Kapitel 9
Und im Vorbeigehen sah er einen Menschen, der blind war von Geburt. / Und seine Schüler sahen ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt? Entweder er oder seine Eltern, wodurch er blind geboren wurde? / Und Jesus erwiderte: Weder er hat gesündigt noch seine Eltern, sondern damit aufscheint das Werk Gottes an ihm. / Wir müssen wirken die Werke dessen, der mich geschickt hat, solange es Tag ist. Aber es kommt die Nacht, wo niemand wirken kann. / Jedes mal wenn ich anwesend bin in der Welt, bin ich das Licht der Welt. / Während er sprach, spukte er auf die Erde und machte einen Teig aus der Spuke und er verteilte diesen Teig auf seinen Augen. / Und er sprach: Gehe, wasche dich im Teich Siloam (was bedeutet „Gesandter“).
Die Nachbarn aber und diejenigen, die ihn vorher gesehen hatten als Bettler, sagten: Ist dies nicht der, der immer dasaß und bettelte? / Die einen sagten: Er ist es! Andere sagten: Nein, sondern er ist ihm nur ähnlich. Derjenige selbst sagte: Aber ich bin es doch. / So sagten sie zu ihm: Wie sind deine Augen geöffnet worden? / Derjenige erwiderte: Der Mensch, der heißt Jesus, hat einen Teig gemacht und hat ihn auf meinen Augen verteilt und sprach zu mir, dass ich gehen soll zum Siloam und mich waschen soll. So ging ich, wusch mich und schaute umher. Und sie sprachen: Wo ist derjenige? Er sagte: Keine Ahnung.
Sie bringen vor die Pharisäer den vormals Blinden. / Denn es war ein Sabbath-Tag, an dem Jesus den Teig gemacht und seine Augen damit geöffnet hatte. / Nun verhörten ihn die Pharisäer, wie er wieder sehen konnte. Da sprach er: Einen Teig tat er mir auf die Augen und ich wusch mich und konnte schauen. Da sagten die einen Pharisäer Folgendes: Durch Gott kann dies diesem Menschen nicht geschehen sein, weil dies den Sabbath gebrochen hat. / Die anderen aber sagten: Wie kann aber ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und sie waren hierin gespalten. / Sie sagten weiter zu dem Blinden: Was sagst du über den, der dir die Augen geöffnet hat? Da sprach der: Er ist ein Prophet.
Die Juden aber glaubten ihm dies nicht, dass er erst blind und jetzt sehen konnte, so dass sie die Eltern des Umhersehenden riefen / und sie sagten zu ihnen, um sie zu verhören: Ist dies euer Sohn, von dem ihr sagt, das er blind von Geburt ist? Wie aber kann er jetzt aufblicken? / Antwortend sprachen seine Eltern: Wir erkennen ihn wieder: dies ist unser Sohn, der blind geboren wurde. / Wie er nun aber sehen kann, wissen wir nicht. Und auch wer seine Augen geöffnet hat, wissen wir nicht. Verhört ihn selbst, alt genug ist er, so dass er für sich reden kann. / Dies sprachen seine Eltern, weil sie fürchteten die Juden. Denn die Juden waren sich schon einig, dass wer zustimmt, dass er der Christus ist, aus der Gemeinde ausgeschlossen wird. / Deshalb sprachen seine Eltern, dass er alt genug sei und selber verhört werden kann.
So riefen sie ein zweites Mal den Menschen, der blind gewesen war und sprachen zu ihm: Lass die Herrlichkeit bei Gott! Denn wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. / Jener antwortete: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich blind war und nun aufsehen kann. / Da sprachen sie: Was wurde mit dir gemacht? Wie wurden deine Augen geöffnet? / Er antwortete: Ich habe dies schon zu euch gesprochen, aber ihr habt nicht hingehört. Warum wollt ihr dies wieder hören? Wollt ihr etwa seine Schüler werden? / Dafür verachteten sie ihn und sprachen: Du bist Schüler von jenem, wir dagegen sind Schüler von Moses. / Wir wissen von Moses, dass Gott mit ihm geredet hat, von diesem wissen wir aber nicht woher er ist. / Der Mann antwortete und sprach zu ihnen: Aber darüber muss man sich wundern, dass ihr nicht wisst, woher er ist, denn mir hat er meine Augen geöffnet. / Jeder weiß, dass Gott keinen Sünder erhört, sondern nur die gottesfürchtigen und die seinen Willen tun erhört er. / In diesem Zeitalter hat man nicht gehört, dass die Augen geöffnet wurden von jemanden, der von Geburt blind war. / Wenn er also nicht durch Gott wäre, so hätte er nichts bewirken können. / Antwortend sprachen sie: Du bist durch und durch in Sünde geboren und willst uns belehren? Und sie stießen ihn aus.
Jesus hörte, dass sie ihn ausgestoßen hatten und als er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? / Da antwortete derjenige und sprach: Aber wer ist dies, Herr, an den ich glaube? / Da sprach Jesus zu ihm: Du hast ihn geschaut und der mit dir redet, er ist dies. / Er fügte hinzu: Ich glaube Herr! Und er warf sich zu ihm hin nieder.
Und Jesus sprach: Zu entscheiden bin ich in die Welt gekommen, dass die Blinden sehen können und die Sehenden blind gemacht werden. / Dies hörten einige Pharisäer, die bei ihm waren und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? / Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, dann wäret ihr ohne Sünde! Da ihr aber sagt, dass ihr sehen könnt, bleibt ihr in der Sünde.
