoever from me./ Yet you forfeit the gem in your hand/ By gazing out and away at the moon:/ The moon is the gem in your hand,/ The gem in your hand is the moon.“ (Hakuin 2017: 420) Und er kommentiert diese Verse selber in dem er Bezug auf das Koan nimmt: „Originally it is neither within nor without. Our true, nondual relation with Kannon [jap. Bezeichnung für Guanyin] exists in such a negation… If you call this nonbeing, you fall into the heretical view that death ends all. If you call it being, you fall into the heresy of eternal changelessness. What than can you do? You must hear the sound of one hand.“ (Hakuin 2017: 420)
Es geht darum diesen Sound bei Job herauszuhören, für den die Freunde aber auch eine wissenschaftliche Exegese taub sind. Und auch Job muss sich hier erst langsam und sehr schmerzhaft einfinden. Es ist kein ebener, rationaler Weg für Job dorthin. Eher bricht seine Rede, die in vielen noch von einer rational-wissenschaftlichen Weisheit geprägt ist, an manchen Stellen jäh auf, wie bei dem Vers, von dem diese lange Ausführung seinen Ausgang genommen hat: „Enthüllt das Tiefe aus der Finsternis“. An diesen Stellen merkt Job, dass seiner Situation und noch mehr dem was er dabei empfindet die ganze menschliche Weisheit nicht mehr gerecht wird. Und in Momenten dieser tiefen Verzweiflung und Ohnmacht bricht etwas in Jobs Rede ein, fast schon gewaltsam und fremd aus einer sehr seltsamen Tiefe. Und hier spürt Job den Atem Gottes in ihm, der so gar nicht greifbar in der Weisheit der Freunde ist. Ein Atem der Job unendlich fremd und trotzdem so zärtlich nah ist. Ein Atem von dem Job weiß, dass er darin sterben muss und der ihn trotzdem so unendlich anzieht. Ein Atem auf den Job sich erst einfinden muss in seiner Reaktion, indem er ehrfürchtig-zurückhaltend sich hierfür öffnet, auch wenn es für ihn das radikal Unbekannte und Gefährliche ist - und trotzdem ist es das Intimste was er bisher erlebt hat und auch seine einzige Rettung.
Dies ist der Sound, auf den sich Job einlässt. Zwar langsam und zögernd, aber er realisiert immer mehr, dass dies sein einziger Weg ist. Und es ist dieser Tanz von Nähe und Distanz zwischen Job und Gott, es ist dieses ehrfürchtige langsame Einlassen auf Gott durch Job, es ist diese Analogia Entis in deren Rhythmus sich Job einschwingt. Genau dies beschreibt auch Guanyin oben: „You […] are no different whatsoever from me./ Yet you forfeit the gem in your hand/ By gazing out and away at the moon“ (Hakuin 2017: 420). Auf diesen Kollaps von seinem eigenen Ego in Gott hinein lässt sich Job ein und er hört schon den Sound, der ersten Brüche in seinem Ego. Er hört den Sound von Gottes picken, was er so langsam lernt zu begreifen bzw. besser zu ergreifen - und Job beginnt zu feilen (siehe Hekiganroku Zugang 16).
Aber meist sind wir taub für diesen Sound. Aber warum? Eine wesentliche Eigenschaft des Göttlichen bzw. einer Transzendenz, die sich eigentlich durch alle Religionen zieht, liegt darin, dass dies meist nur in der Stille zu finden ist. Sei dies in der Stille der Meditation (z.B. Zazen) oder bei Elia, der Gott nicht in den gewaltigen Erscheinungen wie Sturm, Erdbeben oder Feuer erkennt, sondern erst in einer „Stimme verschwebenden Schweigens“ (so übersetzen Buber/Rosenzweig 1 Kön 19,12) oder Jesus, der sich trotz hypostastischer Union immer wieder zum einsamen, stillen Gebet in die Wüste, auf einen Berg oder ins Abseits auf Gethsemane zurückzieht.
Denn meist ist diese Stille in unserem Leben deutlich übertönt, weil Gesellschaft halt unglaublich laut ist, mit allen Angeboten und Anforderungen. Aber auch das eigene Ego ist laut, was uns kontinuierlich zutextet, was es alles will oder nicht will. Allerdings kann man auch nicht leugnen, dass zwar unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert eine sehr laute ist, die aber auch das Bedürfnis nach Stille und Entschleunigung kennt. Aber selbst wenn es der Retreat im Kloster ist, der Yoga- oder Zen-Kurs, ist es nicht die Stille, die hier gesucht wird. Bestenfalls kann sie dort hinführen, aber meistens verstellt sie es noch mehr, da es hier immer nur ums Ego geht, was merkt, dass es neue Kraft und Energie tanken muss, um noch besser zu performen, d.h. lauter mitgröllen zu können im gesellschaftlichen Geschwätzt (was Heidegger gut als das „man“ beschrieben hat).
Aber es gibt Momente wo man die „Stimme verschwebenden Schweigens“ hört oder auch nur ganz leise ahnt, wie sie in einem aufsteigt. Wie sie sich in einer ganz feinen und filigranen Wärme in einem ausbreitet und alles andere drumherum verschwindet. Ein Kind kann diese Stimme auslösen, sei es die Reaktionen unter der schwangeren Bauchdecke, sei es der erste Blick nach der Geburt, sei es die Momente einer so bedingungs- und absichtslosen Verbundenheit zwischen Kind und Eltern (gerade wo sie noch klein sind, die weniger werden wenn sie größer und selbständiger werden, aber selbst dort immer mal wieder als Momente auftauchen). Hier kann man diese Stille finden, wenn man sich darauf einlässt und nicht das Kind als Karriereobjekt betrachtet, was in seiner Hochbegabung gefördert werden muss.
Die „Stimme verschwebenden Schweigens“ kann aber auch die Sprache zwischen zwei sich liebenden Menschen sein. In der intimen Berührung, die keine Worte mehr braucht und die alle Grenzen zwischen den beiden Liebenden aufhebt und sie ein Körper werden lässt. Und der Öffnung füreinander, die ähnlich der Annahme durch die Eltern ist (die oben beschrieben wurde), nur dass sie hier frei gesucht und gewählt wurde und damit noch viel unwahrscheinlicher ist als die Elternliebe. Aber eben eine Liebe, die keine Vorzeige-Partnerschaft ist, sondern den Anderen allein um seiner Selbstwillen bedingungslos und bis ins Letzte annimmt. Zu spüren, dass es keinen schöneren Menschen auf der Welt gibt, weder vom Aussehen noch vom Geist und Charakter (was eine ganze eigene Monogamie ist). Und dann diese Gegenseitigkeit, dass man auch sich selbst im liebenden Blick des anderen, als diesen liebenswerten und einzigartigen Menschen annehmen kann (was so anders ist als alle Selbstverliebtheit eines Ego). Auch hier findet etwas ganz Tiefes statt, auch wenn viele Liebesbeziehungen sich oft nicht in dieser Tiefe finden, sondern dies oft nur Sehnsucht und Wunschdenken bleibt, was aus Romanen und Filmen auf das eigen Leben projiziert wird - aber manchmal ereignet es sich eben doch in seiner ganz bedingungslosen Tiefen und es bleibt nur liebendes Staunen.
Und ein dritter Bereich, wo man die „Stimme verschwebenden Schweigens“ hören kann, ist der eigentliche Kontext, aus dem diese Formulierung stammt: dem Gebet. Dies ist vielleicht der Bereich, der den meisten Menschen heute nicht mehr zugänglich ist und noch weniger, dass sie hier eine solch innige und intime Erfahrung gemacht haben wie in der Liebe zwischen Partnern oder Kind und den Eltern. Vielleicht am ehesten noch als Kind, wo abends im Bett Gott dann der nahe Gesprächspartner ist, den man hat, um sich immer mehr von den Eltern zu lösen und selbständig zu werden. Aber auch später, wo man als Erwachsener merkt, dass man sich viel mehr und tiefer erfährt, wenn man sich im Gebet vor Gott ausspricht, als wenn man nur über sich selbst etwa bei einem Waldspaziergang nachdenkt. Oder auch die feine Differenzierung der Gefühle die eintritt, wenn ich sie vor Gott bringe: sei es Freude, Lob und Dank, aber genauso Leid und Ohnmacht. Alles wird geweitet, so dass die andere Seite in allem auftaucht (quasi das Gebet als re-entry im Sinn von Spencer Brown (1969)): im Leid realisiert man den Trost oder in der eigenen Freude, dass man Freude weitergeben kann und dadurch tiefere Freude entsteht etc. Im Gebet realisiert man die tiefste Einsamkeit, in die man als Mensch gestellt ist, so dass man sieht, dass selbst Kind und Partner in manchen Sachen nicht begleiten können (so muss ich die Abschlussprüfungen alleine machen, die kann mir keiner abnehmen und genauso kann ich nur alleine Sterben und dabei nur begleitet werden). Im Gebet realisiere ich aber, dass in dieser tiefsten Einsamkeit, dann doch jemand mir nah ist, der mich liebt und mir zuspricht und für mich da ist - und immer schon auf mich warten, wohin ich auch gehe, stolpere oder falle.
In diese Intimität von liebender Beziehung zum eigenen Kind, dem Geliebten und zu Gott bricht bei Job auf einmal die dunkle Nacht herein… man hört wie die kalte Messerklinge aus der Scheide gezogen wird… nun besteht eine ganz andere Stille… denn das Kind wird getötet… den Liebenden wird die Klinge durchs Herz gestoßen… und Jesus wird am Kreuz geschlachtet…
… „Two human specks, a mother and her child, we glided through the world for six whole years, which were unto me but a few days, and we were a nursery rhyme, threaded with tales and miracles - Until ever so lightly, a breeze a breath a flutter a zephyr rustled the leaves - And sealed our fates: you here, he there, over and done with, shattered to pieces.“
… „Aber wir, zufrieden gesellt, wie die liebenden Schwäne,
Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt,
Niedersehn in die Wasser, wo silberne Wolken sich spiegeln,
Und ätherisches Blau unter den Schiffenden wallt,
So auf Erden wandelten wir. Und drohte der Nord auch,
Er, der Liebenden Feind, klagenbereitend, und fiel
Von den Ästen das Laub, und flog im Winde der Regen,
Ruhig lächelten wir, fühlten den eigenen Gott
Unter trautem Gespräch; in Einem Seelengesange,
Ganz in Frieden mit uns kindlich und freudig allein.
Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge
Mir genommen, auch mich hab' ich verloren mit ihr.
Darum irr' ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich
Leben, und sinnlos dünkt lange das übrige mir.“
… „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Fern bleiben meiner Befreiung die Worte meines Notschreis./ ‚Meine Gottheit!‘ rufe ich tags und du antwortest nicht, nachts, und nicht wird mir Stillung.“
…
…
„Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
in der mittagsheißen Luft des Brajčinotals,
aus der unterirdisch bitteren Höhle herauf,
Die das Beggebüsch mit seinem Duft verdeckt.
Als Bläulich, Admiral und Trauermantel,
als Pfauenauge flattern sie umher
und gaukeln dem Toren des Universums ein Leben
Vor, das nicht wie nichts stirbt.
Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert
mit Anflügen von Seelenfrieden und süßen Lügen
und Sommergesichten verschwundener Toter?
Mein Ohr antwortet mit seinen tauben Klingen:
Es ist der Tod, der sich mit eigenen Augen
vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.“
…
…
…
„Enthüllt das Tiefe aus der Finsternis“
סֶלָה
13. Fortsetzung Jobs Antwort
Siehe, dies hat mein Auge gesehen,
Und gehört mein Ohr.
Und ich weiß auch, was ihr wisst,
Und ich bin nicht weniger einsichtig als ihr.
Jedoch will ich vor den Herrn treten,
Darlegen werde ich es vor ihm, wie er will.
Ihr aber seid unredliche Heiler,
Und eure Heilung kommt aus dem Unechten.
Besser ihr schweigt,
Und nur so erlangt ihr Weisheit.
Hört auf die Begründung meines Mundes,
Stellt euch der Beurteilung meiner Lippen.
Zerredet sie nicht abfällig vor dem Herrn,
Und stellt sie nicht als unaufrichtig dar vor ihm.
Oder zieht ihr euch zurück?
Ihr aber seid doch selber Richter.
Ehrfurcht ist geboten, wenn er untersuchend in euch dringt,
Denn zu allem was ihr gemacht habt, habt ihr ihm Zugang zu gewähren,
Dann wird er euch prüfen,
Und nichts Verborgenes in eurem Gesicht verwundert mehr.
Die Furcht vor ihm wird euch umtreiben,
Angst vor ihm wird sich auf euch legen.
So dass euer Stolz zu Asche wird,
Und euer Körper wieder zu Lehm.
Schweigt, dass ich rede und mein Zorn sich legt,
Ich nehme mein Fleisch und mein Gebein,
Meine Seele in die Hand.
Selbst wenn der Gewaltige mich zermalmt, soll er sich hüten,
Denn ich werde reden und meine Gründe ihm vorlegen.
Und dies wird mir zur Rettung reichen,
Denn nicht wird vor ihm kommen jemand, der Trug entfaltet.
Hört, hört meine Worte,
Denn künden werde ich, wenn ihr hört.
Siehe, denn mein Urteil kommt aus mir selbst,
Deswegen werde ich mich als gerecht erweisen.
Denn wer ist es, der mich richten wird?
Dass ich deswegen jetzt schweigen und mich zurückziehen sollte?
Zweierlei aber gewähre mir,
Dann werde ich mich nicht vor deinem Angesicht verbergen:
Deine Hand halte fern von mir,
Und Angst vor dir, soll mich nicht niederstrecken.
Du wirst mir zurufen, und ich werde dich hören,
Du wirst reden, ich werde dir entsprechend antworten.
Was sind meine Sünden und meine Gesetzlosigkeiten?
Lehre mich, welche es sind.
Warum verbirgst du dich vor mir?
Stelle dich nicht gegen mich.
Wirst du mich fortwehen, wie der Wind das Blatt,
Oder stürmst du nur gegen mich, wie der Sturm über das feste Gras?
Denn mein Schlechtes hast du aufgeschrieben,
Legst mir sogar die Sünden meiner Jugend vor.
Gesetzt hast du meinen Fuß in die Falle,
Überwacht hast du mich bei all meinen Taten,
Bis in die Wurzeln meiner Füße hast du mich verwirrt.
Bin wie ein brüchiger Weinschlauch,
Oder mottenzerfressenes Leinen.
„Siehst du, daß das nicht einfach Worte eines Mannes sind, der sich selbst rechtfertigen will, sondern daß sie zur Linderung des Schmerzes dienen?“ (Chrysostomos 1990: 110) Johannes Chrysostomos erkennt damit sehr deutlich, dass Job hier nicht in erster Linie einen theologischen Disput führen will. Theologische Argumente sind damit nicht unwichtig und Job berücksichtigt diese auch, denn „ich weiß auch, was ihr wisst“. Aber Job will keine wissenschaftliche Arbeit schreiben, sondern sich selber aussprechen: als dieser Job, so wie er ist, so paradox und widersprüchlich wie er ist, mit Gutem und Bösem, mit Schönem und Hässlichem etc. will er vor Gott treten. Er will sich dabei nicht schon im Voraus selbst in Moralkategorien einordnen, dass kann, wenn er Bock und Langweile hat, Gott ja dann gerne machen. Aber Job will eben nicht als Maske vor Gott treten, die sich in fremde Worte kleidet.
Die Freunde wollen nur als Fassade vor Gott treten, mit ihrem gebildeten Geschwätz, was sie zwischen Gott und sich schieben - und damit eben eine Beziehung verhindern. Bei Nietzsche gibt es einen Gedanken, der sich zwar auf den ersten Blick auf Architektur bezieht, der aber hier weiterhelfen kann: „Der Stein ist mehr Stein als früher. — Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, — aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. — Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.“ (Nietzsche 1988c: 178f.)
Nietzsche macht darauf aufmerksam, dass es in einem „ursprünglichen“ Verhältnis ein Ahnung des Erhabenen gegeben hat, was gleichzeitig auch immer ein Grauen gewesen ist. Dieses haben wir verloren und es quasi domestiziert. Damit haben wir aber das Wesentliche verloren: die lebendige Beziehung. Wir betrachten das Gebäude sozusagen nur noch als geschicktes Kunsthandwerk und nicht mehr darin, was es ausdrücken soll. Auf der anderen Seite geht es aber auch nicht darum, dass die Fassade einfach weggerissen wird. Klar steht Job nackt und offen da und er will sich so auch vor Gott Gehör schaffen. Job selber nimmt aber Gott selber nicht war. Zwar ist das Offene die richtige Herangehensweise, um vor Gott zu treten, aber vielleicht fehlt dennoch hier etwas. Natürlich ist es falsch hier auf die Freunde einzuschwenken und sich in ein anonymes und abstraktes Weisheitskonzept zu pressen und dahinter zu verstecken. Aber vielleicht ist für das offen vor Gott treten, dennoch eine Form nötig: „Ehrfurcht ist geboten, wenn er untersuchend in euch dringt“. Und auch bei Nietzsche zeigt sich, dass die Maske nicht allein negativ ist, sondern sich einfach nur von seiner ursprünglichen Funktion entfernt hat. Dies gibt auch einen Hinweis darauf, dass die Weisheit der Freunde nicht grundsätzlich falsch ist, nur in der Form wie die Freunde diese gebrauchen, ist sie unnütz bzw. verhindert sogar eine Beziehung zu Gott. Sie muss erst auf den Ursprung zurückgeführt werden und kann nicht getrennt und abgelöst davon verwendet werden.
Karl-Heinz Bohrer fasst die andere Seite der Maske bei Nietzsche gut zusammen: „Die Maske ist bekanntlich Schlüsselbegriff des dionysischen Schreckens im Schein der apollinischen Kunst. Wer den Schrecken gesehen hat. Das meint der bekannte Satz ‚Alles, was tief ist, liebt die Maske‘. Deshalb ist die Oberfläche emphatisiert, bei der die Griechen stehengeblieben seien - aus Tapferkeit. Sie waren ‚oberflächlich - aus Tiefe‘ Die tragischen Helden Ödipus, Prometheus sind Masken des ‚ursprünglichen Helden Dionysus‘. Wenn dass Apollinische der Maske einer der ‚nothwendige(n) Erzeugungen eines Blickes in’s Innere und Schreckliche der Natur‘ ist, dann korrespondiert der Begriff ‚Maske‘ unmittelbar mit dem ‚Grauen‘ archaisch-symbolischer Kunst.“ (Bohrer 1996: 452f.) Dieses Grauen, was die Griechen in Dionysus erfahren haben, ist das, wovon auch Job sagt, „siehe, dies hat mein Auge gesehen,/ Und gehört mein Ohr.“ Job erfährt Gott nicht domestiziert in Weisheit und Dogmatik, sondern relativ direkt, in seiner unendlichen Wucht, die Job fasst zerstört bzw. die Job bis an die Grenze treibt, was er aushalten und leben kann.
