3. Mahayana als Weg


Der Buddha sagt zu Subhuti: „Subhuti, maha (große) Bodhisattvas sind alle darin gleich, dass sie ihr Herz aufgehen lassen: Allen lebenden Wesen - seien sie aus einem Ei geboren, lebend geboren, aus Feuchtigkeit geboren, durch Verwandlung geboren, oder haben sie eine wahrnehmbare Form oder eine nicht-wahrnehmbare Form, ob sie denkend oder nicht-denkend sind, oder sind sie weder denkend noch nicht-denkend - eröffne ich, das Nirvana in sich aufbrechen zu lassen, um alles Leid aufzuheben. Und so haben unzählige, nicht zu fassen viele lebende Wesen ihr Leid aufgehoben, aber dies bedeutet, dass damit kein Einzelner erlöst wurde. Wie kann das sein? Denn der Bodhisattvas hängt nicht an falschen Vorstellungen wie einem Selbst, einer Person, etwas Seiendem oder einem Lebenden, sonst wären sie keine Bodhisattvas. 

 

 

Die Geburtsarten beziehen sich auf alles und jeden der durch die Bodhisattvas erlöst wird. Ganz egal, ob aus einem Ei geschlüpft, oder hochintelligent (vermutlich wird auch KI berücksichtigt)…egal, ob mit Zweifeln oder ohne etc. Jesus hat ja auch alle geliebt, egal ob sie ihn gefeiert haben oder nicht. Daher wäre der logische Schluss, zu sagen, scheißegal wie du auf die Welt gekommen bist….scheißegal ob man dich überhaupt bezeichnen kann oder ob man überhaupt was aussagen kann über dich...du gehst mit mir und ich erlöse dich! Scheißegal, ob x oder y oder z, oder ob du überhaupt aus einem anderen Alphabet stammst - du wirst erlöst! Um dieses alle zum umgreifen geht es und nicht um eine vollständige Aufzählung der Geburtsarten. Die verschiedenen Formen des Geborenwerdens bedeuten aber auch verschiedene Lebensformen, von denen der Buddha die Wesen erlösen muss. Ein Huhn ist ganz anders gebunden, als dies ein Mensch oder ein Schneeball ist. Dies wird noch einmal verdeutlicht, indem das Sutra fortfährt und noch einmal neu beginnt und verschiedene “Bewusstseins”-Formen oder Daseins-Formen im Sinne Heideggers aufzählt: denkend oder nicht denkend oder auch ganz etwas anderes, was wir in unseren Kategorien uns nicht vorstellen können, wie etwa das Dasein von Göttern, Geistern, Aliens oder auch Fischen. D.h. Wesen "jenseits unserer Kategorien" - oder vielleicht "nicht kategorisierbar" - oder "in unseren Kategorien nicht wahrnehmbar" sind. 

 

Der Buddha eröffnet und lädt sie dazu ein, dass sie ihre selbstgemachten und übernommenen Illusionen aufgeben und auflösen. Dass sie an ihren Konstrukte, die sie sich von der Welt machen, erkennen, dass diese auf eine Leere gesetzt sind und diese Leere durch diese Konstrukte durchscheinen sehen, womit sich die Bedeutung dieser Konstrukte radikal verändert. Dass Reichtum, Schönheit alle relativ sind, vergänglich und letztlich nicht existent sind. Dann sehen sie die Welt, dass sie leer ist, ein unmarked space - weit, vielfältig, unhierarchisch und einfach schön, gut und wahr in dieser ganz einfachen Form. Und damit nehmen sie das Nirvana wahr. Und dies ist dann das Aufbrechen des unmarkes space, der allem zugrunde liegt, das Aufbrechen des Nirvana im Samsara. Es entfällt damit auch die Differenz Nirvana und Samsara… beides unmarked space. Und wenn man diese Unterscheidung von Nirvana und Samsara trifft, ist man noch längt befangen. 

 

Das Sutra sagt zu, dass durch den Buddha und die Mithilfe der Bodhisattvas alle erlöst sind. Aber warum? Man sieht das Leid auch nach 2.500 Jahren. Es gibt zwar weniger absolute Armut, aber die Menschen und Tiere etc. leiden genauso an der Welt. Vielleicht sogar mehr als früher, weil die meisten sich die Welt entzaubert haben und sich die Illusion von Konsum, Individualität, Karriere etc. zum obersten Ziel gesetzt haben und kultivieren. Eigentlich genau das Gegenteil von dem was der Buddha aber auch Jesus gelebt haben. 