In Kapitel 9 geht es um die Heilung eines Blinden. Aber hier wird nicht nur das von Jesus gewirkte Wunder berichtet, wie dies oft an anderen Stellen lediglich geschieht, sondern es wird auch dargestellt, wie dies aufgenommen wird: und zwar von dem Geheilten selber und dies auf verschiedenen Stufen, so wie er dieses Wunder langsam in seinen ganzen Konsequenzen realisiert, aber auch von seinem Umfeld. In diesem Prozess zeigt sich dann auch immer mehr, dass Jesus Wunder (wie so oft) doppelbödig ist: es wird nicht nur jemand physisch sehend gemacht und so sein irdischer Alltag deutlich erleichtert, sondern das eigentliche Wunder was hier geschieht, ist dass in ihm der Samen gesetzt wurde, dass sie seine Augen für Gott öffnen. Erst dies ist das eigentliche Wunder. Und weil das eigentliche Wunder sich so oft in den Menschen nicht ereignet, stehen die Wunder bei Jesus oft in der Kritik (etwa bei der Brotvermehrung, wo dieser eigentliche Prozess, des sich öffnen für Gott bei den Leuten eben nicht angestoßen wird).
So treffen im Vorübergehen Jesus und seine Schüler einen Blinden. Seine Schüler wollen den Blinden direkt moralisch einsortieren und dies verbunden mit einem Kausaldenken. So fragen sie Jesus, ob er jetzt blind ist, weil er oder seine Eltern gesündigt haben. Jesus entzieht diesem direkt die Grundlage, indem er klar macht „Dies hat mit der Sache nicht zu tun“ (wie Yuanwu sagen würde), sondern es geht hier darum, dass Gottes Wirken in der Welt sichtbar wird. Aber es geht nicht um ein negatives Wirken, was schlechtes Verhalten sanktioniert, sondern Gott wirkt befreiend in der Welt. Jesus ist nicht zum richten gekommen in die Welt, sondern sie zu befreien.
Aber das Wirken Gottes ist eben anders als unser Kausaldenken, dass man einen Plan mit festgelegten Schritten hat. Vielleicht ist auch deshalb vielen heute der Glaube so fremd. Denn auch Jesus sucht nicht gezielt den Blinden auf, um daran dieses Beispiel einer Heilung zu geben, sondern sie begegnen dem Blinden im Vorübergehen und Jesus ergreift einfach diese Situation. „Gott tut nichts als fügen“ wie die Westfälin sagt, und Jesus ergreift eben genau diese gefügte Situation.
Jesus Wort, dass nur bei Tag und nicht bei Nacht gewirkt werden kann, ist hier durchaus doppeldeutig. Zum einen kann es sich auf den richtigen Moment beziehen, den man nicht erzwingen kann (καιρός), auf der anderen Seite aber auch, den Tag, der mit Jesus Weilen auf der Erde gemeint ist. Dagegen die Nacht seiner Kreuzigung, wo er eben nicht mehr wirkt, sondern bereit ist, dass letzte, was ihn in seinem Willen in allem übersteigt, anzunehmen. Denn aus dieser Bereitschaft der Annahme, die in der Nacht nur in ihrer letzten Konsequenz deutlich wird, entsteht auch sein heilendes Wirken bei Tag. Er kann heilen, weil er die Bereitschaft hat die Situation anzunehmen und dort den Willen des Vaters zu wirken und zu vollenden. Das gleiche geschieht am Kreuz, nur dass er dort eben nicht mehr handelt und auch keinerlei Ansatz mehr hat, zu verstehen, was hier passiert, sondern nur reine Bereitschaft ist.
Der Satz kann aber auch eine Doppeldeutigkeit haben, indem man ihn mit „Jedes mal, wenn ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ übersetzt. Dies wird dagegen aufgehoben, wenn man dies in der Regel folgendermaßen macht: „Solange ich in der Welt bin“, d.h. die Lebenszeit von Jesus von Nazareth damit meint. Der griechische Text ist hier allerdings durchaus offener formuliert, so dass in όταν auch anklingt, „jedes mal, wenn ich da bin“ oder „im Falle, dass ich da bin“. So kann man diesen ganzen Einstiegsabsatz auch dahin lesen, dass wenn Jesus da ist und an ihn geglaubt wird, lassen sich die Dinge in dieser Welt fügen, aber eben nicht nach dem eigenen Plan, sondern indem man sich dem Willen Gottes fügt, aber eben nicht passiv (und nicht nach einer kodifizierten Morallehre), sondern aktiv indem die jeweilige Situation im Vorbeigehen als verfügt aufgegriffen wird und man darauf seine eigene Antwort gibt: eben als tatsächliche Fuge einer Analogie Entis.
Danach macht er einen Teig aus der Erde (also dem vergänglichen Staub) und dem Himmel (seiner ganz persönlichen und intimen Spuke) und in diesem Zusammenwirken geschieht dann die Heilung. Es ist wie in einem normalen Brotteig, so dass das Mehl für den Menschen allein ungenießbar ist, erst indem Hefe und Wasser hinzugefügt werden und es gebacken wird, wird es für den Menschen genießbar. Die Erde für sich ist unfruchtbar, sie braucht das Wasser vom Himmel, damit sie lebt. Genau dies macht Jesus im kleinen durch den Teig, durch den der Blinde geheilt wird. Dann schickt er den Blinden los, sich von dem Teig wieder frei zu waschen. Er kann also nicht dauerhaft in dieser Verbindung von Himmel und Erde stehen, sondern muss sich davon wieder befreien und wird aber dann durch dieses Ereignis, dass sich in ihm Himmel und Erde begegnet sind, wieder die Welt gesandt. Denn solange er die Verbindung von Himmel und Erde in Form des Teiges auf den Augen verteilt hat, ist er weiterhin blind. Erst wenn er sich wieder wie das morgendliche Waschen für den Tag fertig gemacht hat, wird er zu einem Sehenden. „Das Christentum ist nicht nur für die Betkammer, sondern für das ganze Leben“, wie Adolf Kolping dies sehr prägnant formuliert hat. Und dann wird er aus dem Teich Siloam ausgesandt, dass er für sich selber realisiert, was in dieser Heilung mit ihm geschehen ist, aber auch dahin, dass sich alle, die ihm auf diesem Weg begegnen daran abarbeiten können. Denn es braucht nicht für jeden ein solches Wunder am eigenen Leib, sondern das Wunder zeigt nur eine Haltung, die selbst der geheilte Blinde erst für sich realisieren muss. Es ist kein passives Wundern, sondern etwas worin man sehr aktiv und rückhaltlos seine eigenen Person umbilden muss.
Die Heilung wird aber auch von den Leuten wahrgenommen, allerdings indem sie sich „wundern“, ob dieser Mann der Blinde ist, der jahrelang dort gebettelt hat. Sie sind sich unsicher, ob er es ist oder ihm nur ähnlich sieht, so dass sie ihn selber fragen. Der aber sagt nicht etwa, ja, ich bin derjenige, der dort an dem Tor die letzten 22 Jahre gebettelt hat und Jesus hat mir wieder die Augen geöffnet. Er sagt nur ἐγώ εἰμι, was zwar ganz alltäglich verstanden werden kann, als, ja ich bin derjenige. Allerdings auch eine im christlichen Kontext und insbesondere bei Johannes aufgeladene Formulierung ist. So bezeichnet sich in der Septuaginta Gott vor Moses selber als der ἐγώ εἰμι (Ex 3, 14, vgl. auch den Kommentar hierzu auf dieser Homepage und der Verbindung zu Heideggers Seinsdenken). In diesem Sinne macht schon früh Johannes Chrysostomos in seiner 55. Predigt zum Johannesevangelium darauf aufmerksam, das ἐγώ εἰμι anhaltendes Sein bedeutet, was sich unabhängig von der weltlichen Zeit gemacht hat. Zwar wird der geheilte Mann diese Bedeutung seiner Worte an dieser Stelle nicht volldurchdrungen haben, aber der Evangelist macht hierdurch deutlich, was mit dem Mann geschehen ist, indem er schon bezeichnet, was wirklich geschehen ist (und dies ist eben nicht die Heilung einer physischen Blindheit) und dass es für den Mann nun darauf ankommt, diese seine eigenen Worte für sich selber zu realisieren, d.h. dass er an diesem Sein Anteil nimmt, oder besser dass er aus diesem Sein ist, dies selbst ist. Und er kann dies vielleicht mehr als andere realisieren, weil er als bettelnder Blinder eigentlich nichts war oder bestenfalls nur etwas Geringes etwa im Vergleich zu den Pharisäern. Aber nun beginnt er zu verstehen, dass alle Menschen und alles was ist, in gleicher Weise aus diesem Sein sind und somit gleichwertige Kinder Gottes.
Aber dieses eigentliche Geschehen ahnen die Leute noch nicht einmal und fragen vollkommen falsch weiter, nämlich wer ihm denn die physischen Augen geöffnet hat. Und der Geheilte gibt eine akkurate Beschreibung der äußeren Ereignisse hierzu. Daraufhin wollen sie wissen, wo derjenige ist, der dies machen konnte. Vermutlich aus einer ähnlichen Sensationsgeilheit, die schon einige Male im Evangelium bei den Leuten aufgetaucht ist. Der Geheilte antwortet hierauf nur, dass er es nicht weiß. Aber dies deutet zweierlei an. Sie ist zum einen Antwort auf der Ebene der Leute, da sie eine oberflächliche Beschreibung der äußeren Ereignisse erhalten. Sie gibt aber zum anderen auch wieder, dass sich Jesus hier wie auch bei anderen Heilungen danach zurückzieht und auch dass er in seinen Heilungen nicht erwartet wird und er sozusagen eine Sprechstunde hat, sondern dies wie hier im Vorübergehen wirkt (so wie der Geist weht wo er will). Und ein weitere Punkt verweist darauf, dass die Menschen nicht wissen, woher er diese Macht zu heilen überhaupt nimmt. Darauf gehen nachher die Pharisäer ein, da sie zu wissen glauben woher Moses ist und Moses hieraus die Legitimation hat, sie dies aber von Jesus nicht wissen. Jesus ist zwar aus Nazareth und der Sohn Josefs, aber gleichzeitig kommt er wo ganz anders her und nicht nur kommt er da her, sondern gerade bei Johannes scheint immer wieder deutlich durch, dass Jesus kontinuierlich dort weiter wohnt und zuhause ist: nämlich bei seinem göttlichen Vater.
Die Leute bringen den Mann dann zu den Pharisäern, weil dies alles verbotenerweise am Sabbath passiert ist. Am Sabbath darf man nicht arbeiten und explizit auch keinen Teig herstellen. So steht es geschrieben und so ist es Tradition, nach der immer gehandelt wurde. Da braucht auch nicht mehr nachgedacht werden - auch nicht über eine Verhältnismäßigkeit: Jesus hat verbrochen, dass er ein kleines Stück Teig geformt hat, innerhalb von 20 Sekunden, dies ist sein Vergehen. Dafür hat er einem Menschen das physische Augenlicht wiedergegeben und den Weg zum Heil eröffnet. Wie absurd ist es eigentlich dies gegeneinander aufzuwiegen? Und ist Kirche nicht heute auch oft genau so? Da wird gegen die Ehe für alle gepoltert, dabei trifft dies den Kern des Christendaseins, dass sich Liebe realisiert und entfaltet: aber dieser Kern wird nur als traditionelle Kernfamilie von Mann und Frau und Kindern gesehen, und nicht als aufrichtige Liebe, die sich in dieser Welt ereignet und entfaltet.
Aber es sind nicht alle Pharisäer, die daran festhalten, dass nicht sein kann und darf, was der Tradition widerspricht. Denn die Pharisäer sind gespalten, da es auch die gibt, die nicht ganz ausblenden können, das hier ein Wunder geschehen ist, die diesen auf den Weg der Befreiung gesetzten Menschen sehen und die die Größe und Herrlichkeit ahnen, die hier gewirkt hat - und sie können dies eigentlich nirgends anders als bei Gott verorten. Sie befragen hierzu auch wieder den Mann, der zunächst erstmal wieder sein fact sheet referiert, was äußerlich passiert ist. Dann fragen sie ihn aber weiter, was er über den sagt, der dies an ihm gewirkt hat (ohne das die Pharisäer den Namen Jesus in den Mund nehmen). Und er bekennt kurz und bündig, dass dieser ein Prophet ist. Hier merkt man, dass der Mann langsam, Schritt für Schritt, innerlich immer mehr realisiert, was ihm geschehen und begegnet ist und sich jetzt in ihm entfaltet.
Aber es kann nicht sein, dass er ein Prophet ist. Denn Propheten findet man nur in den Schriften, dort sind sie durch die Väter klassifiziert und so zeitlich und begrifflich gut auf Abstand gehalten - aber ein Prophet in einer lebendigen Begegnung ist von ihnen kaum auszuhalten und auch noch nicht einmal denkbar. Um ihn zu widerlegen fragen sie also auch seine Eltern, ob er tatsächlich die Person ist, die blind geboren wurde. Nur dass die Eltern lediglich bestätigen, dass der Mann der hier sehen kann, ihr Sohn ist, der blind geboren wurde. Mehr geben sie aber nicht zu, denn sie bekennen nicht, dass es ein Prophet war, der ihren Sohn geheilt hat, sondern sie geben sich unwissend, wie dies bewirkt worden ist und verweisen auf ihren Sohn, der mündig ist und für sich selbst dies bezeugen kann.
An dieser Stelle merkt man, dass man sich hier weit von der Wahrheit entfernt hat. Es laufen sozusagen zwei gegenläufige Strenge durch dieses Kapitel: zum einen der geheilte Mann, der nach der eigentlichen Tat Jesu Schritt für Schritt immer mehr realisiert, was hier in ihm angestoßen worden ist und was sich langsam immer mehr entfaltet, wie der Sauerteig, der den ganzen Teig durchwirkt. Und zum anderen die Pharisäer, die bereits fest wissen (und eben nicht glauben) was wahr und unwahr ist. Aber auch dies ist ein Sauerteig, weil in ihr verlogenes, starres und totes Spiel werde auch die Eltern hineingezogen, denn auch sie antworten nur verlogen, weil sie Angst vor den Pharisäern haben, dass sie sie aus der Gemeinde ausschließen. Es ist keine lebendige Aussage oder Bekenntnis aus dem Herzen, sondern ein berechnete, kalkulierte, eine technisch-soziale Aussage (im Sinne Heidegger-Luhmann). Ein wirkliches Gespräch führt nur der geheilte Blinde, die anderen sind tot und erstarrt in ihren Positionen.
Sie rufen nach den Eltern also wieder den Mann selbst zum Verhör. Aber er kann sich eben nicht mehr auf das tote Begriffsspiel der Pharisäer einlassen, den Jesus hat in ihn einen Samen von Leben gesetzt, der stärker ist als die sozialen Erwartungen und Anerkennungen mit denen die Pharisäer drohen können. Die Pharisäer beginnen das zweite Gespräch auch explizit mit einer Aussage, die Gott auf Distanz hält: „Lass die Herrlichkeit bei Gott!“ Dies ist ja erstmal richtig, dass allein von Gott alle Herrlichkeit, Liebe und Leben kommt. Aber die Pharisäer verwenden es hier so, dass sie auf diese Weise diese Herrlichkeit von sich auf weg halten, so dass sie sich eben nicht von Gottes herrlichen wirken in dieser Welt und in in diesem Leben berühren, anrühren und einstimmen lassen. Sie kennen nur alte Geschichte, von Menschen, denen Gott begegnet ist. Diese Geschichten sind dann in abgeleiteten Gesetzen klassifiziert und kodifiziert worden - und damit tot, so dass eine eigene persönliche Begegnung mit Gott nicht mehr stattfinden kann. Aber will Gott eine Welt von Juristen oder von Lebensmeistern?
Die Pharisäer sind durch und durch Juristen, denn dies alles darf und kann nicht sein, weil hier ein Gesetzesverstoß im Spiel ist, den sie sofort wissend klassifizieren und verurteilen können. Interessant ist, dass hier ambivalent bleibt in den Formulierungen, wer der Sünder ist: der Geheilte oder der Heilende? Der Mann ist aber kein Jurist und kann diese Juristerei auch nicht mehr verstehen und ist unfähig sich auf diese Scheinwelt einzulassen, weil er wirklich durch Gottes Herrlichkeit berührt wurde - und was sind dagegen die ganzen toten Begrifflichkeiten? Der Mann überlässt diese langweilige, fruchtlose Aufgabe den Pharisäern, denn für das wahre Leben macht dies hier keinen Unterschied, ob jemand eine Ordnungswidrigkeit begangen hat oder nicht und in welcher Hinsicht. Er steht allein wundernd vor diesem Fakt, DASS er jetzt sehen kann und was darüberhinaus in seinem Inneren passiert.
Die Pharisäer interessieren sich allerdings nicht dafür, dass hier ein Wunder geschehen ist, sondern wie dies praktisch gemacht wurde. Sie wollen eher wissenschaftlich erkunden, wie es umgesetzt wurde und haben keinen Sinn dafür, staunend davor zu stehen, dass dies geschehen ist. Aber das was die Pharisäer wissen wollen, kann man hier nicht wissen, weil es nicht etwas ist, was ein Mensch gemacht hat, sondern was Gott durch einen Menschen gewirkt hat. Hier kommt man mit einer wissenschaftlichen Haltung, die die Dinge seziert und in sie immer tiefer methodisch-experimentell eindringt, nicht weiter. Sondern hier das Gegenteil gefordert, eine Scheu, die staunend auf das hört, dass hier ein Geheimnis geschieht und sich ereignet. Eine Haltung, die rückhaltlos dies annimmt als Geschenk, ohne dies verstehen zu müssen. Weder ein Verstehen wie man es auch selber machen kann (wissenschaftliche Technik), noch mit welchem Verdienst man dies erhält (kirchliche Moral). Eine ähnlich Unterscheidung findet sich auch bei Heidegger, während die eine Haltung sich an das Seiende richtet, bezieht sich die andere auf das Sein. Beides hat seine Berechtigung darf aber nicht vertauscht werden oder übergriffig werden. Und die Pharisäer spielen einfach im falschen Spiel, sie sind wissenschaftliche Juristen, die hier eigentlich eher beschenkte Kinder sein sollten.
Der Mann wird aber immer selbstbewusster in seiner Haltung, so dass er sich nun sogar über die Pharisäer lächerlich macht. Er sagt ihnen geradezu ins Gesicht, dass er ihnen bereits alles berichtet hat und dass es hier nicht mehr zu erzählen gibt. Aber dass sie offensichtlich nicht zugehört haben. Sie haben zwar sicher die Fakten registriert, die der Mann berichtet hat, aber sie haben nicht richtig hingehört. Sie haben als Juristen diesen Fall aufgenommen, aber nicht als Glaubende angenommen. Sie sind ein wenig so, wie die Putzfrau, die die Badewanne von Joseph Beuys wieder sauber von dem ganzen Fett geschrubbt hat. Und der Mann fragt die Pharisäer zum Abschluss noch keck, ob sie den Zaubertrick etwa von Jesus auch noch lernen wollen. Sie merken, dass sie hier vorgeführt werden und dass der Mann von einem ganz anderen Standort aus zu ihnen spricht - allerdings finden sie zu diesem Ort keinen Zugang. Sie ahnen, dass der Mann etwas Wahres sagt, können es aber nicht verstehen. Sie schauen auf den Mann, wie auf jemanden der Musik über Kopfhörer hört und einen ganz beseligten Gesichtsausdruck von der Musik hat, aber man selber hört diese Musik nicht, hat keinen Zugang hierzu. Und hat vielleicht noch nicht mal Zugang dazu, selbst wenn man die Kopfhörer aufsetzen würde, weil die Musik zu weit von den eigenen Hörgewohnheiten ist, so dass nicht jeder auf Anhieb etwas mit Freejazz, Neuer Musik oder Bach anfangen kann. Hier muss man sich erst langsam einhören, um immer mehr die Komplexität, Tiefe und Freiheit heraushören zu können, die aus dieser Musik heraus ertönt.
Aber sie wollen sich gar nicht einhören, sie wollen keine neue Musik, sondern sie halten nur noch fester an ihrem Standpunkt fest. Sie führen an, dass sie allein auf Moses hören oder besser auf das, was das Judentum dann aus Moses gemacht hat: ihn klassifiziert und in Gesetzen festgelegt - Juristen halt! Interessant ist auch, dass sie an Moses glauben, weil sie wissen, dass er mit Gott geredet hat und von Jesus wissen sie dies nicht. Aber woher wissen sie dies eigentlich? Denn Moses und Jesus berichten beide nur von ihren Begegnungen mit Gott, bei beiden war niemand dabei, der diese Begegnungen direkt bezeugen kann. Es kann nur der Person geglaubt werden, die diese Begegnung hatte. Jesus könnten sie direkt dazu befragen, schauen wie er auf Nachfragen antwortet über seine Begegnung oder was man allgemein für einen Eindruck von ihm hat. Aber bei Moses? Dem ist niemand von ihnen persönlich begegnet und sie können auch niemand kennen, der Moses begegnet wäre - denn er ist schon lange tot. Die einzige Basis, die sie haben, ist die schriftliche Fixierung im Pentateuch. Somit glaube sie dem toten Buchstaben mehr, als einer lebendigen Begegnung. Dies passt gut zu ihrem Juristen-Dasein. Aber darüberhinaus ist die authentische Begegnung mit Gott ein ständig wiederkehrendes Thema bei Johannes. Dies reicht davon, inwiefern man Jesus seine Nähe und Sohnschaft zu Gott glaubt, aber auch inwiefern man Nähe selber zu Gott erlebt oder inwiefern hier vieles als Autosuggestion verbucht werden muss (wenn man etwa in den evangelikalen Bereich schaut, oder auch dass weniger in Medjugorje die Wunder geschehen als bei Christian Herwartz in Kreuzberg).
Die Antwort des Mannes darauf hat der Evangelist herrlich gestaltet: „Der Mann antwortete und sprach zu ihnen: Aber darüber muss man sich wundern, dass ihr nicht wisst, woher er ist, denn mir hat er meine Augen geöffnet.“ Er beginnt damit, dass er „sich wundern“ (auf seiner Seite) und „zu wissen, woher Jesus ist“ (auf der Seite der Pharisäer) gegenüberstellt. θαυμάζω kann dabei bedeuten, es ist lächerlich, dass ihr dies nicht sieht. Aber in dem Wort schwingt noch viel mehr ein bewunderndes Erstaunen, dass ihm die Augen geöffnet wurden und die so religiösen Pharisäer nicht von dem sehen, was er nun immer mehr sieht. Außerdem hat es etwas von Verehren und Hochschätzen, und etwas nicht begreifen zu können. Also etwas, was klare Grenzen für das Wissen zieht. So steht auch für die antike griechische Philosophie das θαυμάζω als Ausgangspunkt, was aber insbesondere bei Aristoteles ins Wissen überwunden werden muss. Die Pharisäer dagegen waren noch nie beim θαυμάζω, sondern sie haben direkt das überlieferte Wissen auswendig gelernt und können dieses hervorragend im Examen referieren - nur dass es kein lebendiges Wissen ist. So wie der Jurist, weiß, dass etwa Diebstahl verboten ist und wie es bestraft werden muss, er aber keine Ahnung hat von z.B. der Verzweiflung eines Diebes, dem Nervenkitzel, sozialem Druck, der Ohnmacht nicht Wiederstehen zu können… Der Evangelist stellt das θαυμάζω dagegen in den Mittelpunkt, so dass dies nichts ist, was nur der Ausgangspunkt ist, um von dort zum Wissen zu gelangen. Und erst recht nicht, dass man einfach das Ergebnis übernehmen kann, was Vorfahren auf ihrem Weg erfahren und errungen haben an Wissen. Für diese eigene Form des Weltzugangs, dem θαυμάζω, hat Jesus dem Mann die Augen geöffnet. Dies ist der eigentlich Prozess der hier stattfindet und den Jesus angestoßen hat.