Nietzsche schreibt an anderer Stellt hierzu und dies kann man gut als Kontrast zwischen Job und den Freunden lesen, so das Job das eher das Geheimnis Gottes zu bergen versucht, „das Bild soll das numen der Gottheit in irgend einer geheimnisvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise hier als tätig, als örtlich gebannt erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und zugleich verbergen — ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der Veranschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Überzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte. In dem Unvollständigen Andeutenden oder Übervollständigen liegt eine grausenhafte Heiligkeit, welche abwehren soll, an Menschliches, Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so etwas bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte deutlicher reden, sinnfälliger darstellen können. Vielmehr scheut man gerade eines: das direkte Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche numen der Gottheit birgt und in geheimnisvolles Halbdunkel versteckt, doch nicht ganz; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt, gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt, aber nicht ganz: so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der Gottheit“ (Nietzsche 1988c: 475f.) Wogegen die Freunde dann die weitere Entwicklung darstellen, was nicht unbedingt mit Fortschritt gleichgesetzt werden darf: „Erst als außerhalb des Kultus, in der profanen Welt des Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, dass die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfindungen hinüberschlugen, erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick menschlicher Schönheit und Überkraft gewöhnen musste, so dass, bei der räumlichen und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung ineinander überklangen: da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der große Tummelplatz für die große Plastik wird aufgetan: auch jetzt noch mit der Beschränkung, dass überall, wo angebetet werden soll, die uralte Form und Hässlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der weihende und schenkende Hellene darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.“ (Nietzsche 1988c: 476) So haben die Freunde die ursprüngliche Scheu verloren und rücken Gott und Mensch einander näher. Allerdings hat dies nichts mit Mut zu tun, da eher Job der Mutige ist, der sich diesem ursprünglichen Grauen aussetzt. Die Freunde haben Gott dagegen in menschlichen Bilder und Begriffen festgelegt und definiert, sozusagen in Ketten gelegt und in eine nicht veränderbare Statue gegossen. Zwar sieht diese Statue lebendig aus, sie scheint in Bewegung zu sein, vielleicht sogar nach einem fassen zu wollen - aber letztlich wird sie dies nie tun, sie ergreift nie den Menschen, sondern ist kalter, starrer Stein, der meist „nur“ ein paar subjektive Gefühle auslösen kann. Dies ist die Weisheit und Dogmatik der Freunde, die deshalb nur Totes lehren und deshalb: „Ihr aber seid unredliche Heiler,/ Und eure Heilung kommt aus dem Unechten.“
Die Freunde werfen Job immer wieder vor, dass er blasphemisch ist, weil er Gott herausfordert und ihn als gerechten Gott infrage stellt. Aber bei näherer Betrachtung sind es die Freunde, die sich Gott auf Distanz halten und die ihn letztlich „getötet haben“ (um ein anderes Wort Nietzsches zu verwenden), indem sie ihn in menschlichen Begriffen festgelegt haben. Und zu diesen Begriffen gehört eben auch Gerechtigkeit, aber im Buch Job geht es eben genau nicht darum, dass Job am Ende erkennt, dass Gott auf irgendeine Weise dann doch gerecht ist - sondern es geht um das Zerbrechen aller menschlicher Begriffe und Maßstäbe, die auf Gott angewendet werden. Und es ist gleichzeitig ein Zerbrechen aller Maßstäbe in uns selbst, weil Job und wir mit ihm immer mehr erkennen, dass in uns selbst genau dieser unendliche göttliche Abgrund ver- aber auch geborgen ist. Das wir Nichts sind, nichts außer diesem tiefen Abgrund.
Job fordert von den Freunden Ehrfurcht vor Gott, indem sie ihn nicht töten und stillstellen in ihrer menschlichen Weisheit, sondern dass sie Gott in sich dringen lassen. Dass Sie Gott zu allem Zugang gewähren, was sie sind und alles in sich prüfen lassen, ohne sich zu verstecken. Kommt da also doch wieder der Nikolaus mit seinem Knecht Ruprecht um die Ecke? Und klar haben Kinder eine Zeit lang Angst vor dem Nikolaus, aber irgendwann durchschauen sie auch, dass es die Augen des Nachbarn hinter dem falschen Bart sind (und der ebenso falschen Moral) und man kann das falsche Grinsen von einem Arschlochkind nur lieben, dass genau dies durchschaut hat.
Aber Job fordert etwas anderes als eine moralische Prüfung durch den Nikolaus. Klar wird bei dieser Prüfung auch alles Scheiße aufgedeckt, vor und durch Gott, die ich so gemacht habe. Aber sie werden dadurch nicht in erster Linie verurteilt, sondern eher integriert. Denn ist man einem Kind wirklich böse, für das was es „verbrochen“ hat? Und nimmt man in einer partnerschaftlichen Liebe nicht auch den Anderen mit all seinen Ecken und Kanten an, so dass er sich gerade hier nicht verstellen und etwas spielen muss? In einem ersten Schritt macht diese Offenheit der „Prüfung“ sicherlich Furcht, die Job auch so benennt. Und diese Furcht vor konkreten Missetaten wandelt sich weiter in Angst, d.h. im Sinne der Unterscheidung, die Heidegger hierbei getroffen hat, dass die Angst uns in unserem ganzen Dasein infrage stellt (Heidegger 1992: 184ff.). In seiner Philosophie nach der Kehre formuliert dies Heideger folgendermaßen und dies soll hier als Hinweis dienen, worauf wir mit Job so langsam zugehen: „In der Angst, wesentlich und d.h. aus dem Bezug zum Seyn begriffen, waltet die Scheu vor dem Seyn und seine Würdigung des Seyns. Die Angst, so begriffen, hat aber die Auszeichnung, das Nicht-hafte des Seyns selbst be-stimmend werden zu lassen.“ (Heidegger 2005: 134f.) Paradoxerweise ordnet Heidegger die Angst hier unter die Grundstimmung des Dankes ein und dies bedeutet, „ihr Wesen denken, kann nur heißen, denkend die Stimmung der Stimme hören.“ (Heidegger 2005: 134) Und dann zerfällt alles, worauf der Mensch sich in seinem selbständigen Ego etwas einbildet und stolz drauf ist, zu Asche und er wird wieder zum leblosen und nutzlosen Lehm aus dem er geschaffen worden ist, bevor ihm Gott Geist eingehaucht hat.
Job fährt seine Freunde an, endlich zu schweigen. Ihn nerven diese wohlfeilen Sprüche, die entweder wie Kalendersprüche oder Horoskope sind oder eben so gar nicht zu ihm passen und ihm keinen Weg aus seiner Lage weisen. Job will selber reden und zwar mit der Begründung, dass sein „Zorn sich legt“. Job will gar nicht selber belehren, was richtig und falsch ist. Er hat keinen Lehrauftrag, in ihm ist keine Lehre, die er der Welt mitteilen möchte. In ihm ist nur Zorn! Und zwar ein Zorn, der sein Leben unerträglich macht, den er herausschreien muss. Aber ein Zorn eigentlich ohne Worte, eher ein Schrei, der nach Befreiung sucht, aber keine findet. Eine „heilige Unruhe“ die an- und umtreibt.
Deswegen wird sich hinter Jobs Zorn vermutlich eine sehr komplexe Gefühlslage verbergen. Denn er ist nicht einfach ein primitiver zorniger Barbar, sondern jemand der sehr genau beobachtet und wahrnimmt, was in ihm passiert. Was hier erstmal mit Zorn übersetzt wurden (und in den meisten Übersetzungen auch so gemacht wird), wird in der Septuaginta der Begriff θυμός verwendet, was neben Zorn ein recht breite Bedeutung hat. So kann dies auch als Lebenskraft übersetzt werden, als Wille und Drang. Oder als Gemüt und Herz, indem man innerlich und sehr ernsthaft berührt wird bzw. von Herzen liebt (εκ θυμού φιλείν). Und gleichzeitig bleibt es sehr aktiv, indem auch Mut und Zuversicht dadurch ausgedrückt wird, oder auch Leidenschaft und Heftigkeit und in diesem Zusammenhang dann auch Zorn und Wut.
Somit deutet das griechische Wort recht differenziert an, was in Job vorgeht. Natürlich ist es Zorn, der in ihm wütet, weil er sich gefangen und ohnmächtig in seiner Situation fühlt, weil er keinen Ausweg sieht. Ihm ist alles genommen worden, er ist bis ins Letzte zerstört und sein letztet Halt antwortet nicht: Gott schweigt ihn einfach an! Wie in Psalm 130 ruft Job aus der Tiefe und dem Abgrund heraus mit vollem Herzen zu Gott (ἐκ βαθέων ἐκέκραξά σε κύριε, wo wieder das Wort βαθέων auf den Vers verweist, der uns im vorherigen Kapitel so intensiv beschäftigt hat). Das Evangelium würde sagen, dass in so einem Fall gilt, was bei Matthäus 7, 7 steht: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Job wird einfach kalt stehen gelassen - wie so viele andere auch!
Hölderlin zeigt diese Verlassenheit am Anfang seiner Klage um Diotima:
„hinauf irret der Geist und hinab,
Ruh' erbittend; so flieht das getroffene Wild in die Wälder,
Wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht;
Aber nimmer erquickt sein grünes Lager das Herz ihm,
Jammernd und schlummerlos treibt es der Stachel umher.
Nicht die Wärme des Lichts, und nicht die Kühle der Nacht hilft,
Und in Wogen des Stroms taucht es die Wunden umsonst.
Und wie ihm vergebens die Erd' ihr fröhliches Heilkraut
Reicht, und das gärende Blut keiner der Zephire stillt,
So, ihr Lieben! auch mir, so will es scheinen, und niemand
Kann von der Stirne mir nehmen den traurigen Traum?“
Zwar kennt Job noch nicht Matthäus, aber die Diskrepanz zwischen innigem Flehen und Beten zu Gott und seinem kalten Schweigen, dürfte sehr gut beschreiben, was Jobs Zorn ausmacht. Aber auch nach diesem langen Rufen, folgt Job nicht dem Rat seiner Frau, denn er schwört Gott nicht ab und stirbt einfach als Nihilist. Er nimmt vielmehr alles was er noch hat, das ist eben nur noch sein Fleisch, Knochen und seine Seele und schleppt sie vor Gott. Selbst in diesem tiefen Leid gibt Job nicht auf, er lässt sich nicht hängen. Vielmehr ist der θυμός eben auch seine Lebenskraft, die noch einmal sehr massiv aufflammt. Wahrscheinlich verbrennt er sich jetzt ganz, denn er behält nichts zurück. Er gibt alle Sicherheiten auf. Und so tritt er mutig aber auch zuversichtlich vor Gott. Ein wenig ist er wieder im „Ritter der Kokosnuss“ der Kämpfer, dem beide Arme und Beine abgeschlagen wurden und der trotzdem seinen Gegner weiter auffordert mit ihm zu kämpfen, ihn beleidigt und anspuckt - so scheint auch Job vor Gott zu stehen. Lächerlich, aber entschlossen.
Job ist es egal, dass Gott ihm zermalmt. Denn er weiß, dass sich Gott zu nähern gefährlich ist, da hat er ein deutlich ausgeprägteres Gefühl für, als den liebenden Gott, den wir heute nur noch kennen (und der so unendlich langweilig geworden ist in seiner Wir-haben-uns-alle-lieb-Attitüde). Aber Job stört diese Gefahr wenig. Sein einziges Ziel ist es, vor Gott zu treten und zwar so wie er ist. Und vielleicht geht es hier auch gar nicht darum, dass Job vor Gott beweisen will, dass er ein Moral-Athlet ist und keine Fehler hat, wie die Theologen-Freunde ihm dies bis heute unterstellen. Vielleicht will er einfach nur vor Gott treten, eben so wie er ist: mit vielem Guten, was er sicher gemacht hat, vielem Guten, was ihm einfach nur geschenkt wurde und was er angenommen hat, aber auch vielen Fehlern und Schwächen. Aber er tritt eben aufrichtig und offen mit allem was er hat vor Gott - und stellt nicht nur das Gute in den Vordergrund, sondern sich als ganze Person (ebenso wie man das eigene Kind oder manchmal auch den eigenen Partner in seiner ganzen Breite und Tiefe liebt).
Und diese Aufrichtigkeit ist Jobs Rettung, nicht seine guten Taten. Vielleicht hat Jesus deswegen so sehr die Sünder geliebt und ist auf sie zugegangen, weil bei ihnen lag meist Licht und Schatten der Person offen zu Tage, wogegen die Pharisäer immer nur ihre Lichtseite gezeigt habe und damit so unendliche heuchlerisch gewesen sind (und ist Kirche heute nicht auch nur so und jedes mea culpa liest sich irgendwie unaufrichtig und erzwungen?).
Job ist zuversichtlich, dass er sich als gerecht erweist, weil er aus sich heraus sich ausspricht (oben hatten wir die Parrhesia aufgegriffen). Das ist es worauf er setzt, das ist der θυμός, der in ihm tobt: voller Wut und Zorn, voller Leidenschaft und Zuversicht, voller Ohnmacht und Mut… und alles kommt ganz tief aus seinem Herzen heraus, es ist ganz Job! Und so kämpft er wie Jakob am Jabbok mit Gott, den er nicht richtig wahrnehmen kann, der unbekannt bleibt, dessen Übermacht er spürt - und trotzdem kämpft er mit ihm, lässt ihn nicht los, bis er ihn dann endlich segnet und dann endlich, endlich wirklich sterben darf!
Job bittet Gott um zwei Dinge: zum einen, dass er ihn nicht weiter schlägt und dass ihn seine Angst vor Gott nicht niederstrecke. Eigentlich wundern diese Bitten, denn eigentlich müssten diese ja so formuliert werden, wie etwa mache den Schaden wieder gut und stelle wieder her, was deine ungerechten Schläge gegen mich zerstört haben. Aber das bittet Job nicht, nur dass er von weiteren Schlägen ablassen möge. Und auch beim zweiten würde es näherliegen, wenn Job bitten würde, dass Gott die Angst vor ihm ihm nehmen möge und ihn nur als liebenden Gott erfahren lassen möge. Aber auch dies bittet Job nicht, sondern dass seine Angst vor Gott ihn nicht niederstrecke.
Job nimmt also seine Situation an. Er will nichts geändert haben. Aber er sieht auch, dass er an seine Grenzen gekommen ist: noch ein Schlag und er wäre in seiner Angst niedergestreckt. Job ist auf seinem ganzen Pilgerweg und Ringen mit Gott ein „Gratwanderer“. Er wandert die ganze Zeit an der Grenze, zu dem was er noch gerade aushält und es ist die Grenze zwischen seinem abgeschlossenen Ego und der Unendlichkeit Gottes. Job spielt auf dieser Grenze, ohne auf die eine oder andere Seite sich festzulegen: er hat erkannt, dass er in seinem abgeschlossenen Ego letztlich nichts vermag, denn alles ist ihm von dem einen auf den anderen Augenblick genommen worden. Und dies kann jederzeit immer wieder passieren, denn Job ist kein außerordentliches Einzelschicksal, sondern „conditio humana“. Und auf der anderen Seite hütet er sich ganz in Gott hineinzufallen, weil er sich dann ganz in seiner Unendlichkeit auflösen würde. Job hat ein Gespür dafür, dass er jetzt nicht Nachhause gerufen wird, sondern weiterhin ausgesandt ist in die Welt und diese Sendung ergreift Job, egal wie unverständlich und schmerzlich sie für ihn auch sein mag.
„Dieses Er-fahren, der fernste, in die äußerste Ferne der Nähe des Anfänglichen reichenden Schmerze des Innenstehens im Unterschied des ersten und des anderen Anfangs; nicht der Schmerz des Nicht-wesens dass ersten, sondern des Austrags des Abschieds im anderen Anfang.“ (Heidegger 2009: 28) Der Ansatz aus Heideggers Spätphilosophie gibt uns heute eigentlich ein viel tieferen Zugang zu Job, als dies eine full-fledged Theologie gibt, die sich ihres Gotte sicher ist, seine Eigenschaften dogmatisch festlegen kann und Herr Ratzinger ist vermutlich sogar über seine Haarfarbe und Frisur im Himmel informiert (siehe oben zur Auferstehung im Fleische). Jobs viel tieferer Glaube weiß von dem alles nichts bzw. nichts mehr bzw. noch besser verlernt dies immer mehr und lässt dieses Wissen los. Damit ist die Orientierung vielmehr bei Nietzsche und Heidegger, als an Pius IX. ff., mit den Ausnahmen Johannes XXIII. und Franziskus.
Eine sich durchziehende Konstante im Buch Job ist, dass er an keiner Stelle versucht, dass was geschehen ist durch den allmächtigen Gott wieder rückgängig machen zu lassen. Auch wenn es hochgradig absurd erscheint, aber gerade Job lebt ein amor fati! Denn er fügt sich nicht nur in sein Schicksal und ergibt sich diesem, sondern er ergreift es und kämpft damit.
Das amor fati schließt für Heidegger auch seinen gesamten Abschnitt zur Ewigen Wiederkehr in seinem Nietzsche-Buch. Wobei der Gedanke der Ewigen Wiederkehr bei Nietzsche die größte Annäherung ist, die für ihn an die Stelle eines traditionellen Gottesglaubens tritt. Mit dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr als amor fati ist nach Heidegger Nietzsches metaphysische Grundstellung gekennzeichnet. Dabei wird amor als der Wille verstanden, der will, dass das Geliebte sei, was es ist - und dies in seiner höchsten Möglichkeit seines Seins. Das fati ist dann der jeweilige Augenblick, der die ganze Fülle des Seins trägt und beinhaltet. Über den nicht hinausgewollt wird, etwa in eine verklärte Vergangenheit oder utopische Zukunft. Denn es gibt immer nur diesen Augenblick, der in sich das ganze Leben trägt (siehe Avatamssaka-Sutra). Das fati ist dabei kein "nice to have", sondern eine Notwendigkeit, ja, die Grundbedingung für den Willen. Es ist keine Option oder kein "vielleicht", es gibt auch keine Alternative. Es ist ausweglos, aber nicht im Sinne eines ohnmächtigen ausgeliefert-Seins, sondern eines aktiv Schaffenden, Entschiedenen und gestalten. Es ist ein Ja, ein großes Ja und eine Liebe zu dem jeweiligen Augenblick, der dass ganze Leben in sich schließt und der seine Vollendung darin findet, indem er nicht nur angenommen, sondern so gewollt und geliebt wird, dass er sich auf ewig sich wiederholend genommen wird. Die Umsetzung und gestalterische Schöpfung des Willens in jedem Augenblick selbst markiert die Zugehörigkeit "zum Seiendsten des Seienden" (Heidegger 1996: 422).