 

Trotzdem ist das Sutra nicht falsch in seiner Aussage. Genauso sind die Evangelien nicht falsch mit ihrer Naherwartung, dass der Herr schon da ist bzw. in jedem Moment wiederkommen wird. Denn die Erlösung steht nicht irgendwann an und Erleuchtung ist auch nicht etwas, was irgendwie etwas ändern würde an der äußeren Welt. Die ganze äußere Welt ändert sich nicht, wenn man sich verliebt. Die Arbeit bleibt langweilig, die Kollegen spinnen weiter… und trotzdem ist alles anders. Erleuchtung ist eher ein sich verlieben (aber nicht in eine einzelne Person, sondern in die Welt als Ganzem), als dass sich alle Kollegen auf einmal ändern. Was beide bewirken wollen, ist das man erkennt, dass man als Person geliebt wird, und zwar ganz bedingungslos, unabhängig davon, was man erreicht hat: eben wie Eltern ihr Kind lieben oder der Kuss des Partners auch nach durchgefallenen Examen noch süß ist (und vielleicht sogar noch süßer, weil bewusst wird, dass es nur der Kuss ist ohne Status und was sonst noch daran hängen könnte). Da ist das Christentum auch echt besser aufgestellt, indem Liebe und Vater dort die Grundkonzeption ist und nicht die buddhistische Leere. 

 

Fühlt man sich allerdings als dieses Ich grenzenlos geliebt, egal welche Konstrukte man von sich hat oder mit welchen Konstrukten die Gesellschaft einen vergleicht, erkennt man, dass dies auf jedes andere Lebenwesen auch zutreffen muss. Denn dies kann ja nicht nur auf mich bezogen sein, sonst funktioniert der Ansatz dieser grenzenlosen Liebe nicht. Und dann ist auch das Personenkonzept ausradiert, dann sind alle geliebt, die ganze Welt und damit auch nicht mehr voneinander unterscheidbar. 

 

Der Buddha behandelt alle gleich in seiner Wertschätzung, so auch die Bodhisattvas. Der Buddha geht dabei dann behütend, d.h. individuell und damit nicht gleich und drängend vor. Dass er alle gleich behandelt meint nicht, dass er mit jedem gleich ist: er begegnet jedem mit demselben Respekt, aber es zeigt sich schon auch in unterschiedlichen Verhaltensweisen. Er begegnet den Menschen dort, wo sie sich verstanden fühlen. Er will nicht von außen irgendeine Lehre aufs Auge drücken, sondern dass jeder das Gefühl hat, es selbst zu begreifen, wie Sokrates als Maieutikos. Nur dann kann es wirklich funktionieren. Sokrates war vielleicht ein Boddhisattva! Vielleicht kann man immer Buddha, Jesus und Sokrates zusammen hier lesen, also dass diese großen Denkrichtungen hier aus dem gleichen Grund schöpfen. 

 

Denn die Erlösung, besteht ja darin, ins Nirvana zu kommen bzw. diesen ewigen Kreislauf von Leben und Sterben zu durchbrechen. Aber solange da noch Leben ist, ist Sterben, also da ist keineswegs jeder erlöst. Und sonst bräuchte es auch keinen Bodhisattva. Den es aber offensichtlich schon braucht. Aber sind diese Reinkarnations-Interpretationen vielleicht ein „Orientalism“. Eine übertriebene westliche Konstruktion, um den Buddhismus lächerlich zu machen. Wo begegnet dieses Thema im Sutra oder bei den Zen-Meistern? Wenn dann eher als ethisches Hilfsmittel: stell dir vor du, deine Mutter, deine Kinder, deine Frau/Mann kann als alles wiedergeboren werden… also auch die Mücke auf deiner Haut, die dich gerade sticht...also los, hau dein Kind, dass vielleicht diese Mücke ist, platt! In diesem Sinne ist dieses Konzept äußerst plausibel. 

 

Oder dass die Erleuchteten von ihren früheren Leben wissen und auf das Wissen von dort zurückgreifen können. Um erleuchtet zu werden reicht ein Leben offensichtlich nicht aus. Für alle die frustriert sind, dass sie über Jahre nicht erleuchtet werden, kann dies ein Trost und Ansporn sein weiterzumachen. Was dann aber wieder gut in diesen Kontext passen würde, der Bodhisattva sucht eigentlich nichts, denn er weiß, dass in diesem Leben vielleicht gar nichts zu erreichen ist, aber er macht trotzdem mit voller Entschlossenheit weiter. Hier passt dann vielleicht auch das zentrale Konzept von Kant rein: dass eine Ethik immer Pflichtethik sein muss, wovon man selber nicht notwendig einen Mehrwert zieht. 

 

Und wozu braucht es dann noch dieses Sutra? Und einen Bodhisattva? Klar ist der Bodhisattva keine "Person"...Subhuti ist jetzt kein Mensch oder keine Persönlichkeit, sondern ein Weg. Einer von unendlich vielen Wegen, die ins Nirvana führen. Aber hier im Sutra muss das vielleicht so dargestellt werden, damit für die Menschen, die es lesen/hören dieser Weg dahinter und das Konzept ersichtlich wird. Sonst wäre es viel zu abstrakt und sie würden sie nie darauf einlassen. Durch die Denkfigur eines Bodhisattvas kann man die Leute irgendwie erreichen. Aber gleichzeitig würde es das alles eh nicht brauchen, wenn wir schon alle erlöst sind. Das Sutra braucht es genau von diesen Vorstellung zu befreien, d.h. dass es eine Wiedergeburt gibt oder die Hölle. Es gibt nur dieses Jetzt und handele achtsam in diesem Jetzt. 