Im nächsten Satz lässt der Mann sich aber auf die Ebene des Wissen der Pharisäer ein, so dass er fast schon mit einem Syllogismus herleitet, dass hier ein Wunder geschehen sein muss. Dies versuchen die Pharisäer noch nicht einmal im Ansatz zu widerlegen. Denn wie könnten sie dies auch? Sondern sie disqualifizieren in einfach als Menschen, der nicht in der Position ist, überhaupt mit ihnen zu reden. Und sie gehen sogar noch weiter und stoßen ihn aus der Gemeinschaft aus!
Mit dem Rauswurf und dem Ausgestoßensein nimmt die Geschichte noch einmal eine Wendung. Denn genau an diesem Punkt taucht Jesus wieder auf, der nachdem er das Wunder gewirkt hatte nicht mehr anwesend war. Er hat diesen ganzen Prozess zwar angestoßen und in Gang gebracht, hat sich danach aber entzogen und hat sich das ganze von sich selber aus entfalten lassen bzw. musste der Mann für sich selber realisieren, was dort passiert ist und was sich daraus für ihn ergibt. Und dass dies kein Selbstläufer ist, zeigt sich an den Widerständen, die ihm begegnet sind und die dann sogar zum Ausstoß aus der Gemeinschaft geführt haben. Aber in diese Einsamkeit des Ausgestoßenen macht sich Jesus nun von sich aus auf die Suche nach dem Mann. Eigentlich würde man denken, wenn der Mann ausgestoßenen worden ist, würde er von sich aus die Initiative ergreifen und sich auf die Suche nach Jesus machen - aber es ist Jesus von dem es ausgeht, und der ihn sucht und findet. Vorher bei den ganzen Anfeindungen der Pharisäer und selbst wo er keine Unterstützung mehr von seinen Eltern bekommen hat, war Jesus nicht da und hat ihn dies alleine regeln lassen. War dies unfair? Oder war dies notwendig, dass der Glaubenskern in dem Mann sich festigt und sich erst in diesem individuellen Leben des Mannes einpasst und dieses Leben durchwirkt? Erst an dem Punkt, wo er so weit geht, dass er für diese Begegnung mit Jesus selbst das Ausgestoßensein aus der Gemeinschaft in Kauf nimmt, er alle weltlichen Bindungen und Maßstäbe fallen gelassen hat, taucht Jesus wieder auf. „Und indem der Mann zum Ausgestoßenen wird, begegnet er auch schon dem Herrn, tritt er auch schon ein in die Gemeinde des Herrn. Diesmal ist es nicht mehr die auslösende, sondern die abschließende Begegnung. Bei der ersten wurde der Keim des Glaubens in ihn gelegt. Dieser Keim hat sich langsam entwickelt.“ (Speyr 1949: 306)
Jesus sucht also diesen Mann auf, der alle Bindungen für ihn aufs Spiel gesetzt hat und dadurch seinen sozialen Bezugsrahmen verloren hat. Denn selbst als Blinder war er zwar von vielem ausgeschlossen, aber dennoch sozial fest integriert als bekannter Bettler. Jetzt schwebt er quasi im freien Raum. Und hier sucht ihn Jesus auf, kommt auf ihn zu und Jesus zieht Bilanz dieses ganzen Weges des Mannes und fragt ihn, ob er an den Menschensohn glaubt. Diese Frage steht erstens im radikalen Gegensatz zu den Pharisäern, die eben an keine Person glauben, auch nicht an Moses, sondern nur an abstrakte, begrifflich fixierte, schriftliche Überlieferungen von Moses und vor allem die Regeln die davon abgeleitet wurden. Jesus fragt dagegen nach einer lebendigen Beziehung hin zu einer Person. Zweitens ist es eine Frage, die fragt, ob er dies alles auf sich genommen hat, weil er an den Menschensohn glaubt, ob er es für diesen Menschensohn gemacht hat, diesen Weg und Pilgerschaft auf sich genommen hat. Und Drittens verwendet Jesus mit Menschensohn eine Bezeichnung, die für den Mann neu sein muss, die er nicht kennen kann. Konsequenterweise fragt er Jesus dann auch, wer denn dieser Menschensohn ist. Er hat zwar eine Bindung zu diesem „Menschensohn“, aber dies ist nicht wirklich ausformuliert und festgelegt. Es ist eher ein Hingezogensein, ein leiser Ruf oder ein offener Wink oder eine intime angedeutete Einladung. „Die Bindung an den Herrn ist schon beim Wunder hergestellt worden. Durch das Wunder ist jeder sehend geworden, sehend sowohl für den objektiven Inhalt des Glaubens wie für die Subjektivität der Person des Herrn, der jetzt mit ihm redet. Beides ist eines, und in der Anerkennung dieser Einheit liegt der Glaube. […] Der vollkommene Glaube ist ihm aus dem reinen Vertrauen entsprungen. In diesem Glauben ist nichts Theoretisches mehr. Das hat ihm gedient, um zum Glauben zu kommen. Was jetzt ist, liegt weit darüber hinaus. Es ist eine Herzenserfahrung, eine Bewegung der ganzen Seele dem Herrn gegenüber. Er glaubt, weil der Herr es sagt. Er glaubt zuletzt, weil er es ist.“ (Speyr 1949: 306f.)