Jeder ist in der Welt, die er sich erschafft (klar, man kann nicht alles haben und manche werden für immer in Chorweiler bleiben)... aber man muss sich immer auch dessen bewusst sein, dass jeder Tag eine Entscheidung für den Augenblick bringt: Wie will und kann ich leben? Was kann ich ändern, was nicht? Entscheide ich mich trotzdem dafür oder dagegen?
Aber ist dieses aktiv sein Leben zu gestalten wirklich das Wesentliche? Das Milchbrötchen ist äußerst aktiv “sein” Leben zu gestalten… die Frage ist nur, ist es “sein” Leben? Und dieses Wesen des eigenen Lebens zu sehen, ist in der Regel verstellt, wird nicht gesehen. Es werden nur die Angebote des Seienden gesehen, aber nicht das Sein, was den jeweiligen Menschen ausmachen könnte. Den Ruf, dem nur er oder sie folgen kann und nicht die Karriere, die wenn man stirbt so schal ist wie ein ONS.
Und es bedeutet auch, sobald man das Wesen seines Lebens erkannt hat, dass man diesem Ruf auch folgen muss, alles andere ist falsch und ein Scheinleben. Und aus dieser Erkenntnis oder aus diesem Ruf heraus muss man dann aktiv in jedem Augenblick handeln. Was von außen genauso wie das Handeln vom Milchbrötchen aussieht, aber eigentlich etwas gänzlich anderes ist.
Und es geht hier nicht darum, dass es um ein Aufwiegen und Bilanzieren von Augenblicken geht, d.h. die guten Momente überwiegen und dass deswegen die schlechten auch angenommen werden können. Sondern es geht um das jeweilige Sein als Ganzes. Im Schweigen zeigt sich der Grund aus dem sich die jeweilige Welt entfaltet.
14. Ende Jobs Antwort
Die Sterblichen, von einer Frau geboren, sind kurzlebig und haben viel Zorn in sich,
Sie sind wie aufblühende Blumen, die dann herabfallen,
Laufen dahin wie der Schatten, den man nicht festhalten kann.
Und hast du nicht alles über ihn ins Wort gebracht,
Und hast du nicht eingeleitet, dass über ihn gerichtet wird?
Aber wer wird schon rein von Schmutz sein? Nämlich niemand.
Denn ob sein Leben nur einen Tag auf dieser Erde wäre,
Oder gezählt sind seine Monate durch dich,
Seine Zeit ist gesetzt - und er wird sie nicht überschreiten können.
Wende dich ab von ihm, damit er ruhig sei,
Und ein kurzweiliges Leben wie ein Tagelöhner habe.
Denn für einen Baum gibt es Hoffnung:
Wird er gefällt, so treibt er dennoch aus,
Weil seine Wurzel nicht ausgerissen ist.
Denn selbst wenn alt seine Wurzel in der Erde ist,
Und sein Stamm sich in den Fels verwachsen hat,
Wird er von der Feuchtigkeit des Wassers austreiben,
Und als Ertrag eine Jungpflanze haben.
Der Mann, der gestorben ist, ist ganz ausgelöscht,
Ist gefallen der Sterbliche, ist er nicht mehr.
Denn die Zeit lässt selbst das Meer verschwinden,
Und den Fluss zur Wüste austrocknen.
Der Mensch, der entschlafen ist, wird nicht wieder aufstehen,
Und der Himmel wird verschlossen bleiben,
Und sie werden aus ihrem Schlaf nicht wieder geweckt.
Denn ich muss in den Hades und werde dort gefangen,
Und verborgen, bis dein Zorn sich gelegt hat,
Meine Zeit ist bemessen, bis du dich meiner erinnerst.
Denn wenn ein Mensch gestorben ist, wird er dann leben,
Wenn seine Tage vollendet sind?
Ich werde dies aushalten, bis ich neu entstanden bin.
Du wirst rufen, ich werde dich hören,
So wird das Werk deiner Hände nicht verworfen.
Gezählt hast du meine Übertretungen,
Und nicht wird von dir durchgelassen eine meiner Sünden.
Aufgehoben und versiegelt hast du meine Gesetzlosigkeiten in einer Grube,
Benannt meine Fehltritte.
Ein ganzer Berg wird abgebrochen,
Und ein Fels wird aus seinem Ort gerissen.
Steine werden durch Wasser geglättet,
Und freilaufendes Wasser wird jede Formation von Erde wegspülen,
Und die Standhaftigkeit des Menschen schwindet.
Du hast ihm ein Ende gesetzt, und er ist entschwunden,
Du hast ihn vor dein Angesicht geholt, und ihn wieder weggeschickt.
Viele Söhne wird er gezeugt haben, aber er wird dies nicht erleben,
Noch nicht einmal wenige Nachkommen, wird er erkennen.
Vielmehr ist sein Fleisch voller Schmerzen,
Und seine Seele voller Trauer.
„Alles in diesen Heften Niedergeschriebene, sollte es je in andere Hände kommen, werden nur die verstehen, die sich der einmal gemachten und forthin wachgehaltenen Grunderfahrung nicht mehr zu entschlagen vermögen, daß der Mensch in der Fremde, nicht in der Heimat, im Kerker, nicht in der Freiheit lebt. Diese Erkenntnis ist schrecklich: Sie zersetzt alle Gründe der großen Hoffnung auf Ausbruch, sie verätzt alle hiesig realisierbaren Werte zu letztlich Unwert, sie veruneinigt alle vorletzten Sinne. Diese Erkenntnis rät entweder zur totalen Resignation, zu hoffnungslosen Fügung ins Verfügte, zu Existenz als Passion, oder sie erzeugt das leidenschaftlichen Nein zum Gegebenen, das solidarische Aufbegehren, den Protest gegen den status miseriae der ungefragt und unerbeten auferlegten Existenz.“ (Stier 1981: 246) Dies ist die vorweihnachtliche Stimmung von dem Alttestamentler Fridolin Stier am 22.12.1972. Es ist sicher kein Zufall, dass von den wenigen Büchern, die er publiziert hat, eines über Job ist (Stier 1954), denn auch seine eigentlich privaten Aufzeichnungen kommen aus einer Haltung, die der Job sehr ähnlich ist und die oben als Parrhesia bezeichnet wurde. Stier nimmt diese Haltung aber in seinen privaten-öffentlichen Aufzeichnungen ein: hier spricht er sich nicht als wissenschaftlicher Theologe aus, sondern als ein Mensch, der jeden Tag ganz ohne theologisches Korsett mit Gott ringt, ob sein Glaube bzw. seine Beziehung zu Gott trägt. Diese vorweihnachtliche Stimmung von Fridolin Stier stellt eigentlich auch gut den Abschluss der ersten Gesprächsrunde von Job dar.
Diese Heimatlosigkeit und Ohnmacht im Kerker zu sein, beschreibt Job in kurzen Skizzenstrichen in seiner ganzen pessimistischen Dunkelheit: als sterblicher Mensch hat man damit zurecht zu kommen, dass man nur ein kurzes Leben hat und aus dieser Ohnmacht und Nicht-Verstehen des eigenen Endes und Sterbens erwächst dieser ohnmächtige Zorn. Ein Zorn, der aber meist die eigenen Ursache verdeckt, weil meistens eben vor dieser eigenen Sterblichkeit weglaufen wird. Und dann wird dieser ohnmächtige Zorn im Alltag ausgelebt, weil das Leben nicht gelingt, da versucht wird in diese kurze Lebenspanne alles reinzupacken, um etwas für die „Ewigkeit“ zu schaffen: als Kanzler, Nobelpreisträger oder jemand der die meisten Reibekuchen essen kann oder ein Pöstchen in Job erreicht hat. Aber eigentlich ist das menschliche Leben nur wie eine Blüte, eigentlich ganz schön anzusehen, wenn sie nicht vergiftet durch den verbitterten Zorn ist (sieht man z.B. an Babys). Diese Blüten fallen aber schnell herab und vermodern - und selbst der Gärtner kann sich am Ende des Sommers nicht mehr an jede einzelne Blüte erinnern, die jetzt auf dem Kompost liegen und sich zur nahrhaften Erde für das nächste Jahr verwandelt - so wie diese Blüten ist letztlich auch jeder Mensch. Oder das zweite Bild, der Mensch ist wie ein Schatten, den man zwar in dem Moment sehen kann, wo er da ist, den man aber nicht festhalten kann - und der mit der untergehenden Sonne einfach verschwindet, ohne dass wir viel dagegen tun könnten. Der Mensch als unfassbares und nicht festhaltbares Schatten-Dasein.
Aber anders als die Blume, verblüht der Mensch nicht einfach nur, sondern ist zusätzlich für sein Dasein Gott eine Bilanz schuldig: so dass vor Gott alles zur Sprache kommt, was der Mensch in seinem Leben gemacht hat und dieses beurteilt wird. Sicherlich wird da viel Gutes bei sein, aber kein Mensch kann eine rundweg positive Bilanz abliefern - vor allem auch nicht vor sich selbst. So dass der Ausgang dieser Bilanz eigentlich feststeht, so dass der Mensch per se dieses Gericht vor Gott und sich selbst nicht bestehen kann.
Das ist die hoffnungslose Bilanz, die Job zieht und er sieht, dass hieran nichts zu ändern ist. Der Mensch ist ins Dasein geworfen, ohne dazu vorher gefragt worden zu sein und hat ungefragt diese Bürde auszutragen und zu verantworten (siehe die Geworfenheit des Daseins bei Heidegger (1992)). Aus diesem ungefragten Geworfensein kann dann auch noch einmal Jobs Klage über das Nicht-Geborensein was er im Sinne der Weisheit des Silenen formuliert hat verstanden werden: als der Wunsch ein Ja oder Nein VOR dem eigentlich Dasein zu formulieren, um diese Freiheit und damit auch Verantwortung nicht nachträglich ungefragt übernehmen zu müssen. Der Mensch ist aber in diesen Kerker geworfen, dass er nicht über sein eigenes Geworfensein ins Dasein entscheiden kann, noch kann er sein Ende bestimmen (er kann es zwar verkürzen, aber wenn man nicht ein radikal atheistisches-ichzentriertes Weltbild hat, hat man mit einem Selbstmord nichts gewonnen).
Job erkennt aber die Sinnlosigkeit eines solchen Wunsches und fordert von Gott eigentlich nur, dass er den Menschen in seiner kurzen Lebenszeit möglichst in Ruhe lässt und ihn wie einen Tagelöhner leben lässt, der auch nur von Tag zu Tag lebt und versucht sein karges Dasein zumindest in aller Einfachheit von Moment zu Moment zu leben und dem einen bescheidenen Genuss abzuringen, ohne sich große Sorgen über die Zukunft zu machen. Aber es gibt sicher auch reiche „Tagelöhner“, die ein solches Dasein in üppigen Luxus leben, dabei die Zukunft ihres Todes vielleicht sogar erfolgreich verdrängen, aber letztlich in der gleichen Lage sind.
Am Anfang des Gespräches macht Job deutlich, dass wenn er gefragt worden wäre, er nicht ins Dasein geworfen werden wollte. Und paradoxerweise klagt er jetzt darüber, dass nach dem Tod des Menschen nichts mehr kommt. So beklagt Job, dass der Mensch nicht wie der Baum ist, der auch wenn er schon tot scheint, nur ein wenig Feuchtigkeit benötigt, um wieder auszutreiben und neues und junges Leben aus sich heraus erzeugt. Ist dagegen der Mensch einmal gestorben, ist und bleibt er tot. Zwar gibt es die Auferstehungshoffnung, aber die hat in diesem Leben keinerlei Evidenz und bleibt ein Glauben. So stellt auch der Talmud in Baba Bathra fest, „daß Ijob die Auferstehung der Toten leugnete.“ (Goldschmidt 1933: 63) Und auch heute erkennt die wissenschaftlicher Exegese etwa in Bezug auf Job 14, 12: „Der Vers zeigt deutlich, dass auch das ursprüngliche griech. Ijobbuch keine Auferstehungshoffnung vertritt (vgl. 3,21f.; 7,9f.)“ (Karrer/Kraus 2019: 2090)
Aber warum leugnet Job dies? Die Auferstehungshoffnung scheint für Job ein billiger Ausweg zu sein bzw. kann dies schnell sein, wenn man dies falsch versteht. Denn genauso wenig wie wir wissen, ob nach dem Tod Nichts kommt, wissen wir ob es ein Paradies mit 40 Jungfrauen gibt: beides ist möglich, aber vermutlich wird es ganz anders sein, als alles was, wir uns darunter so vorstellen. Hier bleiben uns eigentlich keine konkrete Hoffnungsvorstellung übrig und es ist sicher ratsam hier mit einer deutlichen Zurückhaltung vorzugehen, auch wenn das menschliche Bedürfnis in dieser Hinsicht sehr stark sein kann. Aber ein eschatologischer Vorbehalt, wie ihn Karl Rahner formuliert hat, erscheint als ein sehr ratsame Haltung. So schreibt Rahner: „Eschatologie ist also nicht die antizipierende Reportage später erfolgender Ereignisse,“ sondern es geht darum, „daß die Aussage über die jetzige Situation des christlichen Daseins bzw. ihre Offenbarung nicht zusätzlich ergänzt wird durch eine davon schlechthin verschiedene Mitteilung über Zukünftiges, sondern eben diese Mitteilung schon ist.“ (Rahner 1960: 414)
Job muss für sich die Auferstehung auf eine andere Art realisieren und nicht als Gewissheit, dass ein neuer Spross aus seinem toten Leib erwächst und er so zu neuem Leben findet. Aber für Job bleibt eben auch keine genuin jüdische Hoffnung, dass gerade das irdische Leben und eine breite Nachkommenschaft die wesentliche Hoffnung darstellt. Denn Job ist dies alles genommen worden und er hat dadurch erkannt, dass selbst wenn man dies erreicht hat, es mit einem Schlag genommen werden kann und man dann tief in der Scheiße sitzt. Denn Job hatte ein ideales jüdisches Leben, davon ist aber vom ein auf den anderen Tag nichts übrig geblieben, außer dem Leid - so dass sich gezeigt hat, dass dies nicht trägt. Und Job weiß auch, dass er keinen zweiten irdischen Versuch hat - was er hatte und was ihm nun genommen wurde, das war sein Leben, seine große Liebe und es ist vollkommen unrealistisch dies erneute zu finden, weil dieses Leben schon im ersten Anlauf ein unverdientes und unwahrscheinliches Geschenk gewesen ist.
Damit stellt sich für Job die Frage, was ein Leben in und aus Gott in dieser Situation noch sein kann? Er hat die Vorstellung auf ein paradiesisches Leben nach dem Tod aufgeben und hat auch hier alle irdischen Güter und seine Liebe verloren. Hier stellt sich die Frage, was am Ende die Zurückgeworfenheit in Schmerz und Trauer für Job bedeuten kann: „Ist [hier] ausgedrückt: Gott stößt den Menschen zunächst aus der Gemeinschaft mit ihm, dann aus der Gemeinschaft der Seinigen hinaus ins völlige Alleinsein in Schmerz und Trauer? Mit anderen Worten: Was ihm bleibt, ist das Weh, der Schmerz, das Leiden seines ‚Fleisches bei ihm und seiner Seele bei ihm‘? ‚Sein Fleisch [seine Seele] bei ihm‘ = er allein mit sich selbst.“ (Stier 1954: 292)
Und trotz dieser radikalen Einsamkeit, in die Job geworfen worden ist von Gott, scheint gerade hier paradoxerweise ein neuer Spross an Hoffnung zu entstehen, der aber so radikal anders ist, als die meisten Auferstehungshoffnungen, nämlich ein seliges Leben ganz eigener Art: „Dieses ‚Selig‘ ist das ‚Selig‘ einer Liebe, die Gott liebt Allein um Seiner Selbst willen, die zu Gott ja sagt, da Er schlägt, die zu Gott ja sagt Mitten im Feuer. Nicht aus einem Hochmut und Stolz der Selbstgenügsamkeit heraus, sondern weil dieser Mensch spürt mitten in der Finsternis des Aussatzes, daß es Gottes Feuer der Liebe ist, das da brennt und schlägt, um umzuwandeln und umzuschaffen in ein neues Leben der größeren und immer größeren Liebe.“ (Przywara 1956: 499)
Diese Umwandlung (καταλλαγή) durch Entzug, soll im weiteren vor allem durch die Begrifflichkeit von Heideggers Spätphilosophie greifbarer gemacht werden, um auf diese Weise ein Raster zu haben, für den weiteren Pilgerweg von Job, bis zu dem Punkt, wo er dann auf Gott selber wieder trifft. Aber diese Begegnung mit Gott muss er vorbereiten, und in sich selber ganz leer werden. Und an diesem Punkt ist er am Ende der ersten Gesprächsrunde noch nicht. Job hat zwar alles verloren, aber er ist noch lange nicht selber leer geworden.
Der wissenschaftliche Exeget interpretiert am Ende der ersten Gesprächsrunde auch entsprechend: „Nicht in der Gottesnähe, in der Gottesferne sucht Ijob Geborgenheit!“ (Schwienhorst-Schönberger 2007: 82) Allerdings wird dies dann nicht weiter ausgeführt, obwohl eigentlich genau hier die wirklichen Fragen erst beginnen: Wie kann man denn überhaupt die Gottesferne suchen? Und warum sollte man dies tun, anstatt die Gottesnähe? Und wie kann man in einer solchen Gottesferne leben?
Zunächst ist erstmal klarzustellen, dass Job die Gottesferne nicht von sich aus sucht, sondern durch die Schläge des Diabolos dort hineingestoßen worden ist. Die zweite Schwelle wäre dann, ob Job sich freiwillig entscheidet, in dieser Gottesferne zu bleiben, um nicht die Zuflucht im sicheren Hafen der weisheitlichen Dogmatik seiner Freunde zu suchen. Aber auch dies scheint eher keine wirkliche Entscheidung zu sein, sondern angesichts seiner Situation ist die Weisheitslehre des traditionellen Judentums nicht mehr plausibel - und trägt ihn nicht mehr in seinem Leid.
Heidegger hat diese Ferne, diesen Entzug, den Verlust sehr zentral in seiner Philosophie auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Für Heidegger zeigt sich, „daß das Denken erst im äußersten Entzug des Seins das Wesen des Seins erblickt. Dies ist vermutlich durchaus in der Ordnung des Menschenwesens, wenn anders wir so geartet sind, daß uns erst im Verlust des Verlorenen aufscheint, was uns gehört.“ (Heidegger 1997: 84) Was in dieser Form durchaus als Sinnspruch in einem Kalender stehen kann, führt Heidegger in seinem Denken allerdings immer weiter in die Tiefe und in den Grundzug unseres Daseins.
Heidegger thematisiert diesen Entzug bereits in „Sein und Zeit“, um darüber den Charakter von Welt und unser In-der-Welt-Sein zu zeigen. Denn unsere eingerichtete und vertraute Welt und unser Alltag ist geprägt durch „zuhandene“ Dinge, wie etwa dem Hammer, mit dem ich einen Nagel einschlagen kann. Diese Struktur der Zuhandenheit ist uns eigentlich kaum bewusst, denn wenn ich einen Nagel einschlagen muss, hole ich den Hammer, hämmere den Nagel ein und bringe den Hammer wieder an seinen Platz. Diese Struktur fällt mir erst auf, wenn der Hammer kaputt ist und z.B. der Hammerkopf vom Stiel abgefallen ist. Dann wird die Struktur bewusst, weil nach funktionalen Äquivalenten gesucht werden muss (um einen Begriff der Systemtheorie zu verwenden). So zeigt sich, dass der Hammer kein Hammer ist, weil dies in diesem Stück Holz und Metal liegt. Diese sind weiter vorhanden wie vorher, nur eben nicht als Hammer. Dagegen wird jetzt die Umgebung nach einem „Hammer“ abgesucht und zwar einem Hammer, den man nicht im Baumarkt findet. Man kann es mit einem Buch versuchen, aber wird schnell merken, dass Bücher für nix gut sind. Aber einen Stein könnte man verwenden. Der Stein war aber vorher kein Hammer, sondern ist nur in dieser Situation dazu gebraucht worden. Und erst über den defekten und damit sich entziehenden Hammer wird die Funktion und der Sinn der Situation bewusst und gibt so den Anstoß und die Chance über diese Struktur nachzudenken und diese auch neu zu ordnen.
Vielleicht ist dies in analoger Weise auch auf den Glauben an Gott zu übertragen. Auch hier ist ein fester Kindheitsglauben eine sehr wichtige Grundlage. Aber irgendwann muss der Osterhase, das Christkind, Gottvater mit weißem Bart auch getötet werden. Irgendwann müssen auch die moralischen Werte abgeschafft werden, weil man eher aus einer Haltung seine Situation beurteilen muss, als aus einem Wertekatalog. Irgendwann muss auch die Dogmatik wegfallen, denn wer hat schon soviel Zeit in seinem Leben für die wissenschaftlichen und römischen Spiegelfechtereien. Denn wenn man einmal wirklich vom Leben direkt angegangen worden ist, merkt man, dass diese Kategorien alle nicht wirklich tragen, immer nicht ausreichend sind, für eine Erklärung, und auch nie wirklich den Kern treffen. Sie sind bestenfalls Hilfsmittel auf dem Weg, genauso wie das Floß, mit dem man den Fluß überquert: denn das Floß muss liegen bleiben am Ufer, denn man wäre ja irre aus Dankbarkeit für die Flußüberquerung nun an Land das Floß mitzuschleppen. Dies gilt genauso auch für Dogmatik und Exegese.
Für den bedeutenden Philosophen der Postmoderne Gianni Vattimo ist die Abkehr von einer Dogmatik der zentrale Aspekt, den er in Heideggers (frühen) Auseinandersetzung mit dem Christentum erkennt „Die Trennung zwischen dem Glaubenden der Urchristen und dem repräsentativen Denken des Antichrist […] verweist auf die Aufgabe, einen Glauben ohne ‚Inhalt‘ - also vielleicht ohne Dogmen und ohne eine Theologie als Wissenschaft - zu denken. In die gleiche Richtung scheint auch die polemische Bemerkung gegen die Mystik zu gehen, auch sie ist ein ‚antichristliches‘ Zugeständnis an das Bedürfnis nach einem ‚Objekt‘ der Versenkung, mit der man sich von der ‚Schwachheit‘ der Existenz befreit, von der thlipsis, welche die einzig authentische Ar und Weise isst, die parusia zu erwarten. […] Die Authentizität, welche die den Tod vorwegnehmenden Entschlossenheit möglich macht, läßt sich vielleicht nicht als Erfahrung von Sinn denken - die Existenz des authentischen Daseins, etwa die des Paulinischen Christen, ist eher als Mangel und Bedrängnis charakterisiert, als ständiger Verzicht darauf, sich für ‚klug‘ zu halten, eben als Schwachheit, die in der Erwartung der parusia ertragen wird.“ (Vattimo 2004: 181f.) Wobei Vattimo hier unter Schwachheit eine postmoderne Erkenntnisweise versteht, die nicht nur eine starke Wahrheit gelten lässt, sondern von einer Pluralität schwacher Wahrheiten ausgeht (Vattimo 1986). Vattimo schließt sein Buch mit der Frage, „ob es hier [bei Heidegger] nicht bedeutsame Hinweise darauf gibt, das Bemühen der Philosophie um Überwindung des metaphysischen Objektivismus positiver und produktiver mit der Suche nach einer Auffassung des Christentums zu verbinden, die auf der Ebene der Dogmen wie auf der Ebene der Ethik endlich in der Lage wäre, das eigene ökumenische Bewußtsein auch und vor allem als Hören auf die neue - postmoderne - Epoche des Seins zu denken.“ (Vattimo 2004: 184f.)
Und hier ist man dann am Punkt von Job angekommen. Ihm ist das Leben direkt begegnet, in seiner ganzen Unfassbarkeit, Brutalität und Direktheit. Und er sieht sehr deutlich, dass die Weisheitslehre, die bisher seine Wertegrundlage gewesen ist, hier nicht mehr trägt. Dass das Leben nicht auf den Begriff zu bringen ist. Und hier hat Job sehr tief seinen konkreten Gott verloren, dieser Gott ist für Job gestorben, Job nimmt ihn nur noch in seinem Entzug war - und dennoch ist er kein Atheist. Aber vermutlich ist er mehr Atheist, als Opus Dei oder Maria 2.0, und das ist gut so!
Vielleicht ist es auch ein Weg zu glauben, wenn man dafür den Weg Jobs oder auch Nietzsches geht. Und auch Fridolin Stier findet in diesem Gottesentzug seinen Weg, auch wenn er weit mit dem Atheismus mitgeht, es bleibt ein letzter, aber sehr feiner Unterschied, den auch Job spürt und etwa nicht auf den Rat seiner Frau einsteigt und Gott abschwört: „Es ist nicht (nur) spielerische Denklust und bornierte Konsequenzenmacherei, die mich treiben, mir die atheistische Weltschau und die ihr, wenn sie redlich ist, entsprechende Existenzerfahrung unerbittlich bis zur radikalen Sinn- und Hoffnungslosigkeit bewußtzumachen, sie mir denkend, sinnend und - fühlend zu vergegenwärtigen. Es geht mir da nicht um ein theoretisch-theologisches Problem. Sitzt der Atheist nicht auch in mir selbst? Aber etwas ist in mir, das sich weigert, die atheistische ‚Option‘ zu akzeptieren. Was drängt mich, an den Rand zu treten, und läßt mich nicht los, erschaudernd im Anblick des fossilischen Milliardenfriedhofs in den Abgrund, in die äußerste Finsternis zu blicken? […] Mich aber - / mich laßt umsinnen / das dunkle Geheimnis!“ (Stier 1981: 252f.)
Es geht darum trotz aller Sprach- und Fassungslosigkeit, trotz aller Ohnmacht und Leid diesem Geheimnis zu trauen und sich und die man liebt diesem Geheimnis anzuvertrauen. Aber dieses Geheimnis wird der Mensch nie wissen können und er wird auch nie Wissen welches Verhalten von ihm von diesem Geheimnis erwartet wird. Hier bleibt nur Hoffnung: „Denn wenn Gott ein Ende macht, dann ist er, Gott, da. Und das heißt, daß auf das Ende nicht Nichts folgt, sondern die Verwandlung des solchermaßen begrenzten und beendeten Daseins durch den uns mit sich selbst begrenzenden und beendenden Gott.“ (Jüngel 1977: 542; vgl. auch ders. 1971: 148ff.) Auf diese Verwandlung hofft Job weiter, diese Verwandlung „umsinnt“ Stier, Nietzsche trägt einen harten Kampf bis in die letzten Tiefen der Finsternis damit aus und Heidegger hört auf die Winke eines kommenden Gottes. Niemand weiß konkret um diese Verwandlung, weder wer verwandeln wird, noch zu was hin die Verwandlung stattfindet.
Der Mensch hat nichts in der Hand, um diese Verwandlung zu erlangen, weder durch gutes Handeln noch durch Ablaß. Es ist reine Hoffnung, die außer dieser Hoffnung nichts mehr in den Händen hält. „Während der vor seinen definitiven Grenzen und vor allem vor seinem Ende resignierende Mensch mit seiner Resignation - sozusagen im Modus des Verzichtes - noch immer auf das ontologisch fehlorientierte Ideal des Menschseins als Selbsthabe und Selbstbesitz fixiert ist, kann der den kommenden Gott als Ende erhoffende Mensch sich selbst entlassen. Er kann sich in einem sehr präzisen Sinn gehen lassen - eben dem kommenden Gott entgegen.“ (Jüngel 1977: 542) Job befindet sich genau auf diesem Weg. So hat er durch den Diabolos eigentlich seine ganze Habe verloren, außer sich selbst (dies hat Gott dem Diabolos explizit verboten). Sich selber muss Job erst selber verlieren, sich selber loslassen und sich selber töten (wie der Zen sagt). Dies kann niemand ihm abnehmen, auch nicht der Diabolos - und auch nicht Gott, weil es dann keine freie Zuwendung zu Gott mehr wäre. Jobs sehr schmerzhafter Pilgerweg besteht nun in diesem Gehenlassen und Loslassen seiner Selbsthabe und Selbstbesitz. Dies steht zwar in einer sehr enge Beziehung zu dem was man auch im chinesischen Chan- und japanischen Zen-Buddhismus findet, aber es steht eigentlich konträr zu den meisten westlichen geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung, die es insbesondere seit Descartes gibt.
„Im Glauben auf den von sich selbst her zur Welt gekommenen Gott zurückkommend, in der Liebe von dem auch im Tod zu sich selbst kommenden Gott mitgenommen und in der Hoffnung dem als Gott kommenden und so der Liebe zum Sieg verhelfenden Gott entgegengehend, wahrt der Mensch Gott als Geheimnis der Welt. Deshalb bleiben Glaube, Liebe und Hoffnung (1 Kor 13,13). Sie bringen - in ihrer Zusammengehörigkeit - auf menschliche Weise zum Ausdruck, daß Gottes Sein im Kommen ist. So gehören sie als menschliche Akte und Seinsweisen zu Gott als Geheimnis der Welt. Weil aber im Ereignis der Liebe Gott und Mensch dasselbe Geheimnis bereits teilen, deshalb ist die Liebe die größte unter ihnen“ (Jüngel 1977: 542f.; vgl. auch Przywara 1923; Rahner 1960: 50ff.), so die christlich gewendete Hoffnung, etwas zu theologisch formuliert, aber durchaus an der Erfahrung orientiert. Für Jüngel geht es dabei darum, dass der Glaube durch die Liebe den Menschen von einem selbständig Habenden zu einem in Beziehung stehenden Seienden macht. „Die Liebe jedoch macht aus Habenden Seiende, die - als hätten sie nicht - zu werden verstehen: nämlich in der beziehungsreichen Unterschiedenheit von dem Gott, der die weder erschleichbare noch erzwingbare, ganz und gar nicht notwendige, eben so aber mehr als notwendige Liebe ist, eigentümlich menschliche und immer noch menschlicher werdende Menschen.“ (Jüngel 1977: 543) Und Kurt Marti zitiert ganz in diesem Sinne G. K. Chesterton „Die Rätsel Gottes sind befriedigender als die Lösungen der Menschen.“ (Marti 2010: 27), während das Rätsel im Sein verbleibt und Lösungen ein Haben vorgaukelt, was schnell wieder vergeht.
Heidegger denkt diesen geheimnisvoll Gott, der nur im Kommen erfahrbar ist, noch deutlich radikaler als dies Jüngel tut. „Die größte Nähe des letzten Gottes ereignet sich dann, wenn das Ereignis als das zögernde Sichversagen zur Steigerung in die Verweigerung kommt. Dies ist etwas wesentlich anderes als die bloße Abwesenheit. Verweigerung als zugehörig zum Ereignis läßt sich nur erfahren aus dem ursprünglicheren Wesen des Seins, wie es im Denken des anderen Anfangs aufleuchtet.“ (Heidegger 1989: 411) Heidegger verwendet gerade in der Spätphilosophie oft sehr dichte Textpassagen, wo die Worte oft nur Anspielungen und Winke sind, ohne dass diese klar umrissen und definiert sind, sondern eher dem jeweiligen Nachdenkenden überlassen bleiben, diese selber zu füllen und zu erfahren. Aber genau in dieses Nachdenken lassen wir uns mit Job hineinwinken.
Während der Exeget Schwienhorst-Schönberger noch Gottesnähe und -ferne als Gegensätze oder Alternativen angesehen hat (allerdings die Geborgenheit quasi als undefiniertes tertium comparationis verwendet), kann Heidegger dies paradox als Steigerungsverhältnis denken. So thematisiert er dies anhand eines Ausspruches von Heraklit (Frg. 123): φύσις κρύπτεσθαι φιλεί. Diels/Kranz (1964: 178) übersetzen dies mit „Die Natur (das Wesen) liebt es sich zu verbergen.“ Heidegger mit „das Wesen der Dinge versteckt sich gern“ (Heidegger 2000: 277) bzw. „Zum Sichtentbergen gehört ein Sichverbergen“ (Heidegger 1997: 103) und Google Translate mit „Die Natur verbirgt Küsse“. Heideggers Interpretation dieses Verhältnisses beschreibt auch gut die Nähe und Ferne Gottes: „Das Aufgehen ist als solches je schon dem Sichverschließen zugeneigt. In dieses bleibt jenes geborgen. Das κρύπτεσθαι ist als Sichverbergen nicht ein bloßes Sichverschließen, sondern ein Bergen, worin die Wesensmöglichkeit des Aufgehens verwahrt bleibt, wohin das Aufgehen als solches gehört. Das Sichverbergen verbürgt dem Sichentbergen sein Wesen. Im Sichverbergen waltet umgekehrt die Verhaltenheit der Zuneigung zum Sichentbergen. Was wäre ein Sichverbergen, wenn es nicht an sich hielte in seiner Zuwendung zum Aufgehen? So sind denn φύσις und κρύπτεσθαι nicht voneinander getrennt, sondern gegenwendig einander zugeneigt. Sie sind das Selbe. In solcher Zuneigung gönnt erst eines dem anderen das eigene Wesen. Diese in sich gegenwendige Gunst ist das Wesen des φιλείν und der φιλία In dieser das Aufgehen und Sichverbergen ineinander verneigenden Zuneigung beruht die Wesensfülle der φύσις.“ (Heidegger 2000: 278f.)
Für Heidegger wird Gott wie bei Job auch nicht in einer vollen, tröstenden Nähe und Geborgenheit erfahren. Es ist kein Gott bei dem ich direkt Ruhe und Trost finde, kein Gott der anweist, was richtig und falsch ist oder gut und böse, sondern der sich erst immer mehr zögernd versagt, bis dahin dass er sich ganz verweigert. Es ist sozusagen die Entwicklung von einem vollen Kinderglauben hinzu einem Erwachsenenglauben, der sich aber davor bewahrt, nostalgisch in den vollen Kinderglauben zurückzufallen, sondern bereit ist diese Verweigerung auszuhalten und zu tragen.
Denn der Diabolos hat bei Job sehr richtig erkannt, dass Job eigentlich eine Form des Kinderglaubens pflegte: seine Welt war geordnet, auf Gott hin, was richtig und falsch ist war ebenfalls klar und auch dass diese letztlich nur durch Gott gegeben werden kann - alles wohl geordnet und definiert und greifbar. Dies ist Job alles durch die Schläge des Diabolos zerbrochen worden. Seine Weltordnung unterscheidet sich nicht mehr viel von dem eines Atheisten, aber es gibt diesen feinen Unterschied, den Job sowohl vom Atheisten aber auch von dem Opus Dei-Mann unterscheidet - eben das, was Stier das Umsinnen des dunklen Geheimnis genannt hat. Und dies ist auch der Unterschied, warum Heidegger sagen kann, das die Verweigerung nicht bloße Abwesenheit ist. Und auch Hans Urs von Balthasar erkennt dies in Job als Grunderfahrung: „Es ist, auf den Kosmos ausgeweitet, die Erfahrung Jobs: Gott west als Abwesender an.“ (Balthasar 1989: 262)
Heidegger umsinnt dieses Geheimnis darin, dass er dies als ontologische Differenz denkt. Hierunter versteht er den Unterschied von Sein und Seiendem. Jedes Seiende muss im Rahmen seines Seins in einem Verstehenshorizont verstanden werden, d.h. dass der oben erwähnte Hammer, kein Hammer ist, weil es in der Gegenständlichkeit des Stück Holzes und Metall liegt, sondern in seiner Gebrauchsweise. Und diese Gebrauchsweise weist in das Sein des Hammers. Dieses Sein ist in der Regel aber nicht bewusst und Heidegger kritisiert wehr weitreichend, dass die abendländliche Metaphysik weitgehend dem Seienden verfallen sei, und das Sein nicht in den Blick bekommen hat. Und dies ist paradox, weil wir das Sein je selbst sind, von dem aus wir erst die Dinge wahrnehmen, wie sie sind - und doch bleibt gerade dieses Sein im Dasein uns meist verschlossen und wir nehmen nur die ontischen Dinge in ihrem Gebrauch wahr. „Das Dasein ist zwar ontisch nicht nur nahe oder gar das nächste – wir sind es sogar je selbst. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste.“ (Heidegger 1992: 15) oder auch „Das Seiende, das wir je selbst sind, ist ontologisch das Fernste.“ (Heidegger 1992: 311) In gewisser Hinsicht hat auch Jüngel dies aufgegriffen, nur dass er er die Begriffe Haben für das Seiende und Seien für das Sein verwendet. Aber auch für Heidegger geht es genau um diesen Sprung.
Heidegger kommt auch in seiner Spätphilosophie immer wieder zu diesem Punkt zurück. Unter dem Begriff Einfall lässt sich auch gut der „Einfall“ bzw. „Überfall“ des Diabolos in das Leben von Job verstehen: „Es fällt lichtend ein in das (Seiende). Die Ein-fälle: Die φύσις - Aufgang, darin die Verbergung im Entzug. Die Loslassung in die Seinsverlassenheit. Die Zulassung der Machenschaft. Die Verwüstung des Seins in der Gestalt der unbedingten Ordnung des Ordnens des Seienden. Einfallend in das Seiende übereignet es den Menschen dem Da-seyn und übergibt ihn dem Adel der Armut, der sein Eigentum wird, darin er inständet. Das Er-eignis ist übereignender Einfall, so zwar, daß es ereignend lichtend zwischen das (Seiende) sich er-eignet als das Inzwischen für seine (des Seienden) Wahrheit.“ (Heidegger 2009: 183) Ein sehr dichter Text aus dem Nachlass, der keine Erklärungen, sondern „nur“ Hinweise zum nachdenken gibt.
Wenn man diesen Text für Job nachdenkt, könnte man sagen, dass der Diabolos lichtend in das Seiende, nämlich Jobs gutes und geordnetes Leben, einfällt. Aber lichtend meint hier nicht nur ausdünnen, wie etwa wenn man ein Waldstück lichtet, indem man hier die Bäume fällt. In der Lichtung wird schon etwas weggenommen, aber mit dem Ziel, dass wieder Licht einfallen kann. Vor diesem Hintergrund kann dann auch das Gewähren Gottes, dass der Diabolos sich an Job austoben kann, verstanden werden: denn es geht nicht nur darum, dass Gott das Leid Jobs zulässt, sondern Gott fällt in Jobs leben ein, um Job den Zugang zum Licht zu ermöglichen. Es geht nicht in erster Linie um das von Job ertragene Leid, sondern um den Zugang zum Licht. Gott schafft in Job eine Lichtung genauso wie im Wald. Das fällen der Bäume ist dabei ein Mittel, zu einem darüber hinausgehenden Zweck. Denn ohne Lichtungen funktioniert das ganze Ökosystem des Waldes nicht mehr. Es braucht diese hellen, lichten Orte im Wald - und genauso braucht der Mensch Orte des Seins, die vom Seienden befreit sind.
Diese „Ein-fälle“ lassen Job erst die „Wahrheit“ aufgehen, und zwar indem ihm alles Seiende entzogen wird und damit erst die Verbergung des Seins ans Licht kommt. Job wird darin losgelassen, dass er erst hinter allem Seienden, in dem er sich gut und gerecht eingerichtet hat, erst wieder von ihm das Sein geahnt wird, aber nur in seiner Seinsverlassenheit. Denn Job erfährt hierdurch nicht direkt das Sein bzw. Gott, sondern erfährt Gott in einer bisher von ihm nicht gekannten Intensität, aber eben in einer Gottesferne und -verlassenheit. Aber diese Gotteserfahrung ist in der Regel verdeckt, durch unsere Machenschaften und Ordnungsversuche im Seienden, und dies können genauso religiöse Rituale und Werte sein. Der Diabolos nimmt Job weite Teile seines Seienden und seiner Habe und übereignet ihn damit in den Adel der Armut. Aber dieser Adel ist nicht einfach da, wenn das Seiende von extern genommen wird, sondern Job muss sich diesen erst aneignen, „als das Inzwischen für seine (des Seienden) Wahrheit.“ (Heidegger 2009: 183)
Für Heidegger ist diese Wahrheit, als φύσις, ohne ein Verbergen und Verweigert gar nicht zugänglich. Hier braucht es die Pilgerreise in die Ferne, ins Fremde, in die Einsamkeit, um in dieser Gottesferne sich selbst und Gott als dieses Inzwischen zu finden bzw. nicht im Finden, sondern dies sich nur ereignet in einer nie endenden Suche einer Pilgerschaft. „Wir denken die φύσις auch dann noch vordergründig, wenn wir sie nur als Aufgehen und Aufgehenlassen denken und ihr dann noch irgendwelche Eigenschaften zusprechen, dabei aber das Entscheidende außerachtlassen, daß das Sichentbergen das Verbergen nicht nur nie beseitigt, sondern es braucht, um so zu wesen, wie es west, als Ent-bergen. Erst wenn wir die φύσις in diesem Sinne denken, dürfen wir statt το μη δυνον ποτε auch τήν φύσις sagen. Beide Namen nennen den Bereich, den die schwebende Innigkeit von Entbergen und Verbergen stiftet und durchwaltet. In dieser Innigkeit birgt sich die Einigkeit und Einheit des "Ev, welches Eine die frühen Denker vermutlich in einem Reichtum seines Einfachen geschaut haben, der den Nachkommenden verschlossen bleibt.“ (Heidegger 2000: 279)
Damit hat sich das Verhältnis von Ent- und Ver-bergen, von Nähe und Ferne nicht als Gegensatz oder alternative Haltungen herausgestellt, sondern sich als gegenseitig bedingend. „Sein ist nicht mit der Beschaffenheit ausgestattet, daß es sich entbirgt, sondern das Sichentbergen gehört zum Eigenen des Seins. Sein hat sein Eigenes im Sichentbergen. Sein ist nicht zuvor etwas für sich, das dann erst ein Sichentbergen bewerkstelligt. Sichentbergen ist keine Beschaffenheit des Seins, sondern: Sichentbergen gehört in die Eigenschaft des Seins.“ (Heidegger 1997: 102) Weiterhin werden beide Seiten nicht dialektisch aufgelöst, sondern bleiben in ihrer ganzen Härte in einer Paradoxie bestehen, in der Job immer weiter in die Verzweiflung getrieben wird, indem sein Schmerz sich immer tiefer in sein Herz frisst. Es geht für Job immer tiefer, auch wenn er meint schon längst am Boden zerstört zu sein und dann bricht auch dieser Boden wieder weg und ein neuer Abgrund tut sich auf. Aber diese Pilgerreise in den Abgrund von Job führt ihn immer weiter in das ursprüngliche ganz Einfache hinein, was Heidegger vor allen bei den frühen Griechen erkennt. Zumindest waren sie Zeitgenossen von den Ursprüngen des hebräischen Iijob-Buches. In dieses Eine hinein, in seiner Dynamik von Sich-Ent- und Ver-bergen führt Jobs Suche hinein.
Heidegger konstatiert, dass mit Platon dieser Ursprung immer mehr in Vergessenheit geraten ist und dieser Zugang den Menschen meist nicht mehr offen war. Erst in Hölderlin erkennt Heidegger einen Dichter, der sich hierfür wieder öffnen konnte und dichtend in dieses Offene hineinwinkt. So fragt Heidegger im Anschluss an Hölderlin, „wie kann, was seinem Wesen nach unbekannt bleibt, je zum Maß werden? Denn solches, womit der Mensch sich misset, muß sich doch mitteilen, muß erscheinen. Erscheint es aber, dann ist es bekannt. Der Gott ist jedoch unbekannt und ist dennoch das Maß. Nicht nur dies, sondern der unbekannt bleibende Gott muß, indem er sich zeigt als der, der Er ist, als der unbekannt Bleibende erscheinen. Die Offenbarkeit Gottes, nicht erst Er selbst, ist geheimnisvoll. […] Was ist das Maß für das menschliche Messen? Gott? Nein! Der Himmel? Nein! Die Offenbarkeit des Himmels? Nein! Das Maß besteht in der Weise, wie der unbekannt bleibende Gott als dieser durch den Himmel offenbar ist. Das Erscheinen des Gottes durch den Himmel besteht in einem Enthüllen, das jenes sehen läßt, was sich verbirgt, aber sehen läßt nicht dadurch, daß es das Verborgene aus seiner Verborgenheit herauszureißen sucht, sondern allein dadurch, daß es das Verborgene in seinem Sichverbergen hütet. So erscheint der unbekannte Gott als der Unbekannte durch die Offenbarkeit des Himmels. Dieses Erscheinen ist das Maß, woran der Mensch sich misset.“ (Heidegger 2000: 201)
Auch hierin finden wir viel von Jobs Situation. Denn Job steht vor der Frage, ob er sich in seinem bisherigen Leben nicht ausreichend oder nicht richtig nach dem Maß Gottes gerichtet hat, womit sein erlittenes Leid gerechtfertigt wäre. Seine Freunde glauben genau Bescheid zu wissen, über das richtige Maß Gottes und suchen nur an welcher Stelle Job gegen dieses Maß verstoßen hat. Für Job dagegen verschwindet immer mehr diese Maß, zumindest ein Maß, was er erkennen und definieren kann. Er behält weiter die Gewissheit, dass Gott da ist, oder mehr noch, diese Gewissheit wächst sogar in Job, weil er immer weniger über Gott spricht, sondern zu Gott, sich direkt an ihn wendet. Aber indem er nicht mehr über Gott spricht, hört es auch auf Wissen über ihn zu sein. Was bleibt, ist das direkt stellen vor Gott. Gott wird von Job nicht gewusst im vorhinein, sondern er erkennt Gott erst in der Interaktion, in seiner Antwort und somit ganz im Sinne der Gottesdefinition im Dornbusch, ich werde da sein, als der ich dann da sein werde, d.h. als eine Antwort, die nicht vorher gewusst werden kann. Es ist ein lebendes Gespräch, kein totes, festgelegtes Ritual, was zwischen Job und Gott sich ereignet.
Job steht damit nicht nur vor den Trümmern seiner Existenz, sondern in ihm zerfällt auch das ganze Wissen, was das Judentum über Gott zu glauben hat. Gott erscheint für Job wieder als der unbekannt bleibende Gott. Er ist das Geheimnis, zu dem alles Wissen nur in seine Nähe führen kann, die Richtung weisen kann, aber umso näher man Gott kommt, muss dieses Wissen sich auflösen, hin zu einem glaubenden Staunen, was nichts erwartet oder plant, sich nur überraschen und beschenken lässt. Und dieses Geschenk ist nicht etwas Konkretes, sondern das bloße Daß der Existenz. Es geht nicht mehr um Seiendes, sondern um die Realisierung des Seins - und damit um die zentrale Frage, um die Heideggers Denken kreist. Dieses Spiel was das geheimnisvolle Verbergen von Gott und dem Sein im sich enthüllenden Seiendem wahrt, ist der Weg, den Job beschreitet.
Was Job hier sehr schmerzvoll vollzieht, ist der Sprung, von einem Gottesbild, was Gott weitgehend im Seienden verortet, dem konkrete Eigenschaften, Erwartungen und Sanktionen zugeschrieben werden, zu einem sich verbergenden, geheimnisvollen Gott, der nur in seinem Sein durch Seiendes hindurchscheint, aber sich eben auch in dieser Welt ganz immanent in jedem Seienden verbirgt, aber eben deswegen auch dort entdeckt werden kann. Job schwingt sich immer mehr in dieses Zwischen von Sein und Seiendem, als seinem Wesen, ein. „Das Menschenwesen schwingt im Seyn, sofern es nicht nur als das Seiende, das es ist, gegen das übrige Seiende und zwar als Seiendes unterschieden ist, sondern mit seinem Wesen in die Unterscheidung des Seins gegen das Seiende verlegt und geworfen ist. Die Zukehrung zum Seienden ist jeweils diese und jene und jedesmal eine und nicht die andere; die Kehrungen zum Seienden werden weder von diesem verursacht, noch von Menschen gemacht; sie sind vom Seyn, dem wesenden Inzwischen, das zu gleich allem Seienden die Lichtung ist, in die es aufsteht, durchschwungen. Das sagt: das Seyn bestimmt schon das nicht menschliche Seiende und bestimmt zugleich im Gegenschwung das menschliche Seiende und bestimmt im Zwischenschwung das Verhältnis des Menschen zum Seienden und den Anfall des Seienden an den Menschen. Dieses Schwingen ist nicht ‚mechanisch‘ zu denken; es meint, daß das Sein erst Seiendes in das Offene der Offenheit des Seins erhebt und in solchem Heben trägt. Das Tragen im Hin- und Her-heben ist das Schwingen. Und die Getragenheit des Menschenwesens stammt nicht aus einer Einsenkung einer Seele in einen Leib. Die Getragenheit ist das Schwingen im Schwung der Geworfenheit aus dem Zuwurf, in den das Seyn sich das Menschenwesen er-eignet zur Gründung einer Wächterschaft der Wahrheit des Seyns.“ (Heidegger 2005: 126)
Das uns Seiendes angeht, liegt nicht an dem Seienden selbst und wird auch nicht vom Menschen verursacht, schreibt Heidegger. Dies realisiert Job erst im vollem Umfang, wo sich ihm Seiendes nicht mehr zukehrt. Denn der Sonnenaufgang oder die blühende Blumen sind genauso da, wie vor dem Schlag des Diabolos: nur sie sprechen Job nicht mehr an, sie werden zur Kenntnis genommen, aber lösen kein Empfinden von Schönheit mehr in ihm aus. Dass etwa der Sonnenaufgang uns als Menschen „angeht“, in dem er eine große Bandbreite an Empfindungen und Gedanken in uns auslöst, kommt eben nicht aus dem Seiendem das Sonnenaufgangs, sondern aus der jeweils eigenen Welt des Menschen heraus (so wird der Hahn oder der Vampir einen Sonnenaufgang vollkommen anders auffassen). Aber es liegt auf der anderen Seite auch nicht in der Verfügbarkeit des Menschen, sich von Seiendem angehen zu lassen. Denn wirklich angehen tut uns Welt, wenn sie uns überrascht, wenn sie eben nicht nur nach unserem Plan und Ordnungsschemata läuft. Für die antiken Griechen war der Ausgangspunkt des Philosophierens über die Welt auch das sich wundern und staunen können (θαυμάσιος). Für Job ist dieses Staunen weggebrochen, seine Welt ist grau geworden, sie entzieht sich ihm. So verliert man in der Trauer oder im Liebeskummer nicht nur einen geliebten Menschen, sondern seine ganze Welt. Genauso betrauert Job nicht nur, was er mal an geliebten Menschen und Hab und Gut gehabt hat, sondern dass er buchstäblich nichts mehr hat. Der Diabolos hat ihm zwar nicht getötet, aber er hat ihm seine ganze Welt genommen.
——
Die Pädagogen sagen in diesem Fall „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“. Oft mag dieser Hinweis richtig sein und es Sinn machen, nach einer Niederlage oder einem Verlust entschlossen etwas Neues anzufangen und das „Alte“ hinter sich zu lassen. Aber funktioniert dies, wenn man einen so tiefen Einschnitt erfahren hat, wie Job? Kann man von einer großen Liebe einfach zum nächsten Partner weitergehen? Kann man nach dem Tod eines Kindes die Energie und Liebe auf die anderen Kinder verteilen? Deswegen gibt es für Job nicht des Ausweg sich ein neues Leben wieder aufzubauen. Denn Job hatte das Leben in Fülle und wie schön ist die Welt, wenn man verliebt ist und liebend durch die Welt tanzt und schwebt - und Job ist genau da herausgerissen worden, in den absoluten Entzug und Leere hinein. Job kann nicht einfach aufstehen und weitergehen, weil er auch erkennt, dass das, was er gehabt hat etwas ganz Besonderes, etwas Außergewöhnliches war, etwas was nicht jedem zufällt. Job realisiert, dass sein Leben ein Geschenk war in dieser Fülle. Hierüber kann er rückblickend nur staunen und umso mehr er darauf zurückschaut, desto mehr bleibt ihm nur das Staunen. Und er erkennt, dass er dies eben nicht selber gemacht oder verdient hätte, sondern ein Geschenk war. D.h. aber auch, dass Job gar nicht hingehen kann und sich dies erneut aus eigener Kraft wieder aufbauen kann, sondern das diese Lichtung der Welt, nicht von ihm gemacht werden kann. Dieses Einschwingen und quasi Tanzen zwischen Mensch und seiendem, ist nichts gemachtes, sondern etwas, was Job zugefallen ist. Deswegen dieses Schwingen im Offenen etwas in das Job hineingehoben worden ist, aber nicht durch sich selbst, sondern die Offenheit des Seins, wie Heidegger dies formuliert. Hierdurch war er getragen, nun ist ihm dies genommen und er ist tief gefallen. Denn dieser Zuwurf ist ihm entzogen worden. Jobs einziger Weg ist diesen Entzug „auszuleben“. Zunächst äußert sich dies für Job darin, radikal nicht sein zu wollen, also nie geboren worden zu sein und seine ganze Existenz auszulöschen. Aber zunehmend lässt er sich auf seinem Weg auf diesen sich geheimnisvollen sich entziehenden Gott ein, der ihm seine Welt früher geschenkt hat, und spürt diesem Gott gerade in der Leere nach, um dort eine ganz eigentümliche Nähe zu ihm zu suchen.
Aber dieser Gott, denn Job für sich immer mehr realisiert, ist eben kein berechenbarer Gott, der gutes Verhalten entsprechend entlohnt und den Menschen dann behütet. Bei Job ist dies als Haltung von Beginn an angelegt, indem er nach den Schlägen des Diabolos bereits vom „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen“ spricht. Aber die ganze Tiefe dieses anscheinend teilnahmslosen Gott, der ihn als Einsatz für ein Spielchen mit dem Diabolos einsetzt, realisiert Job erst nach und nach. „Die Natur wagt die Lebewesen und ‚schützt keins besonders‘ [Rilke]. Insgleichen sind wir Menschen als die Gewagten dem uns wagenden Wagnis ‚nicht weiter lieb‘. In beidem liegt: Zum Wagnis gehört das Loswerfen in die Gefahr. Wagen ist: auf das Spiel setzen. Heraklit denkt das Sein als die Weltzeit und diese als das Spiel des Kindes (Frg. 52): Αιών παις εστι παίζων, πεσσεύων∙ παιδός η βασιληίη. ‚Weltzeit, Kind ist sie spielendes das Brettspiel; ein kindlichen Spiels ist die Herrschaft‘ […] Als die Gewagten sind die Nichtgeschützten dennoch nicht preisgegeben. Wären sie dies, dann wären sie gleichwenig gewagt, wie wenn sie geschützt wären. […] Nur insofern das Gewagte sicher im Wagnis beruht, kann es dem Wagnis folgen, nämlich in das Ungeschützte des Gewagten. Das Ungeschütztsein des Gewagten schließt ein Sichersein in seinem Grunde nicht nur nicht aus, sondern notwendig ein. Das Gewagte geht mit dem Wagnis mit.“ (Heidegger 1977: 280f.)
Gott wagt sich also mit jedem Menschen was. Er baut keine trivialen Maschinen im Sinne von Heinz von Foerster oder perfekte Schwiegersöhne, die dem moralischen Gesetz der Weisheit folgen. Vielleicht hat Jesus auch deshalb so wenig Interesse an den Pharisäern und wendet sich eher den Sündern zu, die tatsächlich ihr Leben wagen - oft aber nur mehr oder weniger freiwillig und oft einfach fürchterlich dabei gefallen. Hier zeigt sich vielleicht, dass Gott die Menschen will, die etwas in ihrem Leben wagen (siehe auch das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25, 14-30; Lk 19, 12-27), aber er schützt sie dabei nicht direkt. Zwar ist die Vorstellung von den Schutzengel, die einem im Alltag begleiten, ein schöner Kinderglaube, aber ist genauso wie das Christkind zu überwinden. Dennoch ist an beidem etwas Wahres dran, so wird man auch als Erwachsener durchgehend beschenkt, aber eben nicht mit materiellen Geschenken unterm Weihnachtsbaum und genauso wie die Schutzengel ist uns auch Gott in jedem Moment nahe und begleitet uns, nur dass er uns nicht vor jedem Missgeschick behütet und dieses von uns abwendet. Und hier müssen Bittgebete immer diesen sehr schmalen Grat treffen, was definitiv nicht immer gelingt, was vielleicht die meist gebrauchte Gebetsform eigentlich zur schwierigsten Gebetsform macht und damit leider allzuoft verfehlt wird.
Gott wirft uns ins Leben, ungefragt und unbehütet sind wir offen in die Gefahr gestellt. Heidegger greift hierfür Heraklit auf, der von einem spielenden Kind spricht, das die Lebenszeit der Menschen in seinem spielerischen Verhalten bestimmt. Damit ist zwar Gott nicht als das spielende Kind identifiziert, eher bleibt er der Vater, der das Kind in seinem Spiel beobachtet und in dieses Spiel nicht eingreift. Aber das Spiel des Kindes beschreibt eben unsere unmittelbare Lebenssituation, die Nietzsche noch einmal weiter ausgefaltet hat. „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde, thürmt er wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thürmt auf und zertrümmert: von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfniß, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfniß zwingt. Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten in's Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft, fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.“ (Nietzsche 1988: 830f.)
Aber Heidegger macht auf einen entscheidenden Unterschied aufmerksam. Denn auch wenn wir in dieses Spiel geworfen sind, dem wir weitgehend ohnmächtig ausgeliefert sind, sind wir dennoch nicht „preisgegeben“. Aber was heißt das? Heidegger formuliert in dem Zitat oben an dieser Stelle recht kryptisch. Ihm scheint es darum zu gehen, dass man sich auf dieses Wagnis dies spielerisch-unberechenbaren Lebens voll einlässt, d.h. dass das eigene Leben gewagt wird und sich nicht in falschen Sicherheiten oder Vorstellungen festsetzt. Nur in dieser Offenheit kann dann im Leben dem Wagnis gefolgt werden. Das gewagte Leben ist damit nie in der Sicherheit, sondern lässt sich stets aufs neue überraschend und staunend vor dem was kommt. Und dieses Offene ist die Sicherheit, oder besser wie Heidegger formuliert, das Sichersein, in dem das gewagte Leben ruht. Ein gewagtes Leben im Sinne Heideggers wäre dann eher der Zen-Mönch, der aus seiner Leere dem Leben folgt und weniger westlich-modernen Vorzeige-Schwiegersohn der erfolgreiche Karriere macht und ein schönes Konfektionsleben führt.
Ein Konfektionsleben stand bei Heidegger schon früh in der Kritik, so dass er in „Sein und Zeit“ bereits ein eigentliches Dasein gegenüber dem „Man“ absetzt. Die Kritik wird in späteren Schriften nicht mehr so deutlich formuliert, dafür konzentriert er sich eher darauf, dass Offene und das eigentliche Dasein als wahres Ereignis zu beschreiben. Ansätze hierfür findet Heidegger oft bei Dichtern, an die er sich anschließt. So findet er etwas bei Rilke, dass „die unerhörte Mitte, der reine Bezug, der ganze Bezug, die volle Natur, das Leben, das Wagnis sind das Selbe. Alle angeführten Namen nennen das Seiende als solches im Ganzen. Die gebräuchliche Redeweise der Metaphysik sagt dafür auch ‚das Sein‘. Nach dem Gedicht ist die Natur als das Wagnis zu denken. Das Wort Wagnis nennt hier zugleich den wagenden Grund und das Gewagte im Ganzen. […] Den ganzen Bezug, dem jedes Seiende als ein Gewagtes überlassen bleibt, nennt Rilke gern ‚das Offene‘. Dieses Wort ist ein anderes Grundwort seiner Dichtung. ‚Offen‘ bedeutet in Rilkes Sprache dasjenige, was nicht sperrt. Es sperrt nicht, weil es nicht beschränkt. Es beschränkt nicht, weil es in sich aller Schranken ledig ist. Das Offene ist das große Ganze alles dessen, was entschränkt ist. Es läßt die in den reinen Bezug gewagten Wesen als die Gezogenen ziehen, so daß sie vielfältig zueinander, ohne auf Schranken zu stoßen, weiterziehen. Dergestalt gezogen ziehend, gehen sie im Schrankenlosen, im Unendlichen auf. Sie lösen sich nicht in das nichtige Nichts auf, aber sie lösen sich in das Ganze des Offenen ein.“ (Heidegger 1977: 283f.)
Das Offene, auf das ein gewagtes Leben sich einlässt, ist ein Leben was sich nicht sperrt, was sich nicht einschränken lässt und lässt sich frei ins Leben ziehen. Um noch einmal das Beispiel von oben aufzugreifen, so lässt sich der Schwiegersohn von gesellschaftlichen Wertvorstellungen leiten und das ist der sehr beschränkte Rahmen, in dem er leben kann. Ein Leben das sich aus Karrierestufen, Ehrungen, Likes etc. speist. Sein ganzes Ego hängt davon ab, inwiefern diesen Erwartungen man gerecht werden kann. Der Zen-Mönch würde sagen, Scheiß auf diese willkürlichen Wertvorstellungen! Wage dein Leben, mache dich frei von falschen Vorstellungen und fange an zu hören. Allerdings geht es nicht um das Hören auf ein Ego, sondern ein viel, viel tieferes Hören: nämlich das Hören auf das Sein wie Heidegger sagen würde, der Zen-Mönch würde von der Leere und der Buddha-Natur sprechen, Rilke vom Offenen und der alte Grieche von der φύσις.
Aber dieses Offene ist keine einfach Freiheit, wo man einfach tut, was einem gefällt. Die Komplexität und Verwickeltheit deutet sich an, im Titel einer chinesischen Koan-Sammlung. Das Wumenguan, 無門關, ist eine Sammlung aus dem 13. Jahrhundert und spielt mit der Sperre bereits im Titel. Dieser Titel ist schon so komplex, dass die verschiedenen Übersetzungsversuche einen guten Eindruck von der Komplexität dieser Freiheit geben: Die Schranke ohne Tor (Dumoulin), The gateless Gate (Sekida), Die torlose Schranke (Koun). Dies bedeutet, dass „the human mind is unnecessarily imprisoned by barriers of habit, mechanical patterns of thought and activity, routines that seem real and true only because they engage the best of our attention. Zen demonstrates the objective reality of conceptional barriers to allow the mind’s eye to see through the mental barriers to allow the minds eye to see through the veil of illusion to actual truth.“ (Cleary 2001d: 231) Der Titel lässt sich aber auch übersetzen als The Border Pass Whose Doorway is No (Cleary). „This meaning refers to a basic Zen practice and experience, which may be described as radical disentanglement from thought an conceptualization. Here No symbolize a cornerstone of Buddhist logic as well as a fundamental Zen exercise. The logical principle is that no human conception can grasp absolute reality as it is in itself. The Zen exercise is that taught in the first koan, one by which the mind transcends subjective biases and acquired conceptions of the world, thereby arriving at direct witness of reality.“ (Cleary 2001d: 231) Hier funktionieren die Koans in sehr ähnlicher Weise, wie dies Heidegger für das Offene beschreibt.
Ein Koan stellt den Hebel dar, der alle Vorstellungen und Erwartungen, die wir uns in Bezug auf die Welt bilden, aus den Angeln gehoben werden und damit unvoreingenommen in der Welt sind. Heidegger möchte sich in ähnlicher Weise ganz schutzlos, d.h. ohne die mentalen und kognitiven Hilfskonstruktionen durch die wir unsere Welt sortieren und ordnen, ins Offene wagen. „Gewendet ist das Schutzlossein dann ‚ins Offene‘. Mit dem Gesehenhaben der Gefahr als der Wesensgefahr müssen wir die Umkehrung der Abkehr gegen das Offene vollzogen haben. Darin liegt: das Offene selbst muß sich in einer Weise uns zugekehrt haben, daß wir ihm das Schutzlossein zuwenden können, ‚um es, im weitsten Umkreis irgendwo, wo das Gesetz uns anrührt, zu bejahen.‘ [Rilke]“ (Heidegger 1977: 300) Mit den Vorstellungen und Erwartungen, die „man“ sich so von der Welt macht, wendet sich der Mensch vom Offenen ab. Erst wenn es eine Abkehr vom Ego und den Vorstellungen gibt, wird das Offene langsam zugänglich. Job musste alles genommen werden, woran sein Herz hängt, so dass er sich nun erst langsam dem wahren Gott zuwenden kann, der eben nicht der Erfüller der eigenen Vorstellungen ist, die man bestenfalls dann noch im Bittgebet an ihn heranträgt. Erst in dem radikalen Entzug, in der Gott Job nun begegnet, fallen langsam alle Vorstellungen, die Job sich von Gott macht, ab. Oder besser, die menschlichen Vorstellungen von Gott vertrocknen und zerbrechen in einer wahren Begegnung mit Gott. Nur dass diese Begegnung in keine menschlichen Vorstellungen mehr passt, sondern nur wort- und konzeptlos erfahren werden kann in einem Entzug aller Begrifflichkeiten und Vorstellungen.
Aber das Fallenlassen von Vorstellungen, die „man“ sich halt so macht, ist kein willentlicher Akt, der so einfach durchgeführt werden kann. Es ist eher ein Geschenk, was man im letzten nicht selbst bewirken kann, gleichwohl man sich darauf lange und mühsam vorbereiten muss, um dieses Geschenk überhaupt anzunehmen. Der Buddhismus weiß, dass man um Erleuchtung zu Erlangen unzähliger Leben hart meditieren, lehren und gut handeln muss, und selbst dann kann man noch keine Erleuchtung erwarten. Und auch bei Heidegger kann sich nicht einfach dazu entscheiden, sich dem Offenen zuzukehren, sondern „das Offene selbst muß sich in einer Weise uns zugekehrt haben, daß wir ihm das Schutzlossein zuwenden können“ (Heidegger 1977: 300) Genauso ist Job auch vom Diabolos in seine Situation gestossen worden und Gott ermöglicht ihm dadurch, dass er nun mit und nicht mehr nur über ihn spricht. Aber mit und zu Gott kann er nur sprechen, wenn er ganz schutzlos und ohnmächtig geworden ist. Job schwadroniert nicht mehr von einer Kanzel, sei es in der Kirche oder an der Uni, über Gott, sondern er schreit zu ihm aus der Scheiße hinaus. Und er findet auch keine Antworten, so dass er auch keine dicken Bücher schreiben und lange Predigten halten kann. Sondern es ist ein anscheinend unstrukturiertes Realisieren und Erfahren Gottes, indem er sich seiner ganzen Schutzlosigkeit und Ohnmacht bewusst wird. Dies ist nur möglich als Parrhesia (παρρησία), die immer individuell ist und eben nicht der Weisheit der Freunde folgt. Das Buch Job lässt uns an diesem Prozess bei Job teilhaben, wie er erst alle Dogmatik (in Form der Weisheitslehre) übersteigt und langsam immer mehr auch jede andere eigenen Vorstellung und Erwartung fallen lässt, um sich immer mehr schutzlos auf Gott einlassen zu können.
Hier kommen die vielleicht bekanntesten Verse Hölderlins in den Sinn: „Nah ist / und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ (Hölderlin 2004/10: 24) Denn Job lebt ebenfalls aus dieser paradoxen Spannung von Nähe und Ferne sowie Gefahr und Rettung. Und es wird immer deutlicher, dass Job nicht einfach nur in seinem Glauben getestet wird, d.h. ob er auch unter widrigen Umständen, wo er nicht unmittelbar von seinem Glauben profitiert, weiter an Gott glaubt und die Hoffnung behält, dass Gott zeitverschoben dann doch alles gut macht. Vielmehr bringt dieser gefährliche, sich entziehende Gott Job dahin, gerade aus dieser Gefahr heraus, sein Gottesverhältnis und damit auch sein Leben ganz anders zu Leben. Auch Heidegger greift diese Verse auf und versteht die Gefahr als zentralen Angelpunkt darin: „Denken wir jetzt dieses Wort noch wesentlicher als der Dichter es dichtete, denken wir es aus in das Äußerste, dann sagt es: Wo die Gefahr als die Gefahr ist, gedeiht auch schon das Rettende. Dieses stellt sich nicht nebenher ein. Das Rettende steht nicht neben der Gefahr. Die Gefahr selber ist, wenn sie als die Gefahr ist, das Rettende. Die Gefahr ist das Rettende, insofern sie aus ihrem verborgen kehrigen Wesen das Rettende bringt. Was heißt ‚retten‘? Es besagt: lösen, freimachen, freien, schonen, bergen, in die Hut nehmen, wahren.“ (Heidegger 2006: 119)
Wenn man es so versteht, dann ist das Rettende nicht die Überwindung der Gefahr, es ist kein Prozess und auch keine Dialektik, wo erst die Gefahr ist und dann durch das Rettende aufgelöst wird. Es bleibt paradox beides zusammen, gegen- und miteinander stehen. Job erfährt nicht die Gottesferne als Prüfung, um dann umso näher wieder bei Gott zugelassen zu werden. Es nicht wie bei Griselda im Decameron. Job realisiert, dass dieser gefährliche Entzug Gottes nicht eine Phase ist, sondern tatsächlich eine viel größere Nähe ist, als alle Gottesbilder, die sich Gott konkret vorstellen (und hier tatsächlich vorstellen im Sinne einer Imagination), sei es als dogmatisch-moralischen Gott, von dem man weiß, was er von den Menschen will bis hin zu Visionen oder warmen oder tröstenden Gefühlen im Gebet (hier ist wohl Adrienne von Speyr sehr in die Irre gegangen). Heidegger versteht unter dem Rettenden, das lösen und freimachen, was wenn man das Rettende hier gleichzeitig als Entzug nimmt, das Lösen von allen Konzepten und Vorstellen bedeuten kann. Und für diese Befreiung wirbt Gott in der Gefahr, er freit um den Menschen, wie um einen Braut, dass er sich auf diese gefahrvolle Pilgerreise einlässt. Und nur wenn er diese befreite Leere für sich bewahrt, sie behütet und sich in dieser freien Leere geborgen zu fühlen und sein Zuhause auf der Pilgerreise zu finden.
Heidegger schreibt an dieser Stelle weiter: „Wo aber ist die Gefahr? Welches ist der Ort für sie? Insofern die Gefahr das Sein selber ist, ist sie nirgendwo und überall. Sie hat keinen Ort als etwas anderes zu ihr selber. Sie ist selbst die ortlose Ortschaft alles Anwesens.“ (Heidegger 2006: 119) Für Heidegger wird diese Gefahr so zentral, dass die Gefahr für ihn zum Sein selber wird. Auf diese Weise ist die Gefahr immer präsent und in allem und überall spürbar. Die Gefahr ist fühlbar wie tiefe Trauer oder tiefer, alles abschneidender Liebeskummer, wodurch die Welt abgeschnitten wird und entzogen wird. Nichts hat mehr eine Bedeutung oder einen Sinn, alles sieht aus wie ein sinnloses Theaterspiel von Illusionen, die paradoxerweise alle fürchterlich ernst nehmen. Mit dem Verlust ist nicht nur eine Person abhanden gekommen, sondern die ganze Welt, das ganze Sein. „Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge / Mir genommen, auch mich hab' ich verloren mit ihr. / Darum irr' ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich / Leben, und sinnlos dünkt lange das übrige mir.“ (Hölderlin 2004/9: 133) Die Frage ist allerdings, ob man dauerhaft in dieser Situation leben kann? In der Regel tut man viel, um aus dieser Situation herauszukommen. Die Trauer und der Liebeskummer müssen schnell überwunden werden. Bei der Trauer um eigene Kinder, Lebenspartner oder Eltern stehen einem ganze zwei Tage Sonderurlaub zu und pathologisch wird die Trauer nach dem ICD-11 (6B42 Prolonged grief disorder), wenn sie länger als 6 Monate anhält, dann hat man wieder voll funktionsfähig zu sein (wozu es durchaus eine sehr breite Kritik bei der Einführung gab). Für Liebeskummer gibt es gar keinen Sonderurlaub. Was heute aber als pathologisch klassifiziert wird, war etwas noch vor etwa 100 Jahre gesellschaftlich gefordert, so dass etwa eine Volltrauerbekleidung ganz in schwarz für die ersten 6 Wochen nach dem Tod für die Witwe vorgeschrieben war, danach bis zum ersten Jahrestag die Halbtrauerbekleidung, die weiße Accessoires erlaubte und selbst nach dem ersten Jahr war noch die Abtrauerkleidung gefordert.
Heidegger würde diese Entwicklung vermutlich so einordnen, dass technische Zeitalter und damit auch die ökonomische Ausrichtung, die in allem das verwertbare wahrnimmt, den Menschen aus der Trauer wieder schnell in das „Gestell“ des Funktionierens bringen möchte. Denn in der Trauer um einen geliebten Menschen, sei es durch Tod oder Trennung, entzieht diesem Funktionieren des Gestells die Grundlage - es ist alles nichts mehr wert und sinnlos. Aber auch individuell ist es oft wünschenswert aus der Trauer wieder zum Alltag zurückzukehren, wieder am Leben teilzunehmen. Aber ist dies wirklich das richtige Leben? Oder besser gefragt, ist es das einzige Leben, was wir haben können? Gibt es neben dem funktionieren im Gestellt, mit allen Likes und Boni, noch ein zweckfreies Leben, wie es dies in einer tiefen Liebe gibt? Manchmal erfährt man diese Liebe, aber eher selten und immer als überraschendes Geschenk. Sie wird angenommen und gelebt, ohne das man wirklich realisiert, was man geschenkt bekommen hat. Erst wenn sie zerbrochen ist, wird dies oft nur bewusst. Aber kann man dann wieder in das Gestell des Alltags zurückkehren? Erscheint dies nicht alles als schal? Was ist schon ein Like, gegenüber einem liebenden Blickkontakt oder einem Kuss? In der Liebe wird damit am ehesten erfahren, was das oben beschrieben Offene ist, so dass sich hier Sein ereignet. Nur dass dieses Sein zunächst so nicht wahrgenommen wird.
Somit ereignet sich die Gefahr auf zwei verschiedene Weisen: „Die Gefahr ist die Epoche des Seins, wesend als das Gestell. Ist die Gefahr als Gefahr, dann ereignet sich eigens ihr Wesen. Die Gefahr ist aber das Nachstellen, als welches das Sein selber in der Weise des Gestells der Wahrnis des Seins mit der Vergessenheit nachsetzt. Im Nachstellen west dies, daß das Sein seine Wahrheit in die Vergessenheit entsetzt, dergestalt, daß das Sein sein Wesen verweigert.“ (Heidegger 2006: 119) Zum einen gibt es die Epoche des Seins, hiermit ist ἐποχή gemeint, im Sinne einer Zurückhalten des Seins, weil das Gestell des Alltags dies verdeckt. Gerät diese Gefahr aber selber in Gefahr, so ereignet sich ihr Wesen, so dass etwa in der Trauer uns die Vergessenheit des Seins bewusst wird. Nicht ohne Grund reduzieren Menschen, die kurz vor dem Tod waren, oft ihr Leben auf das Wesentliche. In der Regel hat man aber dieses Wesentliche vergessen: man liest eher das Geschwätz der Tagespolitik als ein Gedicht, tausend Likes oder der Impact Factor der eigenen Publikationen sind wichtiger als ein aufrichtiger Blick etc. Dies ist unsere Vergessenheit, indem sich uns das Sein verweigert.
In der Trauer findet dagegen ein doppelte Verweigerung statt. Zum einen wird die Verweigerung des Seins im Gestell durchschaut und es wird ein direkter Zugang zum Gestell verweigert, indem sich diese Welt in der Trauer entzieht. Aber der Entzug ereignet sich darüber hinaus noch viel tiefer, nämlich ins Wesentlich hinein: Denn die Liebe, um die getrauert wird, gibt es als gelebte Form nicht mehr. Die Trauer reißt die Liebe und damit das Sein aus der Vergessenheit heraus, sie kehrt sich dem immer wieder zu und bewahrt dieses einzigartige Geschenk. Erst in dieser Kehre ereignet sich wahrhaft Welt. „Wenn sonach die Gefahr als die Gefahr ist, dann ereignet sich eigens das Nachstellen, als welches das Sein selber seiner Wahrheit mit der Vergessenheit nachstellt. Wenn dieses mit-Vergessenheit-Nachstellen eigens sich ereignet, dann kehrt die Vergessenheit als solche ein. Dergestalt durch die Einkehr dem Entfallen entrissen, ist sie nicht mehr Vergessenheit. Bei solcher Einkehr ist die Vergessenheit der Wahrnis des Seins nicht mehr die Vergessenheit des Seins, sondern einkehrend kehrt sie sich in die Wahrnis des Seins. Wenn die Gefahr als die Gefahr ist, ereignet sich mit der Kehre der Vergessenheit die Wahrnis des Seins, ereignet sich Welt“ (Heidegger 2006: 119f.)
Die Kehre in die Wahrnis des Seins hinein, ist für Heidegger eine Trauer. Die Trauer, die aus einer wahren Fülle aus Liebe entsteht. So ist Jobs Trauer so tief, weil er ein Leben in liebender Fülle hatte. Genau deswegen ist er so tief gestürzt. Aber nicht aus Strafe oder Sünde ist er gestürzt, sondern als Kehre in die Wahrnis des Seins. Hieraus erklärt sich dann auch einige Ungereimtheiten, so dass Job ganz tief spürt, dass es nicht um seine Sünden geht, die der Grund für seinen Sturz sind. Natürlich hat er auch gesündigt, wie außer Jesus jeder Mensch. Aber dies ist nicht der Auslöser, für das Drama was hier geschieht. Job ist kein Lehrstück der Talion, sondern der Tragödie der Trauer, die in den wahren Gott hineinführt. Und Job nimmt dieses Schicksal und diesen Pilgerweg an, denn er wünscht sich an keiner Stelle, dass der omnipotente Pantokrator einen status quo ante wiederherstellt. Job deutet dies an keiner Stelle an, sondern im Gegenteil er windet sich immer tiefer in diese Trauer hinein.
Diese Trauer kommt zwar aus einer Fülle und wahrt diese Fülle in ihrem Sein, aber sie bewegt sich nicht wieder dort hinein zurück. Die Trauer bleibt Sehnsucht, aber sie bleibt keine Sehnsucht, die in etwas Vergangenes zurück möchte, sondern aus der Sehnsucht nach Seiendem wächst langsam die Sehnsucht nach dem Sein - nach Gott, der sich nicht mehr in seienden Eigenschaften greifen lässt. Heidegger beschreibt diese Sehnsucht an einer anderen Stelle als Heimweh: „Das Heimweh ist die Urtrauer. Wie aber, wenn das Heimweh sich nicht nur nach einer geschenkten und vordem gewohnten oder erst geahnten ‚Heimat’ sehnt, wie wenn das Wesen des Heimischen selbst und sein Quell, wie wenn das Wesen und die Herkunft des Zu-Hause-seins selbst das geworden ist, was wir suchen? Wie wenn das geheime Ungesagte dieses wäre?“ (Heidegger 2013: 819)
Für Heidegger geht dieses Heimweh und die Urtrauer nicht dahin, dass nach etwas Konkretem sich gesehnt wird, sondern es wird das Wesen all dessen erfahren. Diese Urtrauer erfährt immer tiefer den Quell, woraus sich dies alles gespeist hat. Denn man kann sehr tief lieben und sich in dieser Beziehung nur wundern und staunen, was hier eigentlich passiert. Sehr ursprünglich geschieht dies bei der Geburt eines Kindes, da ist recht unverstellt diese Liebe da, die durch dieses Wunder einfach nur überwältigt. In einer Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen kann sich dies genauso ereignen, aber meist ist dies eher durch Erwartungen, die wir uns ausdenken und an diese Beziehung heften, verstellt. Nur manchmal ereignet sich auch hier das rückhaltlos Offene zwischen zwei Menschen, die einen genauso staunen lassen wie eine Geburt. Begreifen kann man dies alles nicht, man kann es bestenfalls hüten und liebend leben - aber es bleibt ein Geschenk. Ein Geschenk, was auf der einen Seite sehr zerbrechlich ist, auf der anderen Seite aber auch zwei Menschen auf ewig zusammenbindet, egal in welcher äußeren Form dies letztlich dann gelebt werden muss - und selbst in einer Trennung oder beim Tod bleibt diese bestehen. Die Urtrauer macht sich auf den Weg, nicht diese Situation wieder herzustellen, sondern zu der Quelle zu gelangen, die in dieser Liebe erfahren wurde - und vielleicht ist es für diese Pilgerreise notwendig, dass man sich einmal so öffnen konnte in einer Liebe, um einen Geschmack und ein Gespür für diese Quelle zu bekommen.
Aber es geht hier auch nicht darum, dass man die verlorene Liebe zu einem Menschen, durch die Liebe zu Gott ersetzt. Dies wäre wieder die Rückkehr in ein erwünschtes konkretes Seiendes. Job hat nicht nur alle seine Lieben verloren, sondern auch „seinen“ Gott, d.h. den Gott, wie er ihn sich bislang vorgestellt hat. Job spürt weder die Gegenwart seines Gottes noch ist er in die Gottlosigkeit verfallen. Er befindet sich eher in einem schwebenden Zwischenzustand, ein Zombie, der zwischen Leben und Tod steht, zwischen tiefster Einsamkeit und ferner Geborgenheit. „Wie wenn jetzt das Enteignis aus der Huld so er-wiegend wäre, daß nicht mehr nur statt der entflohenen Götter die kommenden Götter dem Erharren gespart und vorenthalten sind, sondern daß die Götter selbst und das Götterwesen als solches sein Entschwinden begonnen hätte und ein Anderes fernher winkte, was anderes ist als Gottlosigkeit und Gegenwart der Götter und des Gottes.“ (Heidegger 2013: 819)
Was Job erlebt, ist dass er die „metaphysische“ Weisheitslehre nicht mehr für sich tragfähig erfährt. Aber es ist nicht nur eine inhaltliche Differenz, die ihn einfach zu einer anderen Lehre konvertieren lassen würde. Für Job zerbricht die Metaphysik (im Sinne Heideggers) im Ganzen und bietet ihm keine Alternative mehr. Alle menschlichen Konstrukte funktionieren hier nicht mehr, sondern er erfährt Gottes Anrufung und sein Hören darauf - und jetzt beginnt er dunkel zu ahnen, was er in Gott eigentlich sucht. „Wie sollen wir diesen Riß der Huld in der Trauer auch nur im Geringen des Denkens gemäß und gut tragen ohne eine Hilfe, ohne einen Anhalt im Bekannten, ohne den Zuspruch selbst des Dichters? Wie wenn dieser, der Dichter, jetzt erst mit den Denkenden in das Gespräch käme, indem sich langsam klärt, was wir suchen, weil wir von Ihm gerufen sind. Wie wenn alles Götterwesen in seinem Anfang und in seiner Geschichte ganz zur Metaphysik gehört, ja sie sogar im Innersten hervorgerufen hätte?“ (Heidegger 2013: 819) Heidegger denkt hier den Prozess der Überwindung der Metaphysik eher geschichtlich, was in Job passiert ist, dass er dies biografisch erlebt. Es ist sozusagen wie Ontogenese und Phylogenese.
Für Job stellt sich die existentielle Frage, wie er aus dieser Situation herauskommt - was ist sein Weg, wo beginnt sein Pilgerweg? „Ein schlechter Notbehelf wäre es, wollte ich sagen, das Gesuchte sei der Übergott. Es ist anders. Und immer ständiger ist der Zuspruch in die Urtrauer des ursprünglichen Heimwehs. Zu gunsten sey dein Wesen rein der Huld. Der Abschied des Götterwesens ist die Ankunft der Ferne der Huld. Des Götterwesens ist die verborgene Wahrheit der Metaphysik. Die θεοί, θεάοντες sind die Vorboten der ιδέα. Deshalb wurde dann umgekehrt wieder die Ideenauslegung des Seins zum Wahrheitsbereich für das Christentum und den Schöpfergott. Erst wenn diese Herkunft der Metaphysik erfahren ist, wird die Verwindung der Metaphysik zu einem heilend-heiligen Ereignen.“ (Heidegger 2013: 819f.) Hier deutet sich an, wie umfassend in Job ein Gottesglaube zerstört wird, der in weiten Teilen eine abendländische Theologie aber auch Philosophie geprägt hat. Denn Heidegger zieht hier die direkte Verbindung von einem metaphysischen Verständnis von Gott und den Göttern zur Ideenwelt von Platon, die bis in die Gegenwart die Grundlage des Philosophieren bestimmt hat. Job windet sich aus diesem Verständnis langsam heraus, damit sich in ihm heilend-heiligend eine Begegnung mit Gott ereignen kann.
Diese Suche nach diesem Pilgerweg beschreibt Heidegger an einer anderen Stelle im Ausgang von den Seefahrern, in Hölderlins Gedicht „Andenken“ (Hölderlin 2004/10: 121ff.). Die Seefahrer „können sich nicht an ein Vorhandenes halten, sondern müssen das Ursprüngliche - was allem Seienden der Ursprung ist — er-fahren; und deshalb ‚verschmähn‘ sie ‚den geflügelten Krieg nicht.‘ Ihre im Sturm segelnde und von ihm beflügelte Fahrt hat alles Genügen am Vorhandenen hinter sich gelassen, — sie stehen im Krieg, worin allein das Ungestützte und Unbehütete sich bewährt, ob es ein Ursprüngliches und in sich Notwendiges und damit ein Währendes und Bleibendes sei. Das Gehen an die Quelle ist als Meerfahrt ein ‚Krieg‘, — nur in ihm wird das Unbewältigte des Reichtums entschieden und erkämpft. Je wesentlicher dieser Kampf um den Ursprung wird, um so ‚einsamer‘ wird der Aufenthalt, ‚jahrlang, unter / Dem entlaubten Mast‘ — in der glanzlosen Nacht ohne Feiertag und Saitenspiel — abgeschieden von Allem, woran das ‚Andenken’ sich heftet.“ (Heidegger 2000a: 16f.)
Job ist wie einer der Seefahrer, dem alles Vorhandene genommen worden ist, der nichts mehr besitzt, woran er sich halten kann. Das einzige war er noch ist, ist seine Suche nach Gott, die er erfährt, nachdem alles Seiende von ihm abgefallen ist. Und auch alle theologischen Lehren und seine Lebensweisheit muss er als etwas Seiendes fallen lasse, um Gott auf dieser Seefahrt zu erfahren. Aber sein ganze vorhandenes Dasein ist nicht einfach so weg, sondern er ist noch stark damit verwoben, und kann sich nur langsam und schmerzhaft daraus befreien. Das ist der Krieg, den Job nicht verschmäht, sondern dem er sich stellt. Er sucht nicht diesen Krieg zu flüchten, in dem er sich wieder „eine Existenz aufbaut“. Er trägt diesen Krieg aus. Immer weiter begibt sich Job aufs offene, leere Meer und lässt alles Vorhandene und auch seine Freunde hinter sich. Aber in dieser Offenheit des Meeres erfährt Job immer mehr den Ursprung - und entfernt sich immer mehr in eine abgeschiedene, tiefe Einsamkeit. „Der Ursprung, das Entspringen des Entspringenden wird nur dann erreicht, wenn keine Bindung an Vergangenes, keine Ausflucht an das gerade gegenwärtig Vorhandene, kein ‚Andenken‘ an das schon Gebotene abhält vom fahrend-suchenden Hindenken in das, was seine Beständigkeit darin hat, niemals ein unmittelbar überseh- und besitzbares (armseliges) Vorhandenes zu sein, sondern ‚Reichtum‘, Unerschöpflichkeit der springenden Quelle als entfaltetes Meer. Solches Denken in das Quellhafte, in das erst Aufspringende, nennen wir das Vor-denken.“ (Heidegger 2000a: 17)
Es ist eine Armut an Seiendem, aber es wird ein Reichtum im Sein gestiftet: „Und das ‚Bleibende‘, das sie stiften, was ist dies? ‚Nur‘ das Entspringende — das Nie-Vorhandene —, also kein Seiendes, auf das der Mensch im bloßen ‚Andenken‘ sich berufen dürfte und verlassen könnte, sondern das Seyn, aus dem erst jegliches Seiende seinen Grund und seine Wahrheit schöpft. Im Stiften als dem entwerfend erstellenden Vor-denken wird der Ursprung — das Seyn selbst — ersprungen.“ (Heidegger 2000a: 17f.) Job springt in diesem Sinne von der Ebene des vorhandenen Seienden hinein in das Seyn. Er wird arm an Seiendem, weil er hier immer noch den letzten Rest von loslässt, um immer mehr im Reichtum des Seyns aufzugehen. Hier stiftet er sich eine neue Existenz, nicht in einem zweiten Versuch sich erneut eine Habe aufzubauen.
Aber damit wird das Seiende und die immanente Welt nicht entwertet oder eine Weltflucht gesetzt, es ist „jenes An-denken [an Seiendes], das in einem Vor-denken schwingt und Loslösung ist, als Loslösung aber dem Seienden seine reinste Eigenständigkeit zurückschenkt. Dieses vor-denkende Andenken weist jeden Anhauch einer Weltverneinung oder irgend einer ‚idealistischen‘ Abwertung des Nur-Seienden von sich, denn es entspringt ja der verschwiegenen Heiterkeit des Wissens vom Ursprung, das im Stiften sich vollzieht. Daher kann es nie Verneinung des Seienden werden, sondern immer nur seine Verklärung. Aber selbst dies trifft nicht die Ursprünglichkeit des stiftenden-fragenden Bezugs zum Seienden, weil die Verklärung immer noch zuvor den Gedanken an solches unterschiebt, was zunächst widrig und niedrig sei und dann der dazukommenden Erhebung in Höheres bedürfe, — wo doch das Seiende, das Gute und das Böse, das Einfache und das Wirre, kraft seines Seins das Notwendige bleibt und den Ursprung und somit das Wahre in sich verwahrt.“ (Heidegger 2000a: 20)
In das, was Heidegger hier als Vor-denken bezeichnet, müssen wir uns erst langsam einfinden. Denn es ist etwas ganz anderes, als ein kaltes, objektives, rationales Kalkül. Ganz im Gegenteil findet Heidegger oft seine Form von Denken im Gespräch mit den Dichtern. Und auch Job macht sich nicht auf seinen Weg aus einer neutralen Position, aus der er sein Verständnis von Gott befragt, sondern er ist zutiefst erschüttert in seinem ganzen Wesen. Er denkt aus einer Stimmung heraus, die ihn als ganze Person durchdringt oder besser Job ist fast ausschließlich nur noch diese Stimmung, alles andere Seiende geht ihm verloren, lässt sich für ihn nicht mehr greifen und festhalten. Stimmung bedeutet hier aber nicht ein psychologisches Phänomen, denn Job ist nicht einfach schlecht drauf, oder benötigt eine gewisse Zeit, um mit einem Verlust klar zukommen (Stichwort 2 Tage Sonderurlaub bei einem engen Trauerfall s.o.). Job ist durch seine Stimmung eingestimmt auf etwas viel Tieferes und diese Einstimmung, macht ihn erst zu einem wahrhaft Hörenden. „‚Über‘ die Stimmungen muß hier gedacht werden in dem Sinne, daß die Stimmungen seynsgeschichtlich erst er-dacht und d. h. denkend erfahren werden. Dieses Erfahren ist dann zugleich auch in einem nachfolgenden Sinne ‚stimmend‘. Der Schmerz birgt in sich die ursprüngliche Einheit der Freude der Innigkeit und der Trauer der Abgeschiedenheit. Die Freude ist die Hut und Wahr des Seyns in seiner Verwindung und Bergung in den Anfang. Die Trauer ist die Hut und Wahr des Seyns in seiner Verwindung und Entgängnis in den Untergang des Anfangs. Freude und Trauer und ihre schmerzliche Einheit zumal bestimmen sich aus der Anfängnis des Anfangs.“ (Heidegger 2009: 219)
Dieses Vor-denken ist eine Einstimmung in eine Paradoxie, die sich zwischen Freude und Trauer einschwingt. Hier ereignet sich Bergung und Untergang des Anfangs, in einer paradoxen „schmerzlichen Einheit“. So erfährt auch Job indem ihm seine ganze Habe genommen worden ist und er hierin untergeht, eine tiefe innige Nähe, zu einem Gott der ihn birgt, den Job aber immer weniger versteht und für ihn greifbar ist. Dies ist der Schmerz, dem Job auszutragen hat und auf den er sich auch einlässt und ihn eben nicht verdrängt.
Aber was mit der Paradoxie einer Freude der Innigkeit und einer Trauer des Untergangs gemeint ist, muss noch genauer gefasst werden. „Untergang und seine Stimmung ist Eingang unter die Behütung, die als Verbergung den Abschied an sich genommen. Abschied behütet anfänglich. Rechnerisch gedacht ist der Untergang die Zerlösung und das Verschwinden des Habhaften und Vorhandenen. So bleibt Untergang ein Charakter des Seienden im Sinne des Wirklichen. Untergang ist dann der Fall in das Nichtwirkliche und dieses allein gilt für das Nichts. Der Untergang, dessen Wesen ereignishaft innig ist, trägt die Innigkeit im Wesen und diese ist der Abschied. So erfahren west der Untergang gleich dem Anfang seynsgeschichtlich. Der eigentliche Anfang ist der untergehende Anfang. Die Innigkeit des Untergangs, der Abschied, ist die Verschweigung des Seyns und so dessen Stimme, die anfänglich das Seyn verwindet und aus solcher untergänglichen Verwindung stimmt in das Danken.“ (Heidegger 2009: 221) So ist zunächst mit der Trauer der Untergang des Seienden und Vorhandenen gemeint, womit aber gleichzeitig unsere ganze vertraute, alltägliche Welt verloren geht. Es ist der Untergang in das Nichtwirkliche, hinein in das Nichts. Aber gleichzeitig versteht Heidegger diesen Untergang ins Nichts, als anfängliche Behütung im Abschied. Es ist eine ganz besondere Innigkeit, die anfänglich sich wieder in das Seyn birgt, sich als Freude und Dank äußert. Es ereignet sich als eine Freiheit, die das Seiende losgelassen hat und sich davon verabschiedet, um so sich in den anfänglichen Ursprung des Seyns zu bergen.
Aber was meint Heidegger hier mit Anfang? Denn damit ist nichts allein Geschichtliches gemeint, was als erstes geschehen ist. Sondern es ist eher eine Haltung gemeint, die sich immer wieder ereignen kann (allerdings durch geschichtlich Bedingungen gefördert oder gehemmt werden kann). „Das Wesen des Seyns ist der Anfang. Die Anfängnis des Anfangs ist der Abschied. Die Anfängnis ist das Ereignis des Untergangs. Der Untergang ist die Innigkeit der Anfängnis. Der Abschied ist die fernbleibende Ankunft des Verbergens der Verwahrung des Fortgangs im Anfang. Der Abschied ist Ankunft, nicht in die Anwesung eines Vorhandenen, sondern anfängliche Ankunft, die in sich zurücktritt und ihre fernste Ferne innehält.“ (Heidegger 2005: 24) So beginnt der Anfang im Abschied vom Vorhandenen und erst in diesem Loslassen wird das ursprüngliche Seyn wieder geahnt und in seiner Innigkeit erfahren. In dieser Form ist der Abschied gleichzeitig Ankunft, zwar nicht von unserer vorhandenen, vertrauten Welt, sondern von der „fernsten Ferne“, zu der ein inniges Verhältnis sich aufbaut, was bisher nur verborgen gewesen ist.
Damit ist dieser Untergang und Abschied nicht rein negativ zu verstehen, sondern die Trauer des Untergangs führt gleichzeitig die Freude der Innigkeit mit sich, indem es sich in den Anfang des Seyns einschwingt. „Der Abschied meint hier auch nicht einen Verlust und Verzicht, er bedeutet nicht ein Verhältnis zwischen Seiendem, von diesem aus erfahren. Heimisch im Seyn allein, vermögen wir ein Geringes von der Anfängnis des Anfangs zu wissen und den Abschied zu denken. Der Untergang in den Abschied scheint voller Negativität zu sein, wenn wir metaphysisch denken. Er ist doch der Anfang, wenn wir seynsgeschichtlich das Seyn erfragen. Das Ereignis des Anfangs ist der Untergang. Der Untergang ist der Abschied.“ (Heidegger 2005: 24)
Dieser Anfang ist nur schwer zugänglich, da der Alltag fest im Vorhandenen verwurzelt ist und es hier kaum Anreize gibt, diesen Sprung zu wagen in den Untergang hinein. Nichts erscheint sinnloser, als sich vom Vorhandenen abzuwenden. Vielmehr wird biografisch im Laufe des Lebens immer mehr davon angehäuft: materielle Güter, Renommee, Wissen etc. Und selbst Religion, die eigentlich am nächsten zu diesem Abgrund steht, orientiert sich allzuoft nur an Vorhandenen, wie theologischen Aussagen oder einer festen Wertorientierung. Denn „aus dem Seienden erklärt und gerechnet, ist das untergängliche Wesen des Seyns, das im Abschied seine anfängliche Würde sich aufbewahrt, das völlig Sinnlose. Könnte die Metaphysik und die Weltanschauung sich dahin aufraffen, das Seyn als das Sinnlose auszurufen, dann würden beide dadurch doch noch jene Nähe zum Seyn erlangen, die ihrer Seinsvergessenheit zugestanden bleibt. Freilich kann diese Verwerfung des Seyns das Seyn selbst nie treffen. Alle Metaphysik ist unfähig des Abschiedes und d. h. unvermögend des Anfangs.“ (Heidegger 2005: 26)
Das Einzige was in jedem Menschen diesen Sprung motivieren kann, ist die Aussicht, um den eigenen Tod. „Tod ist Übereignung in das Eigenste der Wahrheit des Seins. Tod ist Übereignung in den Untergang, Zugehörigkeit in den Anfang. Der Tod ist - seynsgeschichtlich gedacht - nie Übergang in ein anderes ‚Leben‘, nicht die Beförderung in ein besseres Fortdauern. Auch nicht die Täuschung des Erhaltenbleibens im Meinen der Menschen. Der Tod ist Untergang und das ist höchster Anfang, ist äußerste Verbergung, ist Sein. Jede Anthropologie steht ratlos vor dem Tod, und jede Theologie ist allzu gut beraten, als daß sie seine Würde in einer einzigen Fragwürdigkeit zu erkennen vermöchte.“ (Heidegger 2005: 139) Der Tod gibt so den Anstoß in den Anfang hinein. Allerdings wird der Tod nur oft verdrängt. Er wird nur kurz erlitten, anstatt das der Tod durchs ganze Leben gelebt wird. Nur indem der Tod so gelebt wird, als Paradoxie von Leben und Tod, fallen beides Seiten tautologisch zusammen: „der Tod ist tot, das Leben lebt. Halleluja.“ (Gottlob 324), so wie Paulus schreibt, „Zusammen wurden wir begraben mit ihm durch unsere Taufe auf den Tod, und so wie Christus auferweckt wurde von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so sollen auch wir in ein neues Leben aufbrechen.“ (Röm 6,4) Allerdings wird dies hier nicht als passives Geschehen, am Ende unseres irdischen Lebens verstanden, sondern als Ereignis was immer aufs neue im Hier und Jetzt sich ereignen soll. Auf diese Weise kann der Tod das vorhandene Seiende durchbrechen und einen Sprung ermöglichen, der das Seyn erfahren lässt. Der Tod ist damit eher die Dynamik, die in diesem Leben stattfindet, wo im Leben der Tod überwunden werden muss: „Es war ein wunderlicher Krieg, / da Tod und Leben rungen, / das Leben behielt den Sieg, / es hat den Tod verschlungen.“ Diesen Text von Luther, den Bach in der Kantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) vertont hat, drückt dies sehr passend aus.
„Das Sein als den Anfang und den Anfang als das Seyn zu erfahren ist für alles gewöhnliche Vorstellen, Wünschen und Rechnen notwendig befremdlich. Und schon der Versuch, diese Befremdung abzuschwächen, statt sie zu entfalten, zeugt vom Nichtverstehenkönnen dessen, was hier gesagt werden muß.“ (Heidegger 2009: 229) Dieser Hinweis Heideggers erklärt auch, warum Job sich niemals etwas konkretes wünscht, außer dass er nicht sei, sogar nie geboren sei. Denn Job hat längst alles Seiende als Orientierung verloren, ist ihm nur noch Schatten, die ihn nicht mehr tragen. Aber dies Ausrichtung am Sein gibt zunächst einmal noch viel weniger Boden unter den Füßen, sondern öffnet einen noch viel tieferen Abgrund, von dem Job zunächst einmal aufgefressen wird. „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (Nietzsche 1993: 98)
Was Job in diesem Abgrund allerdings erfährt, sind eigentlich keine psychologischen Phänomene mehr. Psychologie gehört immer noch in den Bereich des Seienden, den Job allerdings immer mehr verlässt. Er hat diesen Sprung ins Seyn bereits vollzogen, was aber nicht bedeutet, dass er damit bereits alles Seiende Losgelassen hat. Aber alles ist immer mehr aus der Ereignung des Anfangs in Job zu verstehen. „Die Erfahrung ist der Schmerz des Abschieds, welcher Schmerz in die Verwindung des Seyns gehört und als verwundener erst die Wonne und den Schrecken zumal entfaltet. Die Verwindung des Schmerzes folgt der Verwindung des Seyns und ist aus dem Seyn ereignet. Die Verwindung des Schmerzes hebt ihn nicht auf, sondern bringt ihn zurück in das Bleiben. […] Das Bleibende ist das Bleiben. Das Bleiben ist der Anfang. Dieser bleibt im Ab-grund. Dieses Bleiben ist der Untergang. […] Der Schmerz ist die anfängliche (dem Anfang antwortende und so entsprechende) Verklärung des einzigen Wissens. Der Schrecken des Ab-grundes im Anfang und die Wonne des Ab-schieds in die Er-eignung sind anfänglich und nicht von der Art, daß ‚Gefühle‘ sie je erreichten.“ (Heidegger 2009: 233f.)
„Der Anfang ist das Versagen des unterschiedhaften Abschieds.“ (Heidegger 2009: 227) oder „der Anfang ist der Ab-grund der Lichtung des Unterschieds in das Einfache des Daß des: ‚es ist‘.“ (Heidegger 2009: 228)
„Der Austrag der Unterscheidung, sofern diese dem Unterschied in die Verwindung folgt, ist die Inständigkeit im er-eigneten Eigentum der Armut des Einfachen der Anfängnis. Die Inständigkeit im zu-geeigneten Eigentum der Armut ist der Adel des Dankens. Das Danken ist nicht eine Zugabe zum seynsgeschichtlichen Denken, sondern es gehört zur Auszeichnung des Schmerzes der Erfahrung des Ereignisses. Dieses Danken ist nicht die Unterwürfigkeit dessen, der beseligt ist über den Besitz einer Habe, die ihm alles leicht macht. Dieses Danken ist das Hochgemute des hohen Mutes, der das Wagnis der Auszeichnung zum Austrag anerkennt. In diesem Danken ist das seynsgeschichtliche Denken wesenhaft die Er-fahrung der Zugewiesenheit in die Wahr-heit des Seyns. Dieses Danken ist die er-eignete Bereitschaft zur Unheimischkeit im Ab-grund des Anfangs. Aus diesem Danken ist das volle Wesen des Denkens als Austrag und Erfahrung gefügt. Im Austrag sind Erfahrung und Denken dasselbe; aber ihre Bestimmung läßt sich nie aus der anthropologischen Umgrenzung von Erkenntnis vermögen gewinnen.“ (Heidegger 2009: 235f.)
„Wir denken dem Bedenklichsten das zu-Denkende zu. Aber dieses Zu-Gedachte ist nicht etwas, was wir unsererseits erst auf- und mitbringen, um damit eine Gegengabe zu leisten. Wenn wir das Bedenklichste denken, denken wir Jenes an, was das Bedenklichste selber uns zu denken gibt. Dieses Andenken, das als Denken schon der eigentliche Dank ist, bedarf, um zu danken, nicht eines Vergeltens und Verdienens. Solches Danken ist kein Abgelten; doch bleibt es ein Entgegentragen, wodurch wir Jenes, was eigentlich zu denken gibt, erst eigens in seinem Wesen belassen. So verdanken wir unser Denken in einem Sinne von ‚verdanken‘, der unserer Sprache kaum noch geläufig und der, soweit ich sehe, nur im alemannischen Sprachbereich noch üblich ist. Wenn die Verhandlung einer Sache abgeschlossen, verabschiedet wird, sagt man, sie werde verdankt. Verabschieden meint hier nicht wegschicken, sondern umgekehrt: die Sache dahin bringen und fortan dort lassen, wohin sie gehört. Diese Verabschiedung heißt die Verdankung. Wenn ein Denken es vermöchte, das, was je und je zu denken gibt, in sein eigenes Wesen zu verabschieden, dann wäre solches Denken der höchste Dank der Sterblichen. Dieses Denken wäre die Verdankung des Bedenklichsten in seine eigenste Abgeschiedenheit, die das Bedenklichste unversehrbar in seine Fragwürdigkeit verwahrt.“ (Heidegger 2002: 151)
„Im ereigneten Beginn wird das Ereignis geschichtlich. Der ereignete Beginn ist schon aus dem Seyn in die Wahrheit des Seyns gerufen. Das Geheimnis des Beginns beruht darin, daß er der Schmerz ist und die Besänftigung des Schmerzes aus dem eigenen Sanften, das den Schmerz in die Freude birgt und die so entspringende Trauer festlich sein läßt. Der Beginn lichtet das Einander-nahe-kommen des Seyns aus dessen Wahrheit und des Menschen aus dem Da-seyn. Der Beginn birgt das gelichtete Er-eignen in die einstige Nähe der ‚ehdem‘ gerufenen Menschen zueinander, die den Raum der Schickung des Seyns um sich tragen, welcher Raum das Wesen der Heimat hegt. Die Schickung des Ereignisses in den Beginn läßt aus dem Beginn den Dank erstehen. Dem beginnlich Denkenden ist stets in irgendeiner unfaßlichen Weise das Ereignis gewährt. Dem Dank eignet die ins Freie und Heitere des Seyns die Wege öffnende Genügsamkeit, die nichts kennt, was vergeblich sein könnte. Der Dank, der aus dem schicklichen Beginn geschenkte, ist das Geheimnis der ‚Seele', des einholenden Ausholens, des Inständigen. Im Dank, der die Heitere des Seyns verwahrt, ist der Beginn geschichtlich und in diesem Geschicht das Ereignis. Das Ereignis ist die Innigkeit des Fugs der Wahrheit des Seyns in die Wahrung durch den Menschen, zumal die Rück-kehr des Menschenwesens ins Inständige zur Bergsamkeit des Seyns. Die Innigkeit des Fugs und die Fügsamkeit der Rückkehr sind, gegenwendig unterschied [sie] sich überholend, einig als die Kehre, die in der Ruhe das Ereignis sich ereignet. Die Kehre ist der verborgene Ursprung des »Wieder« aus der Ruhe. Im Ereignis selbst liegt so der Grund der Notwendigkeit der Wiederholung des Beginns, insofern dieser die Versammlung ist (die rettend, lichtende Bergung) des Ereignisses in den Anfang. Der Beginn ist ereignishaften Wesens; er gehört nicht dem Menschen. Das inständliche Menschenwesen ist ihm vereignet. Der Beginn ist die aus dem Ereignis nötige Schickung des Ereignisses in die inständliche Gründung der Wahrheit des Seyns in das ereignete Seiende. Der Beginn ist die Fügsamkeit in den Fug des Anfangs - als der Wahrheit des Seyns. Das Ereignis ist die Ruhe des Einstigen. Die verbergende Lichtung im Ereignis und die wahrende Ruhe sind ihm gleichwesentlich wie die Kehr von Fug und Rück-kehr. Das Ereignis ist die Verbergung des Seyns in die Wahrheit, die selbst ereignishaft künftig als das Seyn aufgeht und untergeht. Weil der Beginn lichtet, ist die Bergung. Die Bergung aber ist der sich zurücknehmende Wink der Verbergung. In ihr kehrt der Beginn wieder zu sich zurück. So west im Beginn ursprünglich Wieder-kehr. Dieses »Wieder« selbst ist noch der Kehr im Ereignis entsprungen. Weil der Beginn die Geschichte gründet, Geschichte als Geschick der inständigen Gründung der Wahrheit des Seyns in das Wohnen, ist der Beginn ereignishaft geschichtlich und ist als geschichtlicher nur in der Wieder-holung. Sie ist das Fest der beginnlich überholenden Rück-kehr in die unüberholbare Ruhe des Vereignens im Ereignis. Nur wo ein Überholen gewährt ist, wahrt die Wiederholung die Stetigkeit des je und je neu Beginnlichen.“ (Heidegger 213: 777f.)
„Dichten: das Andenken an das Fest - das Erfestigen des Aufgangs des Heiligen. Denken als An-denken - Bezug des Heiligen auf Heimischwerden. ‚Denken‘ - weil das Heilige aus der Anfängnis. Denken: das Ent-stiften als Austrag des Unterschieds in den untergänglichen Abschied. Der Austrag eigenen Ursprungs. Bezug des Seyns als solchen zum seynsgeschichtlichen Menschen - d. h. (Ereignis) Ent-gründen. Die Abgründung des Anfangs. […] Die Abgründung folgt der Verwindung in den Untergang. Ab -gründung folgt dem Rätsel des Anfangs. Die Ent-stiftung entzieht sich dem Heimischen; aber dieses Entziehen entspringt schon aus dem wesenhaften Aufmerken auf das Ereignis, d. h. aus der Folgsamkeit zur Verwindung. Das Er-eignis in seiner untergänglichen Anfängnis ist das Unheimische, aber nicht das Unheimische zum Heimischen des Dichtens, sondern das wesenhaft nicht auf Heimisch und Unhei misch bezogene; aber erst recht nicht das bloße Abenteuern, das gerade auf beides in je verschiedener Gleichgültigkeit zu ihnen gebannt bleibt. Das ‚Unheimische‘ des Denkens ist außerhalb von Heimisch und Unheimisch in der Wesung der Wahrheit selbst.“ (Heidegger 2009: 243f.) Was Heidegger als Philosoph dann nicht denken kann, ist dass in dieser Schnittfläche von Dichten und Denken das Gebet zu verorten ist. Allerdings eine Beten was seine Lektion vom Zen-Buddhismus genauso gelernt hat, wie die abgründigen Exerzitien von Przywara, die in der Analogia Entis gründen.
大死
"Wir lebende Nägel,
eingehämmert in die Gesellschaft!
Eines Tages werden wir von allem abheben.
Die Luft des Todes werden wir
unter den Flügeln spüren
und milder und wilder sein als hier."
Tomas Tranströmer
Karsamstag 2022