 

Und dieses Leben im Hier und Jetzt bedeutet, ganz hier zu sein, ohne Wertung, nur mit der Wertung, dass jede Wertung verstellt: es gibt kein Gut ohne Schlecht, der Bodhisattva sieht beide zusammen und lässt sie im unmarked space aufgehen und lässt die nächste Form entstehen. Ein Mensch stirbt und der Bodhisattva sieht gleichzeitig eine neue Blume entstehen (was Reinkarnation bedeuten kann). Aber der Bodhisattva, sieht auch dass er als Person eine Formsetzung ist, die vergeht und auch dass er ein Bodhisattva ist, ist eine Formsetzung… und alles geht auf im unmarked space. Und auf diese Weise gibt es weder den Bodhisattva, weil er sich aufgehen lässt in der unbegrenzten Liebe des unmarked space, und es gibt keine Wesen die erlöst werden müssen, weil auch diese als einzelne als sich aufgehende erkannt werden. “To do this, you need to make use of wisdom, not intelligence. Intelligence differentiates, wisdom does not.” (Meng-tsan: Diamond-Sutra, 83) 

 

Der Boddhisattva nimmt diese Formsetzung einfach an, aber hält nicht daran fest. Es ist wie wenn man in den Himmel schaut und Wolken sieht. Das sind auch Gebilde, die kommen und gehen und irgendwelche Formen annehmen, und man lässt sich darauf ein, ob man jetzt die Form eines Hundes erkennt oder eine Blume etc. Und die Schönheit daran in den Himmel zu schauen, ist gerade die Beobachtung der Weite und den Veränderungen daran. Man lässt die Gebilde kommen und auch wieder vergehen, ohne überhaupt den Versuch zu machen diese Festzuhalten (allerdings wird selbst dies wieder zerstört, durch die Handyfotos). 

 

Auch das man hier so selbstverständlich seine Ohnmacht akzeptiert, weil wer erwartet schon, dass er die vorbeiziehenden Wolken formen könnte nach seinem Willen. Sondern man nimmt dankbar alles an und lässt die Fantasie auf Hochtouren laufen, die dann aus jeder Form etwas macht. So lebt und handelt der Bodhisattva. Oder auch Kinder, wenn sie spielen und mit so viel Fantasie irgendwelche Orte verzaubern oder Gegenstände magisch aufladen. Da ist dann plötzlich der Schluf hinterm Bett eine riesige Abenteuerhöhle, oder der Stuhl ein gleichberechtigter Mitbewohner etc. 

 

Irritierend ist die Aussage, dass es keine Erlösung für einen Einzelnen gibt. Zunächst ergibt sich eine Erklärung rein logisch, den dadurch, dass alle Lebewesen immer schon erlöst, gibt es faktisch auch keine Erlösung für den Einzelnen. Oder liegt es daran, dass es keine Erleuchtung für einzelne Bodhisattvas gibt, da sie diese verweigern müssen aus ihrem Wesen heraus, um weiter in dieser Welt zu bleiben, um allen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen? Und so haben unzählige, unfassbar viele Wesen ihre Schmerzen losgelassen und doch ist damit kein Einzelner erlöst. Wie kann das sein? 

 

Ein Bodhisattvas drückt sich nicht darin aus, dass er ein Einzelnes, eine äußere oder innere Gestalt, unterscheidet. Ein Bodhisattva trifft keine solchen Unterscheidungen, sonst wäre er kein Bodhisattva. Worin drückt sich ein Bodhisattva aus? Wie verhält er sich als Arbeitskollege? Er begegnet allem mit demselben Respekt, aber es zeigt sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen. Er begegnet den Menschen dort, wo sie sich verstanden fühlen. Und das kann ganz unterschiedlich sein. 

 

Der Punkt ist, der Buddha sagt, dass alles erlöst wird bzw. bereits erlöst ist. Christlich gesprochen heißt dies die Hölle ist leer, alle kommen in den Himmel. Buddhistische gesprochen heißt dies, keiner muss Erleuchtung suchen, denn alle sind bereits jetzt schon erlöst. Dies greift in beiden Religionen an die Grundlage: für den Christen ist es die zentralste Aufgabe in den Himmel zu kommen, für den Buddhisten das Satori zu erlangen. Beides Unfug wird doch hier gesagt, oder? Und dann ist die Frage, warum ist das Unfug? Und wozu braucht es dann noch dieses Sutra? Und einen Bodhisattva? Klar ist der Bodhisattva keine „Person“. Subhuti ist jetzt kein Mensch oder keine Persönlichkeit, sondern ein Weg. Einer von unendlich vielen Wegen, die ins Nirvana führen. Die Darstellung durch das Sutra ist dazu da, damit für die Menschen, die es lesen oder hören dieser Weg dahinter und das Konzept ersichtlich wird. Sonst wäre es viel zu abstrakt und sie könnten sie nie darauf einlassen. Durch die Denkfigur eines Bodhisattvas kann man die Leute erreichen.