Der Mann fragt also Jesus, weil der die Frage so nicht verstanden hat, wie sie Jesus gestellt hat. Und doch stößt die Frage Jesus etwas an in dem Mann. Er fragt, wer es denn eigentlich ist, an den er glaubt? Wer ist es, zu dem er, der Ausgestoßene, so innig in Beziehung steht? Jesus antwortet ihm, dass den, an den er glaubt, niemand fremdes ist, der ihm erst gezeigt werden muss. Es ist nichts was von außen noch hinzukommen muss, sondern der Mann steht schon in Beziehung zu dem, an den er glaubt. So sagt Jesus „Du hast ihn geschaut“, d.h. genau dafür ist das Wunder geschehen, dass ihm die Augen geöffnet wurden und den er anschaut ist Jesus, der direkt vor ihm steht, den er seltsamerweise selber fragt, an wen er glaubt oder glauben soll. Und wem sollte er eigentlich sonst diese Frage stellen? Den Pharisäern? Da wohl eher schon sich selbst und in der Tat hat sich das ganze in ihm selbst realisiert nach dem er sehend gemacht worden ist. In einem selbst ist schon der richtige Ort für diese Frage, aber eben nicht ein Ich was selbstständig und autonom ist, was sich eigenmächtig als Ich gestalte und plant. Sondern ganz tief in mir, wo ich tatsächlich dem Anderen in mir begegne, wozu es eben nur diese leise, intime Einladung zu gibt und was so unendlich weit weg von gesellschaftlichen Konventionen und moralischen Geboten ist - hier begegne ich dem Menschensohn. Es ist diese Begegnung wo ich mir wirklich selbst begegnet, wo ich alle Entfremdung durch meine verschiedenen gesellschaftlichen Rollen hinter mir lasse. Dort wo ich mich ganz intim mit mir unterrede und dann ist es auch egal, welchen Namen dieses Gegenüber hat: ob Menschensohn, Jesus, der Gott des Bundes, Buddha Shakyamuni, etc. Und interessanterweise vermeidet Jesus auch hier genau einen Namen, so dass er erst vom Menschensohn spricht und dann auch in seiner Antwort, sich selber eigentlich nicht namentlich oder auch nur direkt benennt. Er benennt nur diese Beziehung, in die der Mann schon längst einbezogen ist und in der er unmittelbar schon steht.
Aber dafür müssen einem erst die Auge geöffnet werden, dann muss man es wie der Mann macht, mit diesen Augen die Welt betrachten und diese Augen benutzen und der letzte Schritt ist dann, dieses Schauen selber als das göttliche Schauen erkennen und anerkennen. Diesen letzten Schritt vollzieht er jetzt bei der Begegnung mit Jesus. Und an diesem Punkt hat der Mann ein Kensho. Er hat nicht mehr viel zu sagen, er bekennt nur, dass er glaubt. Und dies vor dem Herrn. Es gibt keinen Inhalt dieses Glaubens, sondern nur diese Beziehung, dieses Gespräch. Als einziger Ausdruck bleibt ihm, sich hin zum Herrn niederzuwerfen. Denn er ist nicht mehr selbständig, sondern nur noch dieser Bezug hin zu…
Jesus sagt von sich, dass er dafür in die Welt gekommen ist, um zwei Menschengruppe zu unterscheiden: die Blinden und die Sehenden. Um dann die Blinden sehend zu machen und die Sehenden blind. Aber was heißt dies nun? Was hat diese Umkehrung der Verhältnisse für ein Ziel? Vom Ansatz begegnet die Umkehrung dieser Verhältnisse auch z.B. im Magnificat und in der Bergpredigt. Luther sagt hierzu: „Denn es ist eine gewisse Regel von Gott gesetzt: Alles, was hoch ist und erhaben bei den Leuten, dass ist nicht geachtet und ein Greul bei Gott. […] Aber Gott kehrt das Ales um. Alles, was wir schön, lustig und reich nennen, heißt er arm, krank, schwach und unvermögend.“ (Luther 1977: 297) Aber geht es Jesus nur darum, wirklich alles was gesellschaftlich anerkannt ist, umzukehren? Und macht dies überhaupt Sinn und sind alle gesellschaftlichen Wert so schlecht? Zwar haben Gesellschaften die Tendenz, dekadent zu werden und von Egoisten instrumentalisiert zu werden, aber Gesellschaften haben auch immer die Gegentendenzen, indem Mitmenschlichkeit, Solidarität, Ehrlichkeit und Wahrheit sehr hoch anerkannt sind. Um eine allumfassende Umkehrung und Revolution kann es Jesus und Gott also nicht gehen.
Die Umkehr ist hier direkt auf die Sehenden und die Blinden bezogen. Dabei sind die Sehenden, die Selbständigen dieser Welt, die stark sind, ihr Leben anscheinend nur aus ihrem eigenen Ich heraus zu gestalten. D.h. die Menschen, die scheinbar die Welt nach ihrem Willen und zu ihrem Nutzen gestalten können. Die das Gesetz aus sich herausnehmen oder auch so fest in einer Wahrheit stehen, dass hier nichts mehr in Bewegung ist, sondern nur noch scheinbar sicherer Grund. Die Sehenden sind damit die erfolgreichen Unternehmer genauso wie die Dogmatiker jeder Couleur. „Die Sehenden, sind die Klugen. Sie wissen so viel, sie haben so große Erfahrung, sie sind allem so sehr überlegen, daß sie nur sich selbst besitzen. Sie leben nach dem Gesetz ihres Ich und kennen keinen Raum für etwas Größeres als sich selbst. Sie sind von einer einzigen Liebe erfüllt: der Eigenliebe, und sie haben alles, was das Gesetz, die Schrift, Gott selbst gegeben hat, so gedreht, daß daraus ein trockener Buchstabe geworden ist, und der letzte Sinn des Buchstabens sind immer sie selbst.“ (Speyr 1949: 308) Aber diese Sehenden sind sehr kurzsichtig und sind dadurch verblendet, dass anscheinend alles in ihrem Leben funktioniert, sie mit Anerkennung überall in ihrem Ich bestätigt werden, sei es ein Titel, ein Platz in Davos oder eine Mitra. Sie sind alle blind, weil sie nicht aus ihrer verhärteten Meinung herauskommen, sie sind nicht mehr auf der Pilgerschaft, sondern bereits angekommen (egal wie aufstrebend und unternehmerisch ein solches Leben auch aussehen mag). „Die Pharisäer nach Joh 9 sind bind, weil sie über Jesus urteilen, trotz des von ihm gewirkten Wunders wissen man nicht, ‚woher er komme‘ […] Sind die Pharisäer die Sünder? Ja, denn sie meinen zu sehen und sehen doch nicht. Hier ist das Sehen christologisch-metaphorisch aufgefasst. Die Krone der Argumentation ist die Verstocknungsaussage: Jesus macht die physisch Blinden sehend; die religiös zu sehen meinen, macht er blind, indem er sie verhärten lässt in ihrem Unglauben.“ (Berger 2011: 369)
So schlägt dass vermeintlich Sehende in Blindheit um und umgekehrt. Kurzsichtig und an der Oberfläche vermeint der Sehende alles zu sehen, aber in der Tiefe sieht er dafür nichts mehr und ist damit in seinem Wesen blind und verstockt für das Leben und für Gott. „Wer Gottes verborgene Heiligkeit nicht sieht und erkennt, der ist blind. Darum ist dieser [.] in diesem Evangelium allein ein Abbild der anderen Blindheit, die in der Seele geschieht.“ (Luther 1977: 299) Und Luther fährt fort, indem er diese zwei Arten von Blindheit und Sehen ausführt: „Hieraus folgt, wie der kluge, scharfe Schulmeister Origenes lehrt, daß es zweierlei Augen des Menschen gibt, seine eigenen Augen und Gottes Augen. Ja auch alle unsere Glieder und alles, was in uns ist, sind Instrumente und Werkzeuge Gottes, und nicht ist unser, wenn sie von Gott regiert werden. Aber dann sind sie unser, wenn wir von Gott verlassen werden.“ (Luther 1977: 299) Mit Luther erkennt man, dass man mit den menschlichen Augen schaut, wenn man Unterscheidung trifft, lieber die junge Grete als den alten Hansen anschaut, wie er als Beispiel anführt, dass man lieber mehr Geld verdient als der Kollege, oder dass man weiß, dass die meisten Menschen noch verwerflicher sind als man selbst, der zumindest immer Sonntags in die Kirche geht (so dass man sicher weiß, wo man beim §219a zu stehen hat).
Dieses Sehen von Unterscheidungen, letztlich der Unterscheidung von Gut und Böse, haben wir von Adam und Eva geerbt und dieses unterscheidende Sehen ist die eigentliche Erbsünde, die wir in uns tragen und mit der wir geboren werden und die wir im Glauben überwinden können. Diese Überwindung ist uns aufgegeben (ein re-entry werden, wenn wir mit Spencer Brown sprechen wollen (1967)). „So sind unsere Augen aufgetan worden, das ist, wir sind ganz blind geworden, daß wir den (schönen) Schein, wie eben gesagt ist, auch für etwas Gutes achten, und Armut und Missgestalt für böse halten. Das hat der Teufel uns gelehrt; dessen Augen sind es auch. Aber Christus ist darum gekommen, daß er diese Augen lehre (recht) zu tun, und die Blindheit weg zu nehmen, auf daß wir keinen Unterschied machen zwischen jung und alt, schön und gräulich, sonder es heißt gleich der Weise oder Tor, der Kluge oder Narr, Mann oder Frau“ (Luther 1977: 299) Dies hört sich alles sehr nach Zen-Geist an, aber es ist noch nicht einmal so sehr eine protestantische Abweichung von der wahren katholischen Lehre, da selbst die Grundlage der Gegenreformation, die Jesuiten, dieses Prinzip und Fundament als zentralen Angelpunkt haben. So schließt Ignatius von Loyola in seinem kurzen „Prinzip und Fundament“ in den Exerzitien mit den folgenden Sätzen (nach der Vulgatafassung): „Deshalb müssen wir uns gegenüber allen geschaffenen Dingen ohne Unterschied verhalten - soweit sie der Freiheit unseres freien Willens unterliegen und ihr nicht verboten sind -, so daß wir, soweit es an uns liegt, nicht Gesundheit mehr suchen als Krankheit, noch Reichtum der Armut, Ehre der Verachtung, langes Leben einem kurzen vorziehen.“ (Loyola 1998: 111)
Die Pharisäer haben dies nicht wirklich verstanden, denn sie fragen, ob sie blind sind. Aber sie sind gerade die, die sich für sehend halten und in der tiefe blind sind - aber dazu haben sie keinen Zugang. Jesus versucht dies noch einmal weiter zuzuspitzen und setzt die Blinden gleich, dass sie ohne Sünde sind und jeder der meint, dass er sehen kann und so das moralisch Richtige und Falsche unterscheiden kann, bleibt in der Sünde. Erstmal eine absurde Aussage, dass der, der blind ist für Moral, Weisheit, Klugheit etc. ohne Sünde sein soll. Hier hat man eher die Assoziation von einem Menschen, der nur nach seinen eigenen Gelüsten dahinlebt und sicher auf diesem Weg nicht ohne Sünde bleibt, und sicher mehr Sünde anhäuft, als derjenige, der versucht ein reflektiertes Leben zu führen. Aber worum es Jesus hier geht, ist etwas anderes. Denn das Sehen schlägt in Blindheit um, wenn es meint, dass es selbst beurteilen kann, was gut oder schlecht ist.