1. Grund für die Lehre an die gläubige Gemeinschaft


Also habe ich gehört: Zu jener Zeit war Buddha in Srvasti und wohnte im Garten Anataphindika im Jetavana, in dem eine große Gemeinschaft von 1250 entschlossenen Mönchen war. Zur der Zeit, als für den Weltehrenden Zeit zu essen war, zog er sich an, nahm seine Essensschale und ging nach Sravasti zum betteln. Nachdem er dort von Tür zu Tür gegangen war, kehrte er zurück. Als er seine Mahlzeit beendet, seine Essensschale beiseite gestellt und sich die Füße gewaschen hatte, macht er sich seinen Sitz zurecht und setzte sich hin. 

 

 

„Also habe ich gehört“ ist die Formel (erinnert auch an Zarathustra, den Nietzsche auch selber nie gehört hat, der aber in seinem Geiste spricht), mit der in der Regel die Sutren beginnen. Es ist also keine Wort für Wort Wiedergabe, sondern wie eine bestimmte Person dies gehört, erinnert hat oder aus diesem Geiste spricht. „Also“ ist damit eher eine Aufforderung zur eigenen Setzung oder Ableitung, der aber auf etwas anderem aufbaut. 

 

Denn es gibt keine 1:1-Wiedergabe, selbst die Anwesenden erleben die Situation unterschiedlich, wie bei Mahakashyapa und der Blume, die die anderen Mönche, so nicht wahrnehmen. Dies ist damit letztlich ein individueller und gelebter Glaube und Verständnis und dadurch keine dogmatische Glaubensgemeinschaft mit einem fixen Bekenntnis, der letztlich in den leeren Raum gesetzt wird oder ein Sprung, der nicht abgesichert werden kann und Vertrauen benötigt. Es ist ein Bekenntnis was weitergegeben wird, immer wieder neu und anders, abhängig von Person und Zeit. Aber der Geist der darin ist, bleibt lebendig. Ganz anders also als in einer historischen Darstellung, die tot ist und versucht auf die „wahren“ Worte des Buddhas zu schließen, aber am Ende nur mit unfruchtbaren Zweifeln und sonst nicht viel in den Händen dasteht. 

 

Aber spricht der Buddhismus nicht von Selbst-losigkeit bzw. dass es kein Selbst gibt? Oder spricht hier Subhuti in seiner erleuchteten Selbstlosigkeit? Und spricht vielleicht hierdurch dann direkt der Buddha, weil sie im selben Grund stehen? Gerade durch diese Formel wird von einer konkreten Zeit und von konkreten Menschen entbunden. Darin spiegelt sich diese Selbstlosigkeit wieder, indem es wie ein Märchen klingt, den Geist aber universal weiterträgt. Denn ein Märchen erzählt eine sehr spezielle Geschichte, die aber eigentlich einen sehr allgemeinen Kern in sich trägt, der für jeden und selbst jedes Kind im eigenen Leben umgesetzt oder angewendet und gelebt werden kann. 

 

Das „Also habe ich gehört“ zeigt damit ein Paradox, was zum eine höchst persönlich gelebter Glauben ist und gleichzeitig etwas universelles und allgemeines ausdrückt. 

 

Der Beginn des Sutras stellt den Buddha als normalen Menschen dar, der essen und sich anziehen muss, der sogar um sein Essen betteln muss und hierfür von Tür zu Tür gehen muss und das Essen nicht als König oder Gott einfach dargebracht bekommt. 

 

Zum einen muss der Buddha betteln, weil er essen muss. Zum anderen kann er ein Essen aber sicherlich leichter und mit weniger Aufwand erwerben und könnte seine Zeit besser nutzen, als von Haus zu Haus zu gehen. Er könnte Geld für seine Vorträge nehmen oder vieles mehr. Welche Absicht verfolgt der Buddha also mit dem Betteln um sein Essen? Und dies ja jeden Tag aufs Neue? 

 

1. Er setzt sich jeden Tag den Unwägbarkeiten aus, was und ob er etwas so essentielles wie das Essen bekommt und ist an jedem Tag dankbar, für das, was er dann bekommt. Er plant nicht und hat keine Sicherheiten, er steht nicht auf sich selber und hat keine Vorsorge, sondern lebt ein Leben als Geschenk. Gleichzeitig hat er auch ein irres Vertrauen in die Menschen. Er isst das, was sie ihm in seine Bowl legen, das könnten genauso gut Reste oder Abfälle sein, oder Fleisch (was die Mönche in diesem Fall tatsächlich essen sollen). 

 

2. Er ist kein Herrscher, der sich besuchen lässt, sondern besucht die Menschen, geht zu ihnen und lässt sie nicht zu sich kommen. Durch das Betteln und das von Haus zu Haus ziehen kommt Buddha zu den Menschen heim, er kommt zu ihnen in ihre Lebenswelt. Sie pilgern nicht zu ihm, sondern er ist bei jedem zuhause. Und sieht so aber umgekehrt auch die normalen Leute, nicht nur die Mönche und Könige. 

 

3. Er begegneten ihnen in ihrem Alltag, beim Essen, da Essen auch noch ein sehr intimer Austausch ist: Er verleibt sich die Leute ein, er lässt sich von ihnen durchdringen, nimmt sie in seinen Leib auf. Lebt sein erleuchtetes Leben aus der gleichen Nahrungsgrundlage wie sie. 

 

Der Buddha lebt einen ganz normalen Alltag. Das Wesen des Buddha ist im Alltäglichen das Besondere und Transzendente zu sehen. Um dies jedem Menschen wieder zu ermöglichen nimmt der Buddha einem alle Illusionen weg, die sich jeder aufbaut: Er hat keine Wunschvorstellungen, durch die er die Welt positiv oder negativ abgleicht, er nimmt einfach das, was er hat ernst. Und er nimmt dies im Jetzt ernst, er verklärt keine Vergangenheit oder malt sich eine schöne Zukunft aus… es ist Zeit zu essen…und er geht betteln… es ist Zeit zu lehren… und er setzt sich auf seinen Lehrstuhl… mit diesem in jedem Augenblick, das ernst zu nehmen, was man hat und wofür jetzt die Zeit ist, ehrt er die Welt, so wie sie ist und wie sie ihm geschenkt wird. D.h. er sieht in allen Dingen die Leere, Fülle, Weite, den unmarked space, das Netz der Indra. 

 

Diese Alltäglichkeit macht es aber auch für den Leser noch einmal einfacher, sich in den Buddha hineinzuversetzen bzw. steht dann der Buddha auch für den gewöhnlichen Menschen. Irgendein Mensch, in irgendeiner Zeit. Und irgendwie ist es auch sehr befreiend, weil es nicht in irgendeine fixe Glaubensrichtung oder Schiene abdriftet. Er ist einfach unterwegs mit seinem Robe und seiner Schüssel, isst etwas und setzt sich danach hin. 

 

Es ist erstaunlich, wie genau die Szene des Hinsetzens beschrieben wird, während andere Passagen einfach überflogen werden. Nicht was der Buddha im Außen ist, während er betteln geht, ist interessant, sondern es wird berichtet, was Buddha dann innen, alleine mit sich selber, macht. Das Sutra ist eben kein Abenteuerroman oder eine großartige Geschichte mit krassen Begegnungen und Wendungen, sondern der banale Alltag. Und gleichzeitig zeigt die genaue Beschreibung etwa wie er sich für die Lehre hinsetzt eine Art Vorbereitung, fast schon Initiation. Es ist dieses Zusammenspiel von Bodenständigkeit im Alltag und immer diesen Alltag transzendieren, aber dadurch nicht verlassend. Für den Buddha selbst wird dies eine einzige Handlung  sein bzw. sein natürliches Bewegen. Für den Beobachter, der die Geschichte wiedergibt, stellt sich das als einzelne, unterscheidbare Handlungen dar (das ist das gleiche, als würde jemand einem beim Teemachen zuschauen, für dich ist das eine einzige habitualisierte Reihenfolge...jemand, der dich da das erste Mal genau dabei beobachtet, wird sich eher die einzelnen Schritte merken, und nicht das gesamte). Für den Buddha ist damit die tiefe Verwobenheit von Weltlichkeit und Transzendenz, das worin er natürlich lebt und was er auch nur für die Lehre expliziert. 

 

Der Weltgeehrte ist in der Regel die deutsche Übersetzung. Aber ist die Übersetzung als der Weltehrende oder noch besser der Weltenehrende nicht passender? Ist der Buddha im letzten nicht beides, der der die Welt in ihrem Sosein ehrt, d.h. beraubt von allen Projektionen, Urteilen etc.? Und die Welt und die Lebenwesen einfach annimmt, wie sie sind, keine moralische Bewertung, sondern alle als Bodhisattva retten wollend.  Und wegen und für dieser Haltung wird er von seinen Anhängern geehrt - und ist es dann nicht so, dass sie auf diese Weise wieder diese Welt ehren? Damit ist er beides: der Weltgehehrt in seiner Weltenehrenden Grundhaltung. 

 

Aber nicht nur diese Welt, sondern alle Welten in Unendlichkeit… und in dieser Unendlichkeit relativiert er unser Selbst, indem wir uns klein im Rahmen des unendlichen Universums aber auch der unterschiedlichen Welten, die jedes Individuum darstellt, die immer jeweils ihre eigene Welt sind, wahrnehmen. Und auf der anderen Seite unheimlich groß, wenn wir uns im Vergleich mit dem Mikroorganismen wahrnehmen, die wir etwa in unserem Tee zu uns nehmen.  Dies zeigt uns auf, dass wir niemals eine abschließende Beurteilung oder Festlegung einer Größe oder Gewichtigkeit treffen können, denn vom unendlichen Universum aus gesehen sind wir kleiner als die kleinsten MIkroorganismen in unserem Tee...und für die Mikroorganismen sind wir umgekehrt die Unendlichkeit. Wir sind also genauso auf demselben Kontinuum wie Mikroorganismen und Universen. Und in dieser Pluralität zeigt sich die ganze Dimension des Weltenerhrenden, wie es das Huayen-Sutra vor allem dargelegt hat. Es ist die Spiegelung von allen Welten in der eigenen Welt, was die buddhistische Erleuchtung ist. Sunyata ist damit nicht Leere in einem allgemein verstandenen Sinne, sondern Leere als Weite und Verwiesenheit und Fülle, weil jedes Sein nur durch anderes Sein ist und nie in sich selbständig, nicht autark ist. 

 

Interessant ist, dass der Buddha recht alleine ist. Er geht alleine betteln, isst alleine aus seiner Schale (die so gar nichts Gemeinsames hat wie eine Tischgemeinschaft etwa bei Jesu, wo alle aus dem gleichen Topf essen, sondern die Essenssschale ist abgeschlossen für jeden Einzelnen). Trotzdem sitzt der Buddha nicht auf einem Berg in einer Einsiedelei, sondern mit 1250 Mönchen zusammen. Gleichwohl muss man sich den Buddha einsam vorstellen. So wollte er nach seiner Erleuchtung gar nicht lehren, sondern direkt ins Nirvana verschwinden ohne seine Erkenntnisse weiterzugeben. Er musste überredet werden, zu lehren. Und auch in der Lehre wird er immer einsam gewesen sein, weil seine Begleiter fast nie auf der gleichen Ebene wie er war. Die Szene mit Mahakashyapa zeigt auch dies, nur Mahakashyapa versteht die Blume des Buddha und dies hat offensichtlich auch den Buddha überrascht und er hat sich darüber gefreut. Aber in der ganzen Versammlung ist er auch der Einzige. Worin sich die Unendlichkeits-Perspektive nochmal weiter widerspiegelt: Wir sind immer in Gemeinschaft und letztendlich doch immer allein.  

 

Boddhisattvas haben auch immer diese Funktion, dem Buddha Unschärfe zu verleihen, seine Gestalt auszufransen in die Welt hinein. Sie sind wie seine Aura, die in die Welten hineinstrahlt, der Buddha selbst ist zwar schon klar erkennbar, aber nicht mehr abgrenzbar, geht durch die Boddhisattvas in die Welt über.  Durch diese anonyme Masse wird der Leser oder der Meditierende mit hineingenommen, er wird einer von den 1250 Mönchen und wird in dieses Geschehen aufgenommen. So steht man neben Mahakashyapa und sieht wie er den Buddha bei der Blume anlächelt, man realisiert, dass hier etwas Großes passiert, von dem man gerade zwar noch ausgeschlossen ist, aber zumindest ist man schon so weit, dass man sehen kann, dass hier etwas passiert. Das man ahnt, was hier passiert, dass man auf diesem Weg unterwegs ist, aber dafür noch üben muss, den Blick schärfen muss, Ballast durch Illusionen oder Bindungen abwerfen muss, um überhaupt klar sehen zu können. Aber es bleibt damit auch keine Theorie mehr, sondern auch in dieser Form des Lesens des Sutras ist es ein aktives Erlebnis. Diese Gemeinschaft der Mönche und Boddhisattvas ist wie eine geöffnete Tür, die einen Spalt geöffnet ist und durch die man einen Blick auf die Herrlichkeit des Buddhas erhaschen kann - oder zumindest etwas ahnt. Und der wesentliche Schritt hin zu Glauben und Erleuchtung, ist, dass man dieses Ahnen wahrnimmt, was oft nur sehr leise ist und diesem Ahnen weiter folgt, darauf hört, diesem Weg folgt nur im Vertrauen auf dies Ahnung. 

2. Passende (Er-)Öffnung lädt ein zur (Rück-)Gabe


Zu dieser Zeit war in der Mitte der Versammlung auch der alte Subhuti. Um sich einzubringen erhob er sich von seinem Sitz, machte seine rechte Schulter frei, berührte mit dem rechten Knie den Boden, grüßt respektvoll mit gefalteten Handflächen und fragt Buddha: „Ungewöhnlicher Weltenehrender! Der Tathagata beschützend belehrt alle barmherzigen Bodhisattvas, aber drängt genauso die barmherzigen Bodhisattvas. Weltenehrender, wie können barmherzige Männer und Frauen, die ein Herz für die Erleuchtung entwickeln wollen, diesen Weg beschreiten? Wie können sie ihr Herz in diesem Weg aufgehen lassen?“ 

Buddha spricht: „Hervorragend! Hervorragender Subhuti, es ist wie du sagst. Der Tathagata beschützend belehrt alle barmherzigen Bodhisattvas, aber drängt genauso die barmherzigen Bodhisattvas. Also höre nun gut zu, was ich dir sage: Hört, denn barmherzige Männer und Frauen, die ein Herz für die Erleuchtung entwickeln wollen, können diesen Weg beschreiten und ihr Herz darin aufgehen lassen.“ 

„Ich versichere Dir, wir werden erfreut deiner Antwort folgen.“ 

 

Tathagata bedeutet der gerade Kommende (siehe ganz ähnlich JHWH, in der Übersetzung von Benno Jacob und mein Kommentar zum Exodus), der ans andere Ufer übersetzt, „Auf (gata) zum wahren Wesen”. Hier gibt es diese Parallele zum Herzsutra, sowohl beim Übersetzen zum anderen Ufer wie im Gate im Mantra im Schluss des Herzsutra. Und dieses Übersetzen ans andere Ufer kann man auch  als re-entry verstehen, so dass das andere Ufer genauso normal ist, kein Paradies, aber man nun weiß, dass es kein Paradies gibt, sondern nur dieses „Sosein“ hier in diesem Moment. Damit hat der Aufbrechende zwar noch in der Aufbruchsstimmung eine Vorstellung von Paradies, die er auch braucht, um sich mit ausreichend Elan abzustoßen. Der Bodhisattva hat diese aber nicht mehr, sondern weiß, dass nur den Alltag gibt auch am anderen Ufer. Und vielleicht fällt es ihm deswegen auch nicht so schwer doch hier zu bleiben. Ein Boddhisattva zu sein, bedeutet eben, dass er sich nicht auflöst und verschwunden ist am anderen Ufer, sondern noch die Verbindung zu den Menschen hier hat und sie zum anderen Ufer winken kann. 

 

Wenn ein Mensch zum Boddhisattva wird, weil er zum anderen Ufer übersetzt, tut sich vor ihm das Nichts im Sinne Heideggers auf, so dass das Seiende ihm wird befremdlich wird. Heidegger beschreibt diesen Zustand entweder mit Angst, Langeweile oder Liebe. Hier müsste als ein weiterer Weg dann noch die buddhistische Erleuchtung hinzukommen. Interessanterweise erläutert Heidegger mit der Langweile und der Angst nur kurzweilige Stimmungen, die in das Nichts halten. Liebe und Erleuchtung wären dagegen Dauerzustände im Nichts, also jemand der sich im Nichts eingerichtet hat. Der Boddhisattva, der die Frage stellt, fragt sich allerdings, wie er sich denn dort dauerhaft einrichten kann. Bei Heidegger findet sich dagegen nur der erste Anstoß dazu. 

 

Der Buddha belehrt nach vielen Übersetzungen durch das Paar von Vermitteln und Anvertrauen. Inhaltlich und auch eine wörtliche Übersetzung gibt auch das Paar beschützen und stoßen her. So dass der Buddha den Arm um jeden legt, der sich auf den Weg machen will, so dass er ihn einfühlsam einlädt. Daraus erklärt sich auch die Vielzahl der Belehrungen. Nach dem Huayensutra, was Buddhas erst Lehre direkt nach seiner Erleuchtung war,  hat er gemerkt, dass dies niemand versteht, so hat er in seiner Lehrtätigkeit dies immer an seinen jeweiligen Adressaten angepasst. Dies ist der beschützende und individuelle Aspekt seiner Methode. 

 

Aber gleichzeitig stößt er auch, er drängt seine Anhänger. Denn der Weg ist keine esoterische Wellness-Oase. Buddhismus ist nicht Entspannung vom Alltag, sondern die Schläge und Schreie von Lindji und Hakuin: Katzu oder HO! Es muss gestoßen werden,  weil der Weg dann wieder von jedem selbst gegangen werden muss, immer wieder neu, abhängig von der Person und der Zeit. Er kann dich nicht zur Erleuchtung auf einen vorhandenen Weg drängen...nur anstoßen, gehen und finden muss jeder seinen eigenen Weg. Nur versperrt der Buddha die Konfektions-Wege, die die Gesellschaft einem zur Entspannung anbietet: Und diese Erkenntnis ist zuweilen ziemlich frustrierend und unangenehm. 

 

Der Buddha nimmt sich also beschützend-stoßend (d.h. pädagogisch wertvoll) jedem an, der sich auf den Weg machen möchte. Das heißt, er macht keine klaren und eindeutigen Vorgaben oder Wegbeschreibungen, sondern kann höchstens Hinweise (Wegmarken) geben. Allerdings reicht Subhuti diese Erkenntnis nicht aus, denn er will wissen, was entschlossenen Menschen konkret tun müssen. Er fragt, wie ein Hörender und Ahnender dem Ruf folgen kann. Und diese Frage ist einfach selten blöd! Und dann ist sie doch wieder sehr klug… ganz im Stile des Zen! 

 

Denn der Buddha lobt diese Frage, deswegen sollten noch die zwei zentralen Aspekte aufgegriffen werden: worauf kann man bei diesem Weg bauen und wie kann man sein Herz unterwerfen, seinen Geist beruhigen. Hier kommt auch wieder das Wort „dwelling“ vor, das man wieder mit „wohnen, verweilen“ übersetzen kann,„pacified“ dagegen mit „oszillieren im Wesen des Boddhisattva“. 

 

Frauen und Männer brechen auf, sie folgen dem Ruf und machen sich auf den Weg des Boddhisattva. Ihr Ziel ist klar, aber noch zu abstrakt und damit ist die Richtung noch nicht eingeschlagen. Es ist wie beim Schach, wo der letzte Laie genauso wie der Schachmeister wissen, dass es nur ein ganz einfaches Ziel gibt, den König zu töten.  Für viele steht dabei aber das Ziel im Vordergrund, sie möchten so schnell und effektiv wie möglich töten, aber ihnen geht es vorrangig darum, ob sie nun gewinnen oder verlieren. Ein wirklicher Schachspieler findet eine Partie immer schön und gut, sofern sich beide Spielpartner aufeinander einlassen und am Brett mit den Figuren kommunizieren. Da ist es egal, wer gewinnt oder verliert, wenn die Partie gut ist. 

 

Und hier ist auch die Parallele zum Weg des Bodhisattva, denn paradoxerweise wird er das Ziel nicht erreichen, wenn er das Ziel verfolgt. Eine der wichtigsten Instruktionen in der Meditation ist, du darfst kein Ziel haben und am wenigsten, darfst du mit der Meditation das Ziel der Erleuchtung verfolgen. Dogen Zenji spitzt dies zu und sagt, dass jeder, der sich mit gekreuzten Beinen hinsetzt und versucht zu meditieren, erleuchtet ist. Und hier ist auch nochmal die Parallele zum Schach spannend - so dass das eigentliche Spiel zwischen Anfangszug und Schachmatt stattfindet. Man kann nun aber mit jemandem diese Partie spielen, der zwar ein total gutes und spannendes Spiel mit einem spielt, dem es aber schlussendlich nur ums Gewinnen geht, oder, wenn er verliert, sich dann ärgert und die Partie als Scheiße empfindet. Es kann also von außen gar nie beurteilt werden, ob das jetzt eine "gute" oder eine "schlechte" Partie ist. 

 

Das Beispiel des Schachs zeigt aber auch, dass man den Weg nicht einfach folgt oder entlangspaziert, sondern bei jedem Schritt hochkonzentriert ist, um die verschiedenen Möglichkeiten für den nächsten Schritt zu überblicken und diesen genau abzuwägen. Aber auch im Blick zu behalten, was mein Mitspieler wohl plant und im Sinn hat. Und dies passt auch übertragen auf den Erleuchtungsweg des Buddha. Denn hier geht es weniger um eine entspannte Ruhe (wie dies oft im Wellnessbereich mit Buddhaköpfen verstanden wird), sondern um eine äußerst hohe Konzentration, wie man sie sonst nur in Situationen von Gefahr hat. Natürlich hat jeder eine unzerstörbare Buddha-Natur und ist jeder durch den Buddha und die Bodhisattvas gerettet, aber dies bedeutet paradoxerweise, dass man sich dadurch nicht entspannt zurücklehnen kann, sondern herausgefordert ist. Dieser Aspekt kommt noch deutlicher im Judentum und Christentum (und vermutlich auch im Islam) mit einem personalen Gott zum Tragen: denn dies ist auf der einen Seite der liebende Gott, der in der Apokatastasis alle Menschen rettet, so dass die Hölle leer ist, der aber gleichzeitig der furchtgebietende Gott ist mit seinem Zorn (z.B. Dies Irae) oder auch die Menschen prüft (z.B. Hiob, Isaak): „Du hast mich versucht, Herr, und ich habe mich versuchen lassen“ (Jer 20, 7) 

 

Damit geht man nicht diesen Weg, sondern man beschreitet ihn. Weil das Schreiten eine schöne Mischung ist, aus gehen und den Weg verfolgen mit all seinen Herausforderungen und Überraschungen, denn Schreiten ist entschlossen in eine Richtung marschieren und nicht mal eben spazierengehen. Und es passt dann auch zum Herzen. Denn Herz kann auch Denken bedeuten. Und es geht hier darum, dass man die ablenkenden Gedanken und Wunschvorstellungen still bekommt, dass man den Gedankenfluss bezwingt, in dem er sich beruhigt und aufhört sich nach dem Ich zu richten, sondern auf das zu hören lernt, was ist. Damit bewegen sich die Gedanken auf einer anderen Ebene, denn die Gedanken werden ohnehin niemals aufhören, das Gehirn produziert ständig welche. Wenn wir aber ohnehin auf einem anderen Weg unterwegs sind, bekommen wir dies zwar noch am Rande mit, aber eher als Hintergrundrauschen. Es verstellt nicht mehr den Weg, weil wir nicht mehr den Bilder, die wir uns von dem Weg gemacht haben, sondern dem Weg selber folgen und uns damit auf alle Überaschunen und Unplanbarkeiten einlassen, die damit einhergehen. Aufhören der Gedanke würde bei einem Waldspaziergang bedeuten, dass ich dabei meine Prüfungs-, Beziehungssorgen etc. vergesse und einfach nur immer mehr im Wald aufgehe. Damit beschreitet man nicht nur diesen Weg, sondern geht gleichzeitig in diesem Weg auf. 

 

Wie bei den ersten Zügen eines Schachspiels müssen sie sich öffnen und mutig nach vorne gehen, und dann erst tut sich ihr Weg vor ihnen auf. Es gilt, diesen Weg konsequent zu gehen, auf ihm zu bleiben, auch wenn er manchmal unklar ist oder schwierig. Es gilt aber ebenso, auf neue Gegebenheiten zu reagieren, und seinen Weg anzupassen, ohne die Richtung zu verlassen. 

 

Die Antwort des Buddhas darauf ist eigentlich nur die Bestätigung der Frage von Subhuti. Wäre der Buddha oder besser seine Zuhörer Wiener, könnte er auch einfach mit: Na eh! antworten. Dies wäre ganz im Geist des späteren Zen und enthält die ganze Lehre des Buddhismus. Mit diesem "Na eh" zeigt er, dass die Antwort schon in der Frage enthalten ist. Was können wir denn eigentlich mit unserem Geist erfassen? Wir können immer nur so weit fragen, wie wir etwas erahnen können. Um auf Heidegger zurückzugreifen: Das Nichts muss uns erst befremdlich sein, um es überhaupt erahnen zu können, um den Ruf überhaupt wahrnehmen zu können und um es befragen zu können. In jeder Frage ist der Horizont der Antwort schon enthalten. Eigentlich muss der Boddhisattva alle Menschen dazu bringen, genau diese Frage zu stellen, denn solange sie nach einem fix vorgesetllten "Heil" suchen oder nach "Glück" oder "Erkenntnis" oder "Erleuchtung" streben, werden sie nie erlöst werden. 

 

Aber warum antwortet er so kryptisch und erklärt dies nicht explizit? Weil er didaktisch ziemlich gut drauf ist und weiß, dass Frontalunterricht nix bringt. Er kann es zwar erklären, aber dann erreicht es die Leute nie auf der Ebene, dass sie es wirklich realisieren. “Denn barmherzige Männer und Frauen, die ein Herz für die Erleuchtung entwickeln wollen, können diesen Weg beschreiten und ihr Herz darin aufgehen lassen”. Das ist eigentlich alles was der Buddha zu sagen hat… und Subhuti bzw. die meisten Menschen, die sich auf den Weg machen, versteht genau dies nicht, dass damit alles gesagt ist. Aber Subhuti antwortet darauf eben nicht von sich aus wiederum mit „Na eh!“, sondern sagt er ist ganz aufmerksam und gespannt was kommt, dabei hat er gerade den entscheidenden Punkt verpasst. (Dies ist ganz parallel auch im Exodus am Dornbusch, wo Gott Moses sagt, ich bin und werde dir immer nah sein, womit alles gesagt ist, alles was folgt selbst die Namensnennung mit JHWH ist eigentlich überflüssig.) 

 

Der Buddha versucht es also im ersten Anlauf, ob jemanden bei seiner Antwort ein Licht aufgeht, dass jeder in und aus sich diese Wahrheit realisieren kann. So wie mit der Blume und Mahakashyapa. Da allerdings niemand lächelt bzw. alle nur blöd dreinschauen und daherlächeln und darauf warten, dass der Buddha ihnen klare Anweisungen gibt, was zu tun ist, versucht es der Buddha doch Schritt für Schritt sie dort hinzuführen. Seine erste Antwort ist das Huayen-Sutra womit er sein Ziel nicht erreicht, aber das eigentlich alles enthält, jetzt wird er zum Pädagogen und es entsteht das umfangreiche Tripitaka, wozu auch das Diamantssutra gehört. 

 

Es geht darum, dass jeder neu hört und dass jeder neu ansteht und an die Grenzen seiner Vorstellung und Verständnisses kommt. Denn erst durchs Anstehen und durchs befremdlich-Werden kommt man in den Zustand des Aufbruches. Wenn Buddha es erklären würde, könnten die Leute es vielleicht kognitiv erfassen, aber es wäre nicht ihr Leben! So wird einem Rabbi von einem gläubigen Juden geklagt, dass er nicht so tugendhaft sein kann wie Mose. Der Rabbi antwortet, wenn Gott einen zweiten Mose haben wollte, dann hätte er einen zweiten Mose gemacht. Aber Gott wollte dich! 

 

Und er hat recht, aber dennoch muss eine Motivation, ein Ziel, eine Richtung vorhanden sein. Eine Ahnung, wo man hinwill. Etwas, dass einen ruft und zieht. Eine Vorstellung, aber halt kein fixes Bild, dass man genau so tugendhaft sein müsse oder den Handstand beherrschen etc. Es muss der Ruf gehört werden, aber eben der eigene Ruf und es kann nicht dem Ruf von jemand anderem gefolgt werden. Deswegen ist in der Antwort des Buddha alles gesagt, du musst dein Herz aufgehen lassen, dass ist alles. Den Weg dahin, kann nur dein eigener Weg sein. Aber man kann von den Wegen der anderen lernen. Man kann das eine für sich als passend aufnehmen, dass andere weglassen. 

 

Man kann nicht den Weg eines anderen aufnehmen oder lernen, sondern nur die Art, wie sich jemand anderer auf seinen Weg gemacht hat. Nur man muss sich davon verabschieden, dass man jemanden nur folgen braucht. Das haben so Jungens wie Osho nicht begriffen und seine Anhänger noch viel weniger. Interessant dabei ist, dass die heilsbedürftig Suchenden, dieses sich aufgeben des Herzens vollkommen falsch verstehen. Aber dann in einer religiösen Sinnsuchen noch viel radikaler auf sich selbst und auf ihren Weg zurückgeworfen werden. Gleichwohl dies dann tatsächlich nur wenige vollziehen, sondern die große Mehrheit beim Guru hocken bleibt oder beim Pfarrfest oder sich am Katechismus festhält, denn jeder einzelne weiß seinen Weg besser, als die Kyrie in Rom. 

 

Wie schafft der Buddha und die Bodhisattvas es, in diesem Zustand zu verweilen und den Menschen zuzuwinken? Wie bleibt er in der Leere zwischen den Ufern, in der Schwebe zwischen Seiendem und Nichts? Ein Bodhisattva ist nicht mehr hier, aber auch noch nicht dort und sucht Halt. Keinen Halt/Verankerung/Grund braucht er, um weiterhin ein Bodhisattva zu bleiben, um weiterhin in seinem Wesen zu sein. Aber was ist das Wesen eines Bodhisattvas? Das Wesen des Bodhisattvas ist der (Erleuchtungs-)Weg. Sein Wesen ist der Weg und der Weg ist sein Wesen. Es gibt unendliche Wege (Weisheit, Liebe etc.), wie es auch unendliche Bodhisattvas gibt. 

3. Mahayana als Weg


Der Buddha sagt zu Subhuti: „Subhuti, maha (große) Bodhisattvas sind alle darin gleich, dass sie ihr Herz aufgehen lassen: Allen lebenden Wesen - seien sie aus einem Ei geboren, lebend geboren, aus Feuchtigkeit geboren, durch Verwandlung geboren, oder haben sie eine wahrnehmbare Form oder eine nicht-wahrnehmbare Form, ob sie denkend oder nicht-denkend sind, oder sind sie weder denkend noch nicht-denkend - eröffne ich, das Nirvana in sich aufbrechen zu lassen, um alles Leid aufzuheben. Und so haben unzählige, nicht zu fassen viele lebende Wesen ihr Leid aufgehoben, aber dies bedeutet, dass damit kein Einzelner erlöst wurde. Wie kann das sein? Denn der Bodhisattvas hängt nicht an falschen Vorstellungen wie einem Selbst, einer Person, etwas Seiendem oder einem Lebenden, sonst wären sie keine Bodhisattvas. 

 

 

Die Geburtsarten beziehen sich auf alles und jeden der durch die Bodhisattvas erlöst wird. Ganz egal, ob aus einem Ei geschlüpft, oder hochintelligent (vermutlich wird auch KI berücksichtigt)…egal, ob mit Zweifeln oder ohne etc. Jesus hat ja auch alle geliebt, egal ob sie ihn gefeiert haben oder nicht. Daher wäre der logische Schluss, zu sagen, scheißegal wie du auf die Welt gekommen bist….scheißegal ob man dich überhaupt bezeichnen kann oder ob man überhaupt was aussagen kann über dich...du gehst mit mir und ich erlöse dich! Scheißegal, ob x oder y oder z, oder ob du überhaupt aus einem anderen Alphabet stammst - du wirst erlöst! Um dieses alle zum umgreifen geht es und nicht um eine vollständige Aufzählung der Geburtsarten. Die verschiedenen Formen des Geborenwerdens bedeuten aber auch verschiedene Lebensformen, von denen der Buddha die Wesen erlösen muss. Ein Huhn ist ganz anders gebunden, als dies ein Mensch oder ein Schneeball ist. Dies wird noch einmal verdeutlicht, indem das Sutra fortfährt und noch einmal neu beginnt und verschiedene “Bewusstseins”-Formen oder Daseins-Formen im Sinne Heideggers aufzählt: denkend oder nicht denkend oder auch ganz etwas anderes, was wir in unseren Kategorien uns nicht vorstellen können, wie etwa das Dasein von Göttern, Geistern, Aliens oder auch Fischen. D.h. Wesen "jenseits unserer Kategorien" - oder vielleicht "nicht kategorisierbar" - oder "in unseren Kategorien nicht wahrnehmbar" sind. 

 

Der Buddha eröffnet und lädt sie dazu ein, dass sie ihre selbstgemachten und übernommenen Illusionen aufgeben und auflösen. Dass sie an ihren Konstrukte, die sie sich von der Welt machen, erkennen, dass diese auf eine Leere gesetzt sind und diese Leere durch diese Konstrukte durchscheinen sehen, womit sich die Bedeutung dieser Konstrukte radikal verändert. Dass Reichtum, Schönheit alle relativ sind, vergänglich und letztlich nicht existent sind. Dann sehen sie die Welt, dass sie leer ist, ein unmarked space - weit, vielfältig, unhierarchisch und einfach schön, gut und wahr in dieser ganz einfachen Form. Und damit nehmen sie das Nirvana wahr. Und dies ist dann das Aufbrechen des unmarkes space, der allem zugrunde liegt, das Aufbrechen des Nirvana im Samsara. Es entfällt damit auch die Differenz Nirvana und Samsara… beides unmarked space. Und wenn man diese Unterscheidung von Nirvana und Samsara trifft, ist man noch längt befangen. 

 

Das Sutra sagt zu, dass durch den Buddha und die Mithilfe der Bodhisattvas alle erlöst sind. Aber warum? Man sieht das Leid auch nach 2.500 Jahren. Es gibt zwar weniger absolute Armut, aber die Menschen und Tiere etc. leiden genauso an der Welt. Vielleicht sogar mehr als früher, weil die meisten sich die Welt entzaubert haben und sich die Illusion von Konsum, Individualität, Karriere etc. zum obersten Ziel gesetzt haben und kultivieren. Eigentlich genau das Gegenteil von dem was der Buddha aber auch Jesus gelebt haben. 

 

Trotzdem ist das Sutra nicht falsch in seiner Aussage. Genauso sind die Evangelien nicht falsch mit ihrer Naherwartung, dass der Herr schon da ist bzw. in jedem Moment wiederkommen wird. Denn die Erlösung steht nicht irgendwann an und Erleuchtung ist auch nicht etwas, was irgendwie etwas ändern würde an der äußeren Welt. Die ganze äußere Welt ändert sich nicht, wenn man sich verliebt. Die Arbeit bleibt langweilig, die Kollegen spinnen weiter… und trotzdem ist alles anders. Erleuchtung ist eher ein sich verlieben (aber nicht in eine einzelne Person, sondern in die Welt als Ganzem), als dass sich alle Kollegen auf einmal ändern. Was beide bewirken wollen, ist das man erkennt, dass man als Person geliebt wird, und zwar ganz bedingungslos, unabhängig davon, was man erreicht hat: eben wie Eltern ihr Kind lieben oder der Kuss des Partners auch nach durchgefallenen Examen noch süß ist (und vielleicht sogar noch süßer, weil bewusst wird, dass es nur der Kuss ist ohne Status und was sonst noch daran hängen könnte). Da ist das Christentum auch echt besser aufgestellt, indem Liebe und Vater dort die Grundkonzeption ist und nicht die buddhistische Leere. 

 

Fühlt man sich allerdings als dieses Ich grenzenlos geliebt, egal welche Konstrukte man von sich hat oder mit welchen Konstrukten die Gesellschaft einen vergleicht, erkennt man, dass dies auf jedes andere Lebenwesen auch zutreffen muss. Denn dies kann ja nicht nur auf mich bezogen sein, sonst funktioniert der Ansatz dieser grenzenlosen Liebe nicht. Und dann ist auch das Personenkonzept ausradiert, dann sind alle geliebt, die ganze Welt und damit auch nicht mehr voneinander unterscheidbar. 

 

Der Buddha behandelt alle gleich in seiner Wertschätzung, so auch die Bodhisattvas. Der Buddha geht dabei dann behütend, d.h. individuell und damit nicht gleich und drängend vor. Dass er alle gleich behandelt meint nicht, dass er mit jedem gleich ist: er begegnet jedem mit demselben Respekt, aber es zeigt sich schon auch in unterschiedlichen Verhaltensweisen. Er begegnet den Menschen dort, wo sie sich verstanden fühlen. Er will nicht von außen irgendeine Lehre aufs Auge drücken, sondern dass jeder das Gefühl hat, es selbst zu begreifen, wie Sokrates als Maieutikos. Nur dann kann es wirklich funktionieren. Sokrates war vielleicht ein Boddhisattva! Vielleicht kann man immer Buddha, Jesus und Sokrates zusammen hier lesen, also dass diese großen Denkrichtungen hier aus dem gleichen Grund schöpfen. 

 

Denn die Erlösung, besteht ja darin, ins Nirvana zu kommen bzw. diesen ewigen Kreislauf von Leben und Sterben zu durchbrechen. Aber solange da noch Leben ist, ist Sterben, also da ist keineswegs jeder erlöst. Und sonst bräuchte es auch keinen Bodhisattva. Den es aber offensichtlich schon braucht. Aber sind diese Reinkarnations-Interpretationen vielleicht ein „Orientalism“. Eine übertriebene westliche Konstruktion, um den Buddhismus lächerlich zu machen. Wo begegnet dieses Thema im Sutra oder bei den Zen-Meistern? Wenn dann eher als ethisches Hilfsmittel: stell dir vor du, deine Mutter, deine Kinder, deine Frau/Mann kann als alles wiedergeboren werden… also auch die Mücke auf deiner Haut, die dich gerade sticht...also los, hau dein Kind, dass vielleicht diese Mücke ist, platt! In diesem Sinne ist dieses Konzept äußerst plausibel. 

 

Oder dass die Erleuchteten von ihren früheren Leben wissen und auf das Wissen von dort zurückgreifen können. Um erleuchtet zu werden reicht ein Leben offensichtlich nicht aus. Für alle die frustriert sind, dass sie über Jahre nicht erleuchtet werden, kann dies ein Trost und Ansporn sein weiterzumachen. Was dann aber wieder gut in diesen Kontext passen würde, der Bodhisattva sucht eigentlich nichts, denn er weiß, dass in diesem Leben vielleicht gar nichts zu erreichen ist, aber er macht trotzdem mit voller Entschlossenheit weiter. Hier passt dann vielleicht auch das zentrale Konzept von Kant rein: dass eine Ethik immer Pflichtethik sein muss, wovon man selber nicht notwendig einen Mehrwert zieht. 

 

Und wozu braucht es dann noch dieses Sutra? Und einen Bodhisattva? Klar ist der Bodhisattva keine "Person"...Subhuti ist jetzt kein Mensch oder keine Persönlichkeit, sondern ein Weg. Einer von unendlich vielen Wegen, die ins Nirvana führen. Aber hier im Sutra muss das vielleicht so dargestellt werden, damit für die Menschen, die es lesen/hören dieser Weg dahinter und das Konzept ersichtlich wird. Sonst wäre es viel zu abstrakt und sie würden sie nie darauf einlassen. Durch die Denkfigur eines Bodhisattvas kann man die Leute irgendwie erreichen. Aber gleichzeitig würde es das alles eh nicht brauchen, wenn wir schon alle erlöst sind. Das Sutra braucht es genau von diesen Vorstellung zu befreien, d.h. dass es eine Wiedergeburt gibt oder die Hölle. Es gibt nur dieses Jetzt und handele achtsam in diesem Jetzt. 

 

Und dieses Leben im Hier und Jetzt bedeutet, ganz hier zu sein, ohne Wertung, nur mit der Wertung, dass jede Wertung verstellt: es gibt kein Gut ohne Schlecht, der Bodhisattva sieht beide zusammen und lässt sie im unmarked space aufgehen und lässt die nächste Form entstehen. Ein Mensch stirbt und der Bodhisattva sieht gleichzeitig eine neue Blume entstehen (was Reinkarnation bedeuten kann). Aber der Bodhisattva, sieht auch dass er als Person eine Formsetzung ist, die vergeht und auch dass er ein Bodhisattva ist, ist eine Formsetzung… und alles geht auf im unmarked space. Und auf diese Weise gibt es weder den Bodhisattva, weil er sich aufgehen lässt in der unbegrenzten Liebe des unmarked space, und es gibt keine Wesen die erlöst werden müssen, weil auch diese als einzelne als sich aufgehende erkannt werden. “To do this, you need to make use of wisdom, not intelligence. Intelligence differentiates, wisdom does not.” (Meng-tsan: Diamond-Sutra, 83) 

 

Der Boddhisattva nimmt diese Formsetzung einfach an, aber hält nicht daran fest. Es ist wie wenn man in den Himmel schaut und Wolken sieht. Das sind auch Gebilde, die kommen und gehen und irgendwelche Formen annehmen, und man lässt sich darauf ein, ob man jetzt die Form eines Hundes erkennt oder eine Blume etc. Und die Schönheit daran in den Himmel zu schauen, ist gerade die Beobachtung der Weite und den Veränderungen daran. Man lässt die Gebilde kommen und auch wieder vergehen, ohne überhaupt den Versuch zu machen diese Festzuhalten (allerdings wird selbst dies wieder zerstört, durch die Handyfotos). 

 

Auch das man hier so selbstverständlich seine Ohnmacht akzeptiert, weil wer erwartet schon, dass er die vorbeiziehenden Wolken formen könnte nach seinem Willen. Sondern man nimmt dankbar alles an und lässt die Fantasie auf Hochtouren laufen, die dann aus jeder Form etwas macht. So lebt und handelt der Bodhisattva. Oder auch Kinder, wenn sie spielen und mit so viel Fantasie irgendwelche Orte verzaubern oder Gegenstände magisch aufladen. Da ist dann plötzlich der Schluf hinterm Bett eine riesige Abenteuerhöhle, oder der Stuhl ein gleichberechtigter Mitbewohner etc. 

 

Irritierend ist die Aussage, dass es keine Erlösung für einen Einzelnen gibt. Zunächst ergibt sich eine Erklärung rein logisch, den dadurch, dass alle Lebewesen immer schon erlöst, gibt es faktisch auch keine Erlösung für den Einzelnen. Oder liegt es daran, dass es keine Erleuchtung für einzelne Bodhisattvas gibt, da sie diese verweigern müssen aus ihrem Wesen heraus, um weiter in dieser Welt zu bleiben, um allen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen? Und so haben unzählige, unfassbar viele Wesen ihre Schmerzen losgelassen und doch ist damit kein Einzelner erlöst. Wie kann das sein? 

 

Ein Bodhisattvas drückt sich nicht darin aus, dass er ein Einzelnes, eine äußere oder innere Gestalt, unterscheidet. Ein Bodhisattva trifft keine solchen Unterscheidungen, sonst wäre er kein Bodhisattva. Worin drückt sich ein Bodhisattva aus? Wie verhält er sich als Arbeitskollege? Er begegnet allem mit demselben Respekt, aber es zeigt sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen. Er begegnet den Menschen dort, wo sie sich verstanden fühlen. Und das kann ganz unterschiedlich sein. 

 

Der Punkt ist, der Buddha sagt, dass alles erlöst wird bzw. bereits erlöst ist. Christlich gesprochen heißt dies die Hölle ist leer, alle kommen in den Himmel. Buddhistische gesprochen heißt dies, keiner muss Erleuchtung suchen, denn alle sind bereits jetzt schon erlöst. Dies greift in beiden Religionen an die Grundlage: für den Christen ist es die zentralste Aufgabe in den Himmel zu kommen, für den Buddhisten das Satori zu erlangen. Beides Unfug wird doch hier gesagt, oder? Und dann ist die Frage, warum ist das Unfug? Und wozu braucht es dann noch dieses Sutra? Und einen Bodhisattva? Klar ist der Bodhisattva keine „Person“. Subhuti ist jetzt kein Mensch oder keine Persönlichkeit, sondern ein Weg. Einer von unendlich vielen Wegen, die ins Nirvana führen. Die Darstellung durch das Sutra ist dazu da, damit für die Menschen, die es lesen oder hören dieser Weg dahinter und das Konzept ersichtlich wird. Sonst wäre es viel zu abstrakt und sie könnten sie nie darauf einlassen. Durch die Denkfigur eines Bodhisattvas kann man die Leute erreichen. 

4. Geben aus dem Nicht-Anhängen 


Ein weiterer Grund, Subhuti, der die Bodhisattvas bestimmt, ist: sie hängen in ihrem Verhalten nicht an den Gaben, die sie geben, somit hängen sie nicht an der (äußeren sichtbaren) Form der Gabe, hängen nicht am Ton, Geruch, Geschmack, Gefühl oder sonst einem Dharma. Subhuti, Bodhisattvas sollten deshalb Geben, ohne an irgendetwas zu hängen.  

Aus welchem Grund? Indem die Bodhisattas in ihrem Geben an nichts hängen, kann ihr tugendhaftes Handeln auch nicht begriffen werden (bzw. ist ihr Handeln unfassbar tugendhaft). 

Subhuti, was würdest du denken? Kannst du die Weite des Ostens erfassen? - Sicher nicht, Weltehrender. 

Subhuti, Süden, Norden, Osten und Westen, alle vier Himmelsrichtungen, Oben und Unten, kannst du diese Weiten erfassen? - Sicher nicht, Weltehrender. 

Subhuti, Bodhisattvas hängen nicht am Geben, genauso wenig ist deswegen tugendhaftes Handeln zu begreifen. Subhuti, Bodhisattvas sollten aber an dieser Lehre hängen. 

 

 

Bei der Gabe kann man zunächst davon ausgehen, dass es hier darum geht, andere Menschen zur Befreiung zu bringen. Aber hier gibt es keinen Anhaltspunkt im ersten Satz dazu. Also schauen wir, was sich aus dem Prinzip ergibt: Hängen nicht an der Gabe oder am Geben. 

 

Viele hilfsbereite Menschen gefallen sich im Geben. Sie geben immer gerne, allerdings um dafür den Dank des Empfangenden zu bekommen, aber auch darüber hinaus als Gebenden vom ganzen Umfeld wahrgenommen zu werden. Denn das Geben ist auch eine total positiv besetzte Kategorie. Man könnte dies auf alle Sozialarbeiter erweitern oder auf Kaiser Wu in der Begegnung mit Bodhidharma. 

 

Man spürt ja schon, dass da an jeder Gabe was dranhängt und etwas Klebendes…es ist immer mit etwas verbunden. Es ist kein bedingungsloses Geben. Kein Wunder auch, dass sich viele Leute mittlerweile auch im Annehmen schwer tun, weil sie immer irgendeine Absicht hinter den Gebenden vermuten oder irgendeine Forderung/Bindung spüren. Und es hat auch ein Gefühl von missbraucht zu werden, denn oft kann man tatsächlich nicht Nein sagen, weil man hilfsbedürftig ist oder man kann nicht Nein sagen, weil man die eigentliche Motivation nicht ansprechen darf, dies ist ein wohl bewahrtes Tabu. 

 

Weiterhin geben sie meist nur soweit, wie es selber nicht wehtut und keine eigenen Einschnitte bedeutet. Und sie geben nichts, was ihnen persönlich etwas bedeutet bzw. an dem sie selber hängen. 

 

Und noch ein weiterer Aspekt hängt daran, denn an professioneller Hilfe kann man sehen, dass dies eigentlich auch eher durch Mitgefühl gestört wird, es sind die eher emotional distanzierten Helfer, die wirklich was auf die Kette kriegen und nicht die, die dauernd selber mitleiden. Und man darf nicht die eigenen Hilfsbedürftigkeit und Ohnmacht damit kompensieren, dass man anderen in ihrer Ohnmacht hilft, sich selber aber aus dem Blick verliert. 

 

Denn das Nicht-Hängen kommt von dem allgemeineren Teil: ich hängen nicht an einer Form, d.h. ich hänge nicht an meiner Person, ich hänge nicht an dem was ich habe, ich hänge an gar keiner Form, sondern jede Form wird als auflösbar in den unmarked space begriffen… und dies gilt dann auch für die Gabe. Hängen ist auch generell ein schöner Begriff, es hat auch was von Anhaftung und Aufladung, dass diese Formgebung dann auch noch besetzt ist mit dieser Person (weil Formgebung + Ego). 

 

Przywara schreibt an einer Stelle, dass der Beter so frei hängen muss, wie eine Glocke. D.h. er darf nur eine Aufhängung haben, die ihm dann aber auch Sicherheit gibt (in diesem fall dann Gott) und alles andere darf nicht sein. Wenn ich die Glocke weiter absichere, kann sie gar nicht mehr schwingen oder nur eingeschränkt, oder sie hat keinen richtigen Sound mehr… und die Glocke muss frei über dem Abgrund schwingen, ohne Angst schaut sie die ganze Zeit in dem Abgrund und das, was sie hält, sieht sie eigentlich gar nicht, also woran sie oben aufgehängt ist. Denn die Glocke schwingt und schlägt und macht ihren Sound, ohne sich der Weite bewusst zu sein. Also sie braucht Raum und Freiheit und Weite, um schwingen zu können, hat aber keine Ahnung davon, wie weit sie selber überhaupt hörbar ist. Das hält sie aber nicht davon ab, einfach zu schlagen und zu schwingen. 

 

Auch eine Klangschale braucht einen Grund, auf dem sie steht, um frei schwingen zu können (sobald man sie seitlich berührt, verstummt sie). Und auch mit welchem Schlägel man sie haut, macht einen Unterschied im Klang. D.h. der Klangkörper muss frei sein, aber nicht ganz frei… sie braucht einen Grund oder eine Halt(er)ung. 

Die Glocke läutet einfach so, ohne das Publikum zu kennen oder auch die Reaktion… dem einen wird warm im Herzen, weil er dies als intime Einladung zum Gottesdienst hört, der Atheist ist genervt, dass er sonntagsmorgens darin gestört wird seinen Rausch auszuschlafen… und die Firmlinge mit Rausch in die Messe. 

 

Aber die Frage ist, warum gibt der Bodhisattva? Warum ist er nicht ein Arhat, der sich einen auf seine Erleuchtung wichst oder wie der Buddha erst geplant hat, direkt ins Nirvana abzuhauen? 

 

Er hängt zwar nicht an der Gabe, aber er scheint  am Geben zu hängen. Aber wie genau? Oder ist das Geben ohne an der Gabe zu hängen genau die besten Praxis des Nicht-Hängens? Vielleicht kann man auch den Aspekt beleuchten, dass er auch nicht an Abnehmern hängt. Also er macht es vielleicht gar nicht mit so einer Absicht des Gebens und Nehmens, sondern gibt seine Gabe frei, und derjenige der sie nimmt, nimmt sie halt.  Und warum macht er das? Um seine Freiheit und die Weite zu erfahren? Vielleicht wird der Glocke ihre Freiheit auch erst bewusst, wenn sie sich selber als einen läutenden Gegenstand erfährt? Denn wenn die Glocke nicht läutet, ist sie halt ein verstaubter Museumsgegenstand oder nur eine Parodie einer Glocke oder ein Stück Metal. Aber sie muss läuten können, um eine Glocke zu sein. 

 

Aber damit ist die Frage nur verschoben, warum definiert sich der Bodhisattva über dieses Geben? Der Fisch braucht das Wasser, ist aber nicht das Wasser; die Glocke braucht den Klang, ist aber nicht der Klang; Der Bodhisattva braucht das Geben, ist aber nicht das Geben. Er ist nicht das Geben, er ist auch nicht die Gabe...welche Gaben gibt er denn überhaupt? Also zentral ist: er verfolgt keine Absichten und hat auch kein Ziel. Er gibt einfach. 

 

Menschen die an der Gabe hängen, geben, um sie selber zu sein, also ihr Bild von sich bestätigt zu bekommen: hilfsbereit, toller Mensch, wichtige Person in der Gemeinschaft, einfach jemand zum bewundern! Eigentlich hat das Geben hier eine total Ego-aufbauende Funktion und es ist auch mit einem sehr konkretem Bild von dem eigenen Ego verbunden. Und bewirkt es selber ein Gefühl von Ohnmacht, wenn das Klientel auf einmal wirklich selbständig wird (großes Problem in der Sozialen Arbeit)? Also alles das Gegenteil von dem Bodhisattva, auch wenn das Resultat ein Gutes oft ist. Es ist damit mehr Nehmen als Geben. 

 

Aber wie funktioniert dies beim Bodhisattva? Vielleicht bringt er die Leute dazu, selbst ihre Bedürfnisse zu erfüllen...Sicher, aber welche Funktion hat es für ihn selbst. Denn es scheint ja wie das Wasser etwas zu sein, was ihn definiert. Ein Bodhisattva kann per se auch nur aus dieser Kluft entsteht...diese nicht-erlösten, an Festlegungen festhaltenden  Wesen und das Nirvana, der unmarked space. Der Bodhisattva ist eine Brücke, eine Verbindung zwischen diesen beiden...gleichzeitig zeigt er aber auch eine Grenze, eine Schwelle auf. Seine Gabe besteht darin, einen Begegnungsort des einen mit dem anderen zu schaffen. Dies ist die Funktion, die er für andere hat, aber er besteht auch nur selber deswegen. Sind alle erlöst, braucht es keinen Bodhisattva mehr, bzw. gibt es auch keinen mehr, weil sich alles er-/auflöst so wie das Bild mit dem Ochsen und dem Hirten. 

 

Denn die Geschichte hört ja nicht mit dem Bild vom Sartori auf, sondern es geht danach weiter. Danach sitzt der erleuchtete Hirte als grinsender Buddha mitten auf dem Marktplatz. Und das Geben des Bodhisattva wäre dann genau diese Erkenntnis, wieder aufzubrechen in die Welt… und was soll er dann in der Welt machen? Er kann viel ficken, wie etwa Ikkyu… allerdings hat sich dies mönchische Praxis nicht wirklich durchgesetzt… oder vielleicht ja schon im Tantrismus und im Tao (und hier zeigt sich ja auch dann die Verirrung, da es zumindest im Westen nur noch um Sex und flache Esoterik geht)… aber seine Praxis ist nicht, einfach nur im Nirvana zu meditieren, sondern zu helfen und mit dem alltäglichen Leben mitzugehen und sozusagen den Alltag zu erleuchten… aber nicht um etwas zu erreichen, also keine Karriere auch nicht als bester Boddisathva aller Zeiten. 

 

Anhängende Gebende geben, um zu sein; der Bodhisattva ist (noch) da, um sich abzugeben, nicht für sich zu sein, für andere da zu sein, oder wie im Huayen-Sutra alles zu sein. Damit hängt der Bodhisattva aber nicht nur nicht an den Gaben, sondern er hängt auch nicht am Geben im Ganzen. 

 

Damit ist das Geben aber nicht nur eine Tätigkeit, die ethisch gut wäre, und deshalb auszuführen wäre, sondern das Geben ist von seiner inneren Struktur sozusagen, die Praxis oder das Sein des Bodhisattva: jedes geben ist ein sich weggeben, womit jedes Mal Weite realisiert wird. Während eine plötzliche Erleuchtung (wie etwa unter dem Bodhibaum) ein einmaliges und recht singuläres Ereignis ist, ist das Geben die alltägliche Realisierung der Erleuchtung (des re-entry) immer wieder aufs Neue. 

 

Geben ist damit  ein re-entry. Indem der Bodhisattva gibt, ist er; und löst sich gleichzeitig darin auf (draw a distinction and re-entry of the distinction in the form)) und dadurch wird diese zugrunde liegende Weite (unmarked space) erst bewusst. 

 

Dies ist also das Prinzip, aus dem der Bodhisattva lebt, jeden Moment und jede ganz alltägliche Handlung. Er praktiziert aber dieses Geben ohne daran zu hängen, also ohne an dem Gegebenen zu hängen (also ich trauere dem Buch nicht nach, was ich jemanden schenke, der es gerade benötigt) und erwarte auch nichts  im Gegenzug dafür. Und trotz dieses Absichtslosen und Nicht-Hängen erhält man paradoxerweise den Wert oder besser die Anerkennung einer unfassbar tugendhaften Leistung. 

 

Und dies nicht von einer Person oder der Gesellschaft oder von sich selbst, sondern man entspricht dem Ruf des Buddhas oder Gott (“dein Wille geschehe”). Womit aber der Gegenwert gar nicht mehr fassbar wird und sich immer entzieht. Im Christentum gibt es das “Vergelt's Gott”, was durchaus eine zwiespältige Formulierung ist. Zum einen suggeriert es, dass man doch irgendwann (im Himmel) dafür exakt entlohnt wird und sich damit das Geben auszahlt. Dies hat weder Jesus so gemeint noch der Buddha, eher der Pfarrer vom Dorf, der seine Schafe moralisch auf Spur halten will. Sie enthält auch als "Vergeltung" noch diesen Gedanken, dass einen Gott dauernd kontrolliert und Buch führt und dir dann irgendwann aufrechnet, ob du gut oder scheiße gelebt hast. Und auch, dass viele Leute nur nett sind, damit sie dann von diesem Gott einen guten Platz im Himmel bekommen. Also eigentlich das genaue Gegenteil eines Bodhisattvas. 

 

Der Spruch kann aber auch ganz anders gelesen werden, nämlich dass man selber den Lohn seiner Handlungen niemals erkennen wird, dass sie “unfassbar” sind wie das Sutra formuliert. Und damit wäre es ein Aushalten von Theodizee - wenn guten Menschen böses widerfährt - haben sie dann verfehlt gehandelt oder liegt es einfach nicht in unserem Ermessen? Und kann es einfach vollkommen in das Vertrauen auf einen Gott oder Buddha loslassen? Hier kann der Gedanke anknüpfen, dass dieses Geben für die Bodhisattvas ihr einziger Halt, ihre einzige Verankerung in dieser Welt ist und gleichzeitig immer wieder erneut ihr Absprung von der Welt, indem sie immer wieder neu Loslassen im Geben und sich in dieser Weite des Gebens ohne daran zu hängen aufgehen lassen. Durch das Geben oszillieren sie. 

 

Durch das Geben verbinden sie Buddha, d.h. die Weite und die Leere aller Dinge, mit den Menschen, haben etwas Buddhahaftes und etwas Menschliches zugleich (diesen Zwiespalt hat dann Jesus in seinen zwei Naturen beispiellos gelebt). Sie als Person/Form sind zwar nicht (mehr) hier, durch ihre Handlungen legen sie Spuren, ihr Geben ist ein Winken. 

 

Hier passt auch gut diese Beschreibung als „unfassbar“, „unbegreiflich“ oder "grenzenlos", weil die Boddhisattvas und ihr Geben nicht mehr in den herkömmlichen Kategorien der Menschen zu fassen sind. "Vergelt's Gott" wäre hier die Anerkennung einer Leistung/Handlung/eines Gebens, das über die herkömmlichen menschlichen Kategorien/Fassungen/Markierungen hinausgeht. Was gar nicht mehr im Koordinatensystem von menschlicher Anerkennung liegt, sondern aus der Fülle des Nichts schöpft und immer wieder frei dem Ruf folgt. Und der Ruf kann ganz im Großen eine Berufung zu etwas sein, aber vor allem immer wieder aufs Neue in den kleinen Dingen des Alltags stattfindet. 

 

Man selber kann sich gar nicht mehr beim Bodhisattva bedanken, weil er ja nicht (mehr) IST, bzw. nichts mehr davon HAT. Dieses "Vergelt's Gott" bringt auch die Liebe Buddhas zum Ausdruck, der einfach will, dass es den Menschen gut geht und ihnen etwas widerfährt, das ihnen gut tut. 

 

Geben und Unfassbarkeit sind darin gleich, dass sie unfassbar sind, wie der Himmel im Herz-Sutra. Die Tugend ist aus der Leere zu handeln, kein Subjekt und Objekt zu haben - und hier oszilliert es dann, wie in einem Koan. Lebt man so, ist man nicht mehr begrenzt durch sein Ich, Können etc. sondern man ist weit wie der Himmel, man ist eingebunden in das Netz der Indra. 

5. Wahrheit und die erscheinende Wirklichkeit


“Subhuti, was denkst du, kann man dem Welterehrende in seinem Leib begegnen/ihn erkennen?” 

“Nein, sicher nicht. Den Weltehrenden kann man in seinem Leib nicht begegnen/erkennen. Wie sollte dies auch gehen? Die leibliche Begegnung, von der der Weltehrende spricht, ist nicht die weltliche/leibliche Begegnung.” 

Der Buddha entgegnete Subhuti: “Jede weltliche Begegnung ist eine Konstruktion (ohne Grund). Gehst du davon aus, dass alle erscheinenden Dinge einem nicht begegnen können, folgst du dem Weltehrenden (in seiner Sichtweise).” 

 

Der Buddha fragt danach, wie man ihm als Buddha eigentlich begegnen kann, wie man ihn erkennt, d.h. wie man ihn in seinem Wesen erkennen kann, um von ihm zu lernen. Also gibt es konkrete Erkennungsmerkmale dafür, dass er ein Buddha ist (etwa die 32 Merkmale des Buddhas oder Jesus offen Wunde, in die Thomas seine Hand legen möchte, um glauben zu können). Die chinesische Übersetzung kann sehr einfach gelesen werden, indem dort die Wörter lebender Körper und Begegnung verwendet werden. Damit ist ein ganz wesentlicher Hinweis schon gegeben: denn hier geht es nicht um abstrakte Merkmale, die man für immer in einem Lehrbuch zum erkennen eines Buddha festschreiben kann. Sondern es geht um die einmalige konkrete Begegnung zwischen einer einzigartigen Person, nämlich mir selbst, und dem Buddha… und dies immer wieder neu für jeden Menschen und auch für jeden Menschen immer wieder aufs neue… ich muss dem Buddha immer wieder neu begegnen und ihn so zu mir einlassen, um von ihm lernen zu können. Denn es geht nicht um etwas Vorhandenes, sei es der Buddha der vor mir steht oder eine fest definierte dogmatische Lehre. Dies ist alles leer, gemacht und Illusion. Womöglich sogar eine Ablenkung von der echten Begegnung. 

 

Und es spielt auch darauf an, dass diese physische Begegnung nicht nur an der Oberfläche stattfindet, sondern die eigentliche Begegnung ganz woanders passiert. Und da ist es nebensächlich ob ich dem bettelnden Pennerbuddha ein Essen in seine Schale lege oder selber ungewaschen bin. Nur weil ich in der Kirche sitze, bin ich noch lange kein Christ, und nur weil der Buddha wie ein alter Penner ausschaut, ist er noch lange kein verdatterter Greis. Den Buddha erkenne ich erst dann, wenn ich von diesen ganzen Illusionen ablasse, wenn ich die Dogmatik nicht mehr als Fundament nutze, sondern frei werde… auf, auf!!! Jiedie Jiedie!!! 

 

Es passieren aber dennoch täglich physische Begegnungen, es treten mir Erscheinungen entgegen, die man als Illusionen erkennen muss. Wie gehe ich also damit um? Ich begegne ihnen trotzdem, nehme sie aber nicht mehr so ernst.  Und was ist aber dies „Konstruktion/Erfindung/ohne Grund"?  Es ist wörtlich nicht unbedingt Illusion, sondern eher etwas gemachtes, Kontingentes. Kontingenz im Sinne der Systemtheorie trifft es vielleicht wirklich ganz gut, denn es sind nicht einfach Illusionen, die man auslöschen muss, um dann die Wahrheit erkennen zu können, sondern es sind Konstrukte, die ich für mein Leben brauche, die aber eher als funktionierende Werkzeuge verstanden werden müssen, die immer wieder auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden müssen. Und dabei hilft dann der Buddha, in dem er immer wieder das crossen in den unmarked space lehrt und somit eine Neuausrichtung im Kleinen wie im Großen möglich ist. Aber man sieht, dass es ohne kontingente Konstrukte nicht geht. Es ist kein Leben in einer Berghöhle im Nirvana zu dösen, sondern der Bodhisattva muss raus, auf dem Markplatz, um den Leuten zu helfen...auf, auf!!! Jiedie Jiedie!!! 

 

Für viele mag das Crossen aber sehr unangenehm sein, da es sie ja in ihren Grundfesten erschüttert werden: Alles, worauf sie sich stützen, worauf sie bauen und worauf sie stolz sind, soll keinen festen, ewig dauernden Wert haben? Ja, in 100 Jahren weiß von 99% keiner mehr etwas zu berichten, egal was sie tolles geschafft haben, und am wenigsten die Michaels dieser Welt, die den Tageserfolg verbuchen. Aber genauso auch  die, die vielleicht nur im kleinen immer wieder die Welt verbessern… beides vergessen. 

 

Sobald einmal dieses Crossen wirklich vollzogen worden ist, einmal hinter die Kulissen der Kontingenz geblickt worden ist, kann man mehr oder weniger wählen: 1. ich kann mich noch verbissener auf Dogmatiken festlegen, um die ganze Absurdität meiner Existenz zu verdecken (hier sind sich Fundamentalisten religiöser oder atheistischer Prägung gleich) und kann ebenso versessen darauf sein, die gesamte Welt aufklären zu wollen über diese Erkenntnis, was aber nicht gelingen wird. Da kann ich didaktisch noch so gut sein, was die meisten eh nicht sind, weil sie viel zu starr in ihren Ansichten sind und gar nicht auf andere Lebenswelten eingehen können, 2. ich kann in dieser Absurdität ausharren und darin verzweifeln und eine zynische Haltung entwickeln, 3. ich kann eine Gelassenheit entwickeln, dass ich eh nur ein kleines Teilchen bin, was aber seinen Teil zum Ganzen beiträgt (Pantheismus, aber auch Buddhismus… aber auch Christentum “Dein Wille geschehe”). 

 

Dann kann man sich zwar der Konstrukte bedienen, die ja auch für das Alltagsleben unabdingbar sind. Aber man nimmt sie nicht mehr so ernst. Man kann sie austauschen gegen bessere oder einfach nur andere um die Sichtweise zu ändern, nachjustieren, immer wieder aufs Neue Crossen. Man beschäftigt sich nicht mehr mit den Erscheinungen selbst, sondern mit dem immer wiederkehrenden Crossen und den neu eingeführten Markierungen und den Inferenzen, die sich daraus ergeben. Was muss aber passieren, damit das erste crossing stattfindet? Wie kann einen der Buddha aus der eigenen Komfortzone schubsen? (in LoF-Manier: Wie kann man erkennen, dass die Form einer Unterscheidung auch einen unmarkierten Teil umfasst und nicht nur die markierte Seite zählt)) 

 

Dazu passt der Satz : "die leibliche Begegnung ist keine präsente leibliche Begegnung", d.h. präsent im Sinne von vorgegeben oder vorhanden oder ohne mein zutun da. Die Michaels dieser Welt werden einfach drüberweglesen oder darüber stolpern, werden sich denken, diese Wiederholung ist ein Stilmittel oder ein Fehler des Übersetzers. Sie werden vielleicht diesen Worten beipflichten, weil es ja gut und interessant klingt, bleiben aber immer noch in ihrer Welt verhaftet. Wie werden sie also angestoßen? Der Buddha macht das, indem er ihm ganz in sokratischer Manier diese Fragen stellt. Indem er Subhuti dazu bringt, selbst zu antworten, anstatt ihm zu predigen. Subhuti muss sich selbst mit dieser Frage auseinandersetzen, erst dann kann ein bzw. besser sein Crossing gelingen. Ein und damit sein Crossing muss von innen heraus stattfinden, nicht von außen (sonst wäre es ja nur ein Crossing und damit kein Crossing). 

 

Zum letzten Satz kann man die Übersetzung von Hsüan Hua als Kommentar heranziehen: "All with marks is empty and false. If you can see all marks as no marks then you see the Tathagata." Damit kann man erläutern im Sinne von Spencer Brown: “Jede weltliche Begegnung (also Markierung) ist eine Erfindung (ohne Grund und kontingent gesetzt); Geht man davon aus, dass alle erscheinenden Dinge einem nicht begegnen können, da sie einem nur als meine Markierungen begegnen und nicht ohne diese, folgst du dem Weltehrenden (in seiner Sichtweise, in den unmarked space).” 

 

Wie erkenne ich dann den Buddha? Nur indem ich seiner Lehre folge, dass alles Illusion ist? Ich begegne dem Buddha nicht, indem ich die physische Begegnung erlebe, sondern indem ich die physische Begegnung als Anstoß nehme, die Seite der Begegnung zu wechseln. 

 

Da es keine äußerlichen Merkmale für die Begegnung mit dem Buddha gibt, bleibt man unvoreingenommen. Man sucht nicht nach Buddha, ist nicht auf ein Merkmal verengt und fixiert. Der Blick bleibt weit und offen, Buddha kann Jesus sein oder der Penner an der U-Bahnstation. Es liegt also an mir, wo ich dem Buddha begegne: überall oder nirgends. Aber es ist immer auch eine Gratwanderung… denn ich kann ihm in dem Penner, oder auch in Jesus oder Osho oder Donald Trump begegnen. Bei allen setzt sich eine Person mit ihrem vollen Leben ein, aber für einen Scharlatan wirft man sein Leben weg, bekommt Abhängigkeit anstatt Freiheit (das Problem von Sekten oder auch Fundamentalismen). Sie  richten sich nur nach den äußerlichen Merkmalen, die der Buddha hier verwirft. 

 

Aber wie komme ich aus diesem Dilemma raus? Denn wenn ich misstrauisch bin und mich völlig verschließe, kann ich auch Buddha nicht begegnen. Oder wenn ich ständig auf der Hut bin, ob Buddha irgendwas schlechtes mit mir vorhat. Ich muss mich fallenlassen in diese Begegnung hinein. Rückhaltlos und unvoreingenommen, nicht mit irgendwelchen Annahmen oder Markierungen verstellt. Vertrauen macht halt auch furchtbar verletzlich. 

 

Vielleicht ist es die Haltung bei der Suche, die den Unterschied macht… womit ich selbst Jesus entweder als die Wahrheit oder ein verzerrte festgelegte dogmatische Fratze wahrnehme. Denn was treibt die Suche an? In einer Sekte oder bei Fundamentalisten findet man meist Leute, die die Verantwortung für ihr eigenes Leben abgeben wollen. Sie wollen klare, feste Antworten, an die man sich halten kann. Diese kommen aber nicht von ihnen selbst, sondern aus der jeweiligen Dogmatik. Dies ist die eine Seite. Die andere besteht bei denen, die eine Legitimation für ihr Handeln und Leben suchen, da passen die Anhänger von Trump sehr gut, findet man aber auch genauso in der Religion, man muss da nur an christliche Parteien mit ihrer Arbeitgeberhaltung und Xenophobie denken. Hier wird zwar etwas eigenes an Jesus oder Buddha herangetragen und dies kreativ gestaltet, aber es gibt keine Offenheit, sondern die eigene Vorstellung vom Ich verstellt alles. Sondern wie so oft, geht es auch hier um die Mitte (mesotes) zwischen diesen beiden Positionen. 

 

Bei der Übersetzung habe ich nicht verwendet, an welchen Merkmalen erkenne ich den Buddha oder wie kann man dem Buddha erkennen. Es geht um Begegnung. Und eine wirkliche Begegnung (am besten vielleicht bei Buber beschrieben, der für die menschliche Begegnung ja immer auch die Begegnung mit Gott als Hintergrund hatte), bewegt sich zwischen diesen beiden Seiten. Ich begegne dem Gegenüber mehr oder weniger auf Augenhöhe mit meinem Ich und meine Forderungen und Vorstellungen und kann mich doch auf das Gegenüber einlassen, mich von ihm in meinen Vorstellungen irritieren lassen, mich animieren lassen, zu neuen Wege aufzubrechen.  Auf, auf! Jiedie, Jiedie! 

 

Diese Begegnung ist aber nicht an äußeren Merkmalen festzumachen, sondern entsteht immer erst da, wo Begegnung tatsächlich stattfindet. Aber damit ist die Frage noch nicht beantwortet, warum es keine Begegnung bei Trump oder Osho gibt, oder warum eine menschliche Begegnung etwas anderes ist, als dem Buddha zu begegnen… aber ist letzteres wirklich etwas anderes? 

 

Bei Johannes (12, 45f.) sagt Jesus, wer mich sieht, sieht den Vater. Wenn ich mir den altgriechischen Text anschaue, ergibt sich da durchaus mehr. Da wird der Begriff Theorie als Verb verwendet, was durchaus etwas anderes ist, als das bloße schauen und was im Griechischen auch anders vom Ursprung ist, als was wir unter theoretisieren verstehen. Denn hiermit ist zunächst keine abstrakte Lehre verstanden worden, sondern ein Botschafter der von den sportlichen Spielen in einer anderen Polis berichtet hat in seiner eigenen Polis… quasi ein früher Sportreporter. Er berichtet von Begegnungen in einer anderen Polis, also von Begegnungen, die die Personen, die dies hören nicht machen konnten. Damit wäre die Übersetzung nicht “wer mich sieht, sieht den Vater”, da dies eine sehr oberflächliche Begegnung suggeriert, indem ich an der physischen GEstalt von Jesus ablesen kann. Sondern eher “eine festlich-freien Begegnung, die weitergesagt/-getragen wird”. Ich begegne Jesus also in dem Moment, wo es aus dem Alltag bzw. meinem festen Weltbild herausgenommen ist. Die Begegnung als Fest ist eine Auszeit. Und im sportlichen Festspiel wird Gesellschaft erprobt, stellvertretend gelebt (etwa Wettkampf zwischen Staaten). Es ist damit herausgenommen aus dem Alltag, verliert diesen aber nie aus dem Blick, sondern erprobt verschiedene Sichtweisen, ist ein “Fest des Crossens”, christlich formuliert ein Kreuzfest ;-) Und theoria sagt aus, dass daraus der Auftrag erwächst, von diesem Fest zu berichten. Aber auch hier ist es wichtig, dass das Fest nicht festgelegt ist: ein russisches Fest ist langweilig, weil gedopt und von oben geplant und inszeniert (potemkische Dörfer). Ein Fest funktioniert dann, wenn auch Kamerun Weltmeister werden kann. Es benötigt außerdem auch einfach diesen spielerischen Aspekt, leicht und offen und weg von der Ernsthaftigkeit und Schwere des Alltags. 

6. Wahrer Glauben ist schwer zu finden


Subhuti fragt den Buddha: „Weltehrender, wird es lebende Wesen geben, die nachdem sie diese Worte und Sätze gehört haben, den wahren Glauben wachsen und blühen lassen?“ 

Der Buddha sagt zu Subhuti: „Sprich nicht auf diese Weise! Lange, lange nach den 500 Jahren, nachdem der Weltehrende gegangen ist, wird es die geben, die sich darum sorgen, um die guten buddhistischen Regeln, und um diese Sätze sowie versuchen zum wahren Glauben zu kommen, und darum kämpfen, der Wirklichkeit zu entsprechen. Diese Menschen wachsen nicht nur aus dem Wissen von einem Buddha, von zwei Buddhas, von drei, vier oder fünf Buddhas und ihren ganzem Fundament, sondern  wachsen und gründen in unzähligen Millionen über Millionen von Buddhas; sie hören diese Sätze, und selbst ein einzelner Gedanke hiervon wird den wahren Glauben wachsen lassen können, Subhuti! Der Weltehrende, der alles durchblickt, sieht alle unendlich vielen lebenden Wesen und sieht auch dieses reine Herz/Geist. Wie soll dies gehen? Weil alle lebenden Wessen kein Ich haben, keine feste menschliche Gestalt, kein festgelegtes Verhalten und keiner eine feste Lebensspanne - sie haben kein Dharma, und gleichzeitig haben sie nichts als Dharma. Wie soll dies gehen? Wenn alle lebenden Wesen einen abgegrenztes Herz für sich annehmen, dann führt dies dazu, dass alle lebenden Wesen leben und sterben. Wenn sie nach dem Dharma greifen, bedeutet dies, dass alle lebenden Wesen leben und sterben. Wie sollte dies gehen? Wenn sie nicht nach dem Dharma greifen, bedeutet dies, dass alle lebenden Wesen leben und sterben. Deswegen ist die Antwort nicht das Dharma zu ergreifen (es zu markieren), und nicht nicht das Dharma zu ergreifen (die unmarkierte Seite).“ 

Aus diesem guten Grund, spricht der Weltehrende immer folgendes: „Ihr Mönche, erkennt, dass meine Formulierungen wie ein Floß als Mittel der Erklärung sind; die Antwort ist: Lass das Dharma los und noch vielmehr das Nicht-Dharma.“ 

 

 

Wie und von wem wird die Lehre immer wieder gehört und gelebt? Wie und von wem wird der Stein ins Rollen gebracht? Warum fragt Subhuti danach? Scheint ihm diese Lehre zu schwer, oder vielleicht eher als komplett unverständlich, dass sie immer wieder von Menschen aufgegriffen und befolgt wird? Und was sollte man dann für eine Motivation haben, sich darauf auch mit vollem Herzen einzulassen. Gerade wenn sie kein großes lebendes Vorbild mehr haben wie den Buddha Shakyamuni selbst. Wo es zwar falsch ist, wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, ihn an seiner äußeren Gestalt wahrzunehmen, dennoch wird er etwas äußerst Charisamtisches gehabt habe.  Daher fragt Subhuti  nach dem Sinn der ganzen Lehre und ihrer Zukunft, wenn sie eigentlich alle Menschen zu ihrem Sinn bringen will. Aus einem christlichen Kontext würde man vielleicht sagen, dass Subhuti den Buddha die Frage nach der Kirche hier stellt. 

 

Aber der Buddha ist da optimistisch, denn die Menschen werden immer nach dem Sinn bzw. der Erlösung von Leid und Sinnlosigkeit fragen, oder besser sich aus ihrem tiefsten Inneren danach sehnen (wenn diese Sehnsucht nicht durch etwas anderes dauernd zugekleistert wird… wie dem eigenen Ich). So haben diese Worte auch losgelöst von der lebenden Person Buddha Gültigkeit. Buddha zeigt auf, dass die Wahrheit auch unabhängig vom Weltehrenden besteht und diese auch immer wieder auf ganz neue Weisen verkörpert wird von ihm Nachfolgenden (z.B. Yun-Men, Ma-Tzu, Dogen, Ikkyu). Somit kann sie auch erkannt werden und weitergegeben und immer wieder entdeckt werden. Die Formsetzung und der unmarked space sind immer da, ganz egal, welche Formen man da drauf setzt. Also auch wenn sich die äußere Form ändert (ob das jetzt dieser oder jener Nachfolger ist), und jeder auch unterschiedliche Persönlichkeiten, Zeitumstände und Facetten repräsentiert, bleibt der Kern der Botschaft, der gleiche.  Er wird vielmehr dadurch noch deutlicher, denn es zeigt sich, dass ich nicht der Shakyamuni Buddha werden muss, sondern meine eigene Form der Buddhaschaft erreichen muss. Und dies wird umso plausibler und auch motivierender, wenn ich sehe, dass schon viele vor mir ihren eigenen Weg gefunden haben (die einen haben den Finger gehoben, andere geprügelt und geschrieen, und noch einmal andere 9 Jahre vor einer Wand gesessen und sich die Augenlider abgeschnitten woraus dann die Teepflanze entstanden ist). 

 

Auch wenn die Ausprägungen unterschiedlich, die Wege individuell sind, diese Lehren gründen auf dem gemeinsamen Fundament, auf der geteilten Wahrheit Buddhas. Sie gehen ineinander auf, knüpfen aneinander an, es macht am meisten Sinn, sie nicht für sich alleine zu betrachten, sondern wie Sudhana auf den Weg zu machen, von Lehrer zu Lehrerin. So viele einzelne Stimmen kommen in ihnen zu Wort, und doch sprechen sie erst in ihrer Ganzheit für sich. So macht es auch wenig Sinn nach einem Anfang und einem Ende zu fragen, weil es schlicht und einfach keine Begrenzungen gibt in dieser ständig sich in Ausbreitung begriffenen Wahrheit. 

 

Dabei gründet aber jeder Nachfolger und Nachfolgerin oder alle diversen Nachfolgenden immer auf seinen vielen Vorgängern (siehe Sudhanas Reise), wir sind Riesen weil wir auf den Schultern unserer Vorgänger stehen, d.h. aber, dass wir nie dogmatisch bei ihnen stehen bleiben dürfen, sondern immer selber übersteigen müssen. Dennoch ändert sich nichts an der Wahrheit selbst. Aber es ändert sich immer wieder die Form, weil sie für jede Person immer wieder neu gefunden werden muss und vielleicht auch für jede Lebensphase, aber auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Epochen. Man sieht den Kern der Wahrheit des Buddhas in dem alten, ranzigen Chinesen aus dem 7. Jahrhundert, aber ich muss dieses in ganz andere Weise aufgreifen, als dies vielleicht sein Schüler noch kann. Und selbst sein Schüler wird geschlagen und verstoßen und verstockt, wenn er nur kopiert (dann bekommt er den Finger einfach abgeschnitten). Und wenn ich das einmal erkannt habe, kann ich die Wahrheit in jede meiner Formen mitnehmen, ich kann die Wahrheit überall verherrlichen, und ich sehe, dass das der eigentliche Beitrag ist, den ich hierbei leisten kann. 

 

Und natürlich gibt es Zeiten, wo besonders viele gute Beispiele entstanden sind, wie in China im 6. bis 8. Jhd. oder in der christlichen Kirche in der Patristik. Aber deswegen kann man sie nicht so kopieren, sondern muss immer wieder diesen dynamischen Geist und Aufbruch aufgreifen, anstatt diese dort gefundenen Formen zu konservieren (was oft die Amtskirche zu machen scheint und wo dann Kirche eher wie Karneval aussieht, nur eben ohne Augenzwinkern). 

 

Und jeder, der es versucht wachsen zu lassen, selbst den kleinsten Keim wird vom Buddha gesehen und von allen Buddhas unterstützt auf seinem Weg… und dies geht nur weil alle Wesen kein Ich und keine Form haben, das ist ihr Wesen, was sie aber nicht realisieren aber immer da ist. Damit ist man da, wo alle Buddhas sind, weil es dort "einen" Buddha oder den "anderen" Buddha gar nicht mehr gibt. Und man sich so im ganzen Reichtum und der Überfülle von unzähligen Buddhas und Bodhisattvas befindet, die das Wesen in ihrer Tiefe auf immer neue Weisen realisiert haben. Wie eine Blumenwiese, wo man auch nie müde wird, jede Einzelheit zu bestaunen, ob man es sich als ganze Wiese anschaut, oder jede einzelnen Blume. Und man realisiert, dass jede Blume ähnliche Funktionen auf immer neue Weise realisiert… und diese Variation erzeugt ein unheimliches Gefühl von Schönheit (gr. doxa = Schönheit und Herrlichkeit). Und dabei ist es nicht ein Verharren und ein Bleiben in diesem Reich, sondern gerade dieses immer wieder aufs Neue eintauchen, das Crossen. Das Rein- und Rauszoomen, das spielerische Wechseln der Ebenen. 

 

Aber nur in dieser Überfülle ist ein wahres Leben möglich. Nur in dem die Blume, nicht für sich steht, sondern aufgeht in dieser ganzen Wiese. Hier nur einen kleinen Platz belegt, vielleicht sogar irgendwo in der Mitte der Wiese, wo die Blume nie jemand außer eine Bienen je sehen wird. Und doch gibt diese kleine Blume alles… eigene Form, schöne Farbe, jeden Morgen aufblühen...für (das) Nichts… und dann wird sie abgemäht (vgl. Psalm 103). 

 

In dieser Weise gibt es dann kein Ich mehr der Blume und doch ist sie einzigartig und wenn man sie herausgreifen würde, könnte man ihre Schönheit bewundern, ihre Biologie unendlich erforschen, ihre Heilkraft für den Menschen erkunden und ihre Funktion im ganzen Kosmos entdecken…Aber sie wäre tot. So wie ein aufgespießter Schmetterling in einem Bilderrahmen. Aber zum Glück ist dies alles der Blume scheiß egal. Und gerade so ist sie in ihrem Wesen. Eine Blume bekommt erst dann ein Ich, wenn sie gezüchtet wird… da wird eine bestimmte Vorstellung herangetragen… und ist nicht eine Orchidee mit die langweiligste Pflanze, die man sich vorstellen kann? 

 

Und es gibt immer weitere Bestimmungen, immer noch feinere Ausdifferenzierungen und eigentlich verhaftet dies alles nur an der Oberfläche. Es gleitet immer einen Hauch an der eigentlichen Sache vorbei. Man muss diesen ewigen Kreislauf der Verweise durchstoßen, durchdringen, um an die eigentlichen Dinge heranzukommen. Aber dann ist es einfach nur eine Blume. Sie ist wie sie ist. Und gerade in dieser sinnlosen Herrlichkeit wird das Nichts zugänglich. Es wird dennoch nicht greifbar oder fassbar, aber es zeigt sich der Untergrund, der alles trägt und alles so sein lässt, wie es ist. Diese Blume, die da steht und alles gibt. 

 

Inwiefern hat sie aber auf diese Weise Leben und Tod überwunden? Wenn man über diese Indifferenz im Buddhismus nachdenkt, alles so zunehmen, wie es kommt, ohne große Wertunterscheidung, ob jetzt etwas gut oder schlecht ist, ist es dann das Ziel, eine Pflanze zu werden?! Die hat auch keine Angst vor dem Tod. Aber ist dies überhaupt für einen Menschen möglich. Ist der Zen-Meister in der gleichen Lage wie ein total antriebsloser Arbeitsloser oder Langzeitstudent? (siehe dazu auch den Film „Sit“ von Yoko Okumura). 

 

Denn uns zwingt das Menschsein zum Menschsein, wir sind Geworfen ins Dasein und müssen dies übernehmen und dahinter können wir nicht zurück. Und damit ist auch das Ergebnis niemals das gleiche. Zwar kann das Ergebnis von außen gleich aussehen, aber dennoch vollkommen unterschiedlich sein. Dass der Bodhisattva sich wie eine Pflanze verhält, ist ganz richtig und vielleicht ist es auch wieder eine Annäherung an die Natur, wo der Mensch sich durch seine Kultur und Selbst- oder besser Ich-Kultivierung entfernt hat. Und man die dann (genauso wie der ganze Öko-Gedanke) dies (als re-entry) wieder einholt und hier wieder zurückkommt. Es ist so wie die Nüchternheit vom Rausch und Exzess von der Oma und des Langweilers, diese Nüchternheit ist eine vollkommen andere als von dem, der gefeiert hat bis ans Limit oder der die tiefen Abgründe eine Abhängigkeit durchgemacht hat… alle sind im jetzigen Moment vielleicht nüchtern und dennoch ist es eine vollkommen andere Nüchternheit. Und so vergleichbar steht der Bodhisattva zur Pflanze, die einen haben ihre Seite nie verlassen, die anderen waren auf beiden Seiten und vollziehen und leben dann ein re-entry. 

 

Und vor diesem Hintergrund ist auch die Überwindung von Leben und Tod zu sehen. Auch hier geht es weder darum teilnahmslos zu Verenden, wie eine Pflanze noch ist mit Überwindung eine Unsterblichkeit gemeint, wie durch vulgäre Vorstellungen im Christentum oder im Taoismus, wo es um eine unendliche Fortsetzung des jetzigen Lebens geht (die einen nur im Jenseits, die anderen im Diesseits). Wenn man so auf den Tod und das Jenseits fixiert ist, lebt man ebenso nicht im Jetzt wie die Vergangenheitsmenschen. Man schleppt nur ein Floß mit sich herum. Aber was dann? 

 

Heißt das, ich kann erst begreifen, was das Leben ist, wenn ich weiß, was der Tod ist? Heißt das, ich muss zwangsläufig beide Seiten kennen und kann als Lebende ohnehin nie zu diesem Punkt gelangen? Und dann als Tote aber auch nicht? 

 

Oder heißt das vielmehr, dass ich Leben und Tod als Setzungen begreife (so wie Nüchternheit und Rausch), und erkenne, dass beides ineinander ausfranst, dass die Trennlinien gar nicht so klar sind, wie wir meinen, sie festzusetzen. Ist der Tod nur am Körper feststellbar? Oder gibt es nicht unzählige wandelnde Leichen hier? Deren Körper zwar funktioniert, aber sie eigentlich nur umhergeisternde Hüllen sind, innerlich längst abgestorben oder gar nie am Leben? Heißt das, dass Weisheit auf Erfahrung beruht? Oder gibt es auch unabhängig von Erfahrung Weisheit? Woher kommt die Art, wie ich der Welt begegne? Kann ich auch nüchtern sein, ohne den Vollrausch zu kennen? Bin ich dann zwangsläufig ein Milchbrötchen, eine Oma, etc.? 

 

Heißt das, dass ich erst leben kann, wenn ich gestorben bin? Und wenn ja, wie ist das zu verstehen? Interessant ist, dass dies den Nukleus der Religionen bildet. Es geht bei Religion weniger um Sinnsuche, Moral oder der Sicherstellung von sozialem Zusammenhalt (hier irrt wie so oft Herr Habermas), sondern wie man den Tod ins Leben holt. Zen spricht vom großen Tod sterben, und dies eben nicht am Ende des Lebens, sondern in der Mitte des Lebens, als Höhepunkt und aus voller Kraft (die dafür auch nötig ist), um durch diesen Tod in der Erleuchtung endlich frei und ohne grundlegende Illusionen leben zu können. Ähnlich im Christentum wo der Tod Jesu im Mittelpunkt steht… und unsere Nachfolge und zwar im Leben. Denn Kreuzestod bedeutet auch immer Ich-Aufgabe hier im Diesseits (so kann man etwa auch “Dein Wille geschehe…” lesen). Und der Kreuzestod ist damit etwas vollkommen anderes, als unsere Hoffnung am Ende des Lebens in irgendein Paradies (mit oder ohne Jungfrauen) zu kommen. Sondern ich muss hier im Leben sterben, um hier auf dieser diesseitigen Welt dies Basileia Theou anbrechen zu lassen. 

 

Immer wieder wird der Tod im Leben gestorben bzw. eigentlich viel zu selten wird der Tod im Leben gestorben! Und immer wieder ist es ein geboren werden in eine neue Freiheit. Immer wieder wird der Blick für Wesentliches neu ausgerichtet. Und immer mehr merkt man, dass es da nicht viel Wesentliches gibt, woran man festhalten muss, d.h. die ganzen Werte die wir gesellschaftlich so feiern… es bleibt eigentlich nur Tod und Liebe! 

 

Aber ist dies dann die Überwindung von Leben und Tod, von dem das Sutra spricht? Was ist also zwischen Gleichgültigkeit und Widerstand gegenüber dem Tod/Leben? Was bedeutet Überwindung im Lebensvollzug? Muss ich Leben und Tod überwinden oder die Setzung, die Vorstellung von einem Leben und einem Tod? Mich davon lösen, dass es nicht nur "mich" nicht gibt, sondern dass es überhaupt nichts gibt oder dass es alles gibt, aber es völlig sinnlos ist? So bedeutet Sterben im Leben, dass dieses sich selbst abgrenzende Ich sich immer wieder auflöst. Seine Markierung und damit Abgrenzung immer wieder überschreitet. Denn selbst der physische Tod löst dies alles auf. Der Volksmund sagt, das letzte Hemd hat keine Taschen und in Wien gibt es ein schönes Ritual, was dies auch noch einmal sehr anschaulich macht: die Einlasszeremonie in der Kapuzinergruft. “Der Trauerzug hält vor der verschlossenen Tür der Gruft und ein Herold klopft an die Tür. Darauf fragt einer der Klosterbrüder von drinnen: „Wer begehrt Einlass?“ Der Herold antwortet mit allen zu Lebzeiten der/des Verstorbenen getragenen Titeln. Von drinnen erfolgt allerdings die Antwort „Wir kennen sie/ihn nicht!“. Daraufhin klopft der Herold noch einmal. Wieder wird gefragt „Wer begehrt Einlass?“ Diesmal antwortet der Herold mit der Kurzfassung der Titel. Doch die Antwort ist abermals „Wir kennen sie/ihn nicht!“. Der Herold klopft ein drittes Mal, erneut wird dieselbe Frage gestellt. Nunmehr nennt der Herold nur den Vornamen und fügt „ein sterblicher und sündiger Mensch“ an, woraufhin das Tor geöffnet wird.” Nur dass die Habsburger diese Einsicht auch meist erst als Leichnam zu Teil wurde und nicht im Leben. 

 

Aber was zeigt dieses Beispiel der Habsburger? Die eigentlich Intention ist, dass vor Gott jeder Mensch gleich ist: und zwar gleichzeitig ist er als sündiger Mensch Nichts und gleichzeitig durch Gott unendlich geliebt und damit unendlich Seiend. Dass der König, Star etc. im Grunde ebenso nackt und tot ist, wie der Penner vorm Westbahnhof. Das Sutra könnte mit dem Begriff der Sünde sicher nichts anfangen, mit dem Nichts sicher schon und auch mit dem Verwerflichen des Schlechten. Aber da der Begriff der Sünde fehlt, kennt das Sutra auch nicht die Liebe. 

 

In Bezug auf die Markierung von Dharma und Nicht-Dharma bedeutet dies zunächst eine Aporie, denn es gibt erstmal keine Ausweg daraus, ich muss entweder markieren oder nicht markieren. Dharma wäre daann hier sowohl eine abgegrenzte Lehre vom Buddha, aber auch jede andere Realität, die ich markiert habe. Im Sinne von Spencer Brown wäre das Dharma eine Markierung. Da jede Markierung aber gekreuzt werden kann, ist damit immer Leben und Tod gegeben, da damit jede Markierung endlich und auflösbar ist. Hält man aber am Nicht-Dharma fest, d.h. setzt man keine Markierungen oder setzt diese in einem hochgradigem Maße kontingent und kreuzbar, kommt man trotzdem nicht aus dem Leben und Tod heraus. Während die Person, die an der Markierung hängt, am Leben klebt und nicht verstehe kann oder will, dass zum Leben das Sterben gehört, hält die andere Person am Tod fest und will vor dem Leben flüchten. Mit ersterem sind die meisten Menschen gemeint, die vor dem Tod bibbern, mit letzterem sind die Arhats, christlichen Mönche und Nonnen gemeint, die ihre Transzendenz in der Berghöhle oder Klausur auskosten, aber auch die ganzen Nihilisten, die keinen festen Halt mehr anerkennen und dann von Marilyn Manson bis Raskolnikow reichen. 

 

Beide halten an einer Seite fest und gehen damit in die Irre. Das Oszillieren zwischen Dharma und Nicht-Dharma lässt sich aber gut am Aspekt der birthlessness festmachen (Cook 1977: S. 102ff.). Cook argumentiert im Rahmen des Hua-yen Buddhismus, dass dharmas keine „nature of their own“ haben. Sie haben keine notwendige Herkunft, kein Wesen, das sie aus sich selber nehmen oder definieren können und auch keine eigenständige Existenz. 

 

Dies lässt sich über den Zeitfaktor weiter verdeutlichen. Was nicht geboren worden ist, kann auch nicht sterben, und was geboren worden ist, muss sterben. Mit „birth“ wird ein konkreter Anlass (draw a distinction), ein konkreter Zeitpunkt, ein konkretes „in Erscheinung treten“ von Etwas festgesetzt. Durch Geburt kommt Etwas (eine Markierung) in die Welt, das von anderem auf dieser Welt unterschieden und somit markiert werden kann. Aber durch die Markierung definiert es sich gleichzeitig daraus, was es nicht ist, also dem was es ausschließt (es ist nicht mehr die Mutter, aus der es sich während der Schwangerschaft immer mehr herausentwickelt bzw. immer mehr unterschieden hat und auch nach der Geburt findet dieser Abgrenzungsprozess weiter statt bis zur Pubertät wo es dann oft zu einem Gegeneinander kommt: Ich gegen meine Familie oder besser noch Ich gegen die ganze Welt (bestenfalls ein paar Freunde noch auf meiner Seite)). 

 

Wenn dharmas birthless sind, sind sie nicht der Form (und dabei nicht nur der physischen Form als wahrnehmbare Hülle, sondern auch im Sinne des Formenkalküls als ein zu unterscheidendes Etwas) unterworfen. Sie befinden sich also nicht ewig in der Form der markierten Seiten, sondern ewig sind sie nur als Markierung (oder besser gesagt: außerräumlichen und außerzeitlichen) unmarked space, in die zu jeder Zeit gekreuzt werden kann und zwar in unterschiedlichem Umfang (so kann ich meine Familie verachten, meinen besten Freund wechseln oder mir das Leben nehmen). Dharma ist damit nicht Etwas (d.h. nur die markierte Seite), es ist aber auch nicht Nichts. Es ist notwendig die Unterscheidung von Etwas, das sich von Anderem abgrenzt und dies in der Zeit in ständiger Bewegung eines Kreuzens dieser Grenzen stattfindet, also ein äußerst dynamischer Prozess ist, der auch durch alle anderen Akteure durch ihr Kreuzen beeinflusst wird (denn auch mein bester Freund kann sich entscheiden, dass ich nicht mehr sein bester Freund bin). Und damit ist eine Stabilität durch Zerfall gegeben. Setzt man den Zeitfaktor aus, so ist nur noch Zerfall, eine Art Dauerkrise (Krise auch von seiner Wortbedeutung als Unterscheidung verstanden), ist damit die Grundlage, die kein ewiges Etwas als Grundlage hat, was bewahrt werden kann oder muss (d.h. Grundlage eines konservativen Denkens), sondern das kreuzen als grundlegenden Akt versteht, aber in der Zeit und dies im doppelten Sinne: d.h. Zeit lässt notwendig immer wieder die Formen zerfallen bzw. kreuzen und erzeugt durch dieses Kreuzen eine Geschichte, in der jedes neue Kreuzen steht. 

 

Wird aber die immer gegebene Möglichkeit des Kreuzens mitgedacht, zeigt sich dass alle Dharmas keine Selbständigkeit besitzen (svabhava), sie haben kein festen und beständigen Wesenskern, sondern sind immer nur durch ein Verweisungsgeflecht definiert, was durch Kreuzen immer in Bewegung ist. Deswegen ist jedes Dharma Leerheit, so wie jede Form auch der unmarked space ist… eine oszilierende Paradoxie. Und dies stellt auch der zentrale Satz dess Herzsutra fests: “Shelizi, Form ist nicht getrennt vom unmarked space, unmarked space ist nicht getrennt von Form. Form ist unmarked space, unmarked space ist Form.” Damit verdeckt die Form zwar notwendigerweise den unmarked space, ist aber nie von diesem unterschieden und kann in jedem Moment wieder dort hinein kreuzen. Damit widersprechen Form und Leere sich auch nicht, auch wenn Form die Leere negiert und Leere die Form. Dadurch dass wir geboren worden sind, bleibt uns nichts über als hier in Raum und Zeit zu existieren und Unterscheidungen zu treffen. Wir kommen nur durch ständiges Kreuzen an ein Verständnis, eine Ahnung von unmarked space. 

 

Weiter ist diese Nicht-Selbständigkeit bzw. dieses fehlen eines festen, beständigen Wesenskern auch dadurch negiert, dass neben dem kreuzen in den unmarked space auch die unmarked states Veränderungen bewirken. So versteht Fa-tsang alle Realität mit dem Huayen als Interdependenz: so versteht er "emptiness is a relationship between entities". Also nicht nur, dass sich Entities untereinander dialektisch aufeinander beziehen, emptiness strukturiert auch noch die Entities untereinander (das der Huayen eher paradox als dialektisch denkt siehe auch das spannende Buch von Obert (2000) oder im christlichen Kontext die Debatte zwischen Milbank und Zizek (2009)). Also eine relationship/Beziehung/Unterscheidung ist im grundlegenden Sinne eine Verbindung. Verbunden werden kann nur etwas, das getrennt bzw. unterschieden ist. Die Entitäten sind also getrennte/unterschiedene Einheiten, die über die emptiness verbunden und aufeinander bezogen werden. Dies zeigt aber gleichzeitig auch auf, dass da überhaupt eine Trennung/Unterscheidung besteht. Denn das Einzelne  kann nur voneinander getrennte Entitäten sein, wenn diese aber gleichzeitig nicht für sich bestehen, sondern sich nur in ihrer Unterschiedenheit und Bezogenheit auf andere Entitäten definieren und nur durch ihre Bezogenheit Selbständigkeit erlangen und nicht durch sich selbst. 

 

Durch die Verbindung bekommen sie eine Anordnung, ein Muster, die Verbindung regelt, welchen Platz sie haben, zeigt an, wie viel und was für ein Abstand eigentlich unter den Entitäten ist und wie sie sich durch dieses Netz definieren. Welche nahe beieinander liegen, welche sich ferner sind. Die Verbindung macht dieses Gefüge erst möglich, indem sie die losen Entitäten anordnet. Sie aber gleichzeitig fixiert und starr macht. Dadurch aber auch erst ein kreuzen möglich macht, denn über etwas flüssiges, fluides, ohne klare Trennung und ohne klaren Ort kann ich nicht hinüberkreuzen. Ich brauch ein Ufer um ins und aus dem Wasser zu steigen. Ich brauche eine Verbindung, um die Trennung zu spüren und in weiterer Folge zu kreuzen und überwinden zu können. Ein Punk braucht Regeln, die er brechen und gegen die er aufbegehren kann und Regeln, die ihn als Punk erkennbar machen (ein Anzug oder H+M-Pullover sind strikt verboten, außer sie werden ironisch gebrochen wieder als Abgrenzung mit einbezogen). Der Punk ist sozusagen der Karneval im Dauerzustand für die Gesellschaft. Sowie aber auch die Gesellschaft einen Dauerkarneval für den Punk darstellt. Und auch innerhalb der Punkszene unterscheiden sich wieder verschiedene Formen, sie bilden sich automatisch heraus: Bin ich ein Oi!-Punk, ein Hardcorepunk, ein Straight-Edge-Punk usw. 

 

Und ich brauche die emptiness um die Form wahrzunehmen. Aber dies ist nicht der unmarked space, sondern dies ist die unmarkierte Seite, die jede Unterscheidung erst Form ermöglicht. Der Untergrund und Hintergrund der markierten Seite "emptiness is a relationship between entities". Durch jedes Kreuzen verändert also nicht nur die markierte Seite, sondern auch das Gesamtgeflecht, dieses ganzen Gefüges. Jedes Kreuzen bringt mir eine zusätzliche Erfahrung bzw. Differenzierung meiner Erfahrungen, die sich wiederum darauf auswirkt, wie ich die Welt sehe, mich in der Welt sehe etc., also diese Verweisungsketten hängen untereinander zusammen und jede Erfahrung wirkt sich gleich auf alles aus, nicht nur auf eines. Auch wenn man es nicht sofort merkt und dies erst später sehen kann oder durch andere darauf hingewiesen werden muss (vgl. Inferenzen bei Brandom 1994). 

 

Alles in der Welt besteht nicht für sich, hat seinen Grund nicht in sich, sondern ist durch eine doppelte Leere bestimmt. Es ist in sich leer und es ist leer – also grundlos – in seiner eigenen abgegrenzten Existenz. Und diese Leere ist nicht weit weg, nicht in an einem fernen Ort oder zu einer fernen Zeit (also wenn man irgendwann mal Erleuchtung erlangt oder in den Himmel gelangt). Sonden in jedem Akt und jedem Moment ist sie da. Zum einen ist jede Markierung nur in Abgrenzung zu dem was sie ausschließt (also zu den unmarked states) und definiert sich darüber und wird auch passiv darüber definiert (man kann Apfel und Birne unterscheiden und es kann klar sein, dass es sich um Obst handelt, dann kommt der nächste und legt eine Zucchini dazu und sagt: passt doch, sind alle grün, so wird die Unterscheidung von außen neu geframed, worauf man dann entsprechend reagieren muss). Aber eine Bedeutung ruht damit nie in sich selbst, sondern ist immer leer indem sie von den unmarked states ihren Sinn erhält. 

 

Die zweite Leere liegt dann einfach in der Möglichkeit überhaupt, Unterscheidungen zu treffen: im unmarked space. Und dies wahrzunehmen ist vielleicht, das Selbstverständlichste, aber auch das Unwahrscheinlichste. Denn in der Regel ist man sich dessen nicht bewusst. Am ehesten nimmt man dies über die Angst vor dem Tod war, wo auf einmal das Unterscheidungsvermögen genommen wird und man in die Leere, die unfassbare, schauen muss. In domestizierter Form findet man dies dagegen im großen Tod des Buddhismus (sunyata, kensho), in der Unsterblichkeit des Taoismus, im Kreuzestod Jesu und in der Philosophie im Satz vom Grunde: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? 

 

Alle führen zu einem Leben, das genau aus dieser Leere lebt, aus dieser Freiheit lebt, nicht mehr an etwas festhält, sondern nur noch staunt, was passiert, was man geschenkt bekommt… geschenkt ohne Verdienst, ohne das man dafür etwas getan hätte und ohne dass man sich dies auf die Fahne als Verdienst schreiben kann. Das Leben im totalen Widerspruch zu dem was wir heute so leben: Ich kann und brauche nichts leisten (bekomme keine Noten und keine Beförderung), werde einfach nur beschenkt, unverdient… und darf einfach nur staunen und wenn man dann an diesen Punkt kommt, wo man erkennt, dass man aus dieser Leere unendlich schöpfen kann. Dass ich einfach nur sein darf. 

 

Und mit diesem Verständnis hält man weder an der Unterscheidung noch an der Leere alles Seins fest, sondern feiert die Mitte zwischen beiden, feierte diese freie Bewegung und diesen Tanz zwischen beiden Seiten, feiert quasi die analogia entis, wo sich wie in einer Fuge von Bach, beide Melodien in ihrer Eigenständigkeit umspielen, aber immer in ihrem eigenen Bereich bleiben, sich nicht vereinigen, aber sich gegenseitig definieren, und fordern und fördern. “Wenn sie nach dem Nicht-Dharma greifen, bedeutet dies, dass alle lebenden Wesen leben und sterben. Deswegen ist die Antwort nicht das Dharma zu ergreifen (es zu markieren), und nicht das Nicht-Dharma zu ergreifen (die unmarkierte Seite).“” 

 

Aus diesem guten Grund, spricht der Weltehrende folgendes: „Ihr Mönche, erkennt, dass meine Formulierungen wie ein Floß als Mittel der Erklärung sind; die Antwort ist: Lass das Dharma los und noch vielmehr das Nicht-Dharma.“ Das Floß kann man wegwerfen, wenn man es benutzt hat… und es spielt auf den Fluss an (etwa aus dem Herz-Sutra) und auf dass Überwinden von Leben und Tod. Das Floß war wichtig und nützlich, aber es ist genauso wichtig zum richtigen Augenblick wieder loslassen, da es sonst schädlich oder zum Ballast werden kann. So viele Menschen schleppen Altlasten mit sich rum. Seien es Dinge, von denen sie sich nicht trennen wollen und die ihnen aber eigentlich nur mehr Scherereien machen und ihnen den Platz zum Leben wegnehmen, seien es quälende Erinnerungen oder Schuldgefühle, von denen sie sich nicht loslösen können oder seien es Menschen, die vielleicht mal in einer anderen Lebensphase wichtig waren und gut taten, man sich nun aber nur mehr gegenseitig im Weg steht. 

 

Der springende Punkt ist das Erkennen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, loszulassen. Und auch wenn ich eine Freundin des Öko-Gedanken bin, man muss nicht alles recyceln im Leben. Man muss nicht seine Vergangenheit in der Gegenwart mit rumschleppen, man muss auch aus dem Floß kein Brennholz machen, wenn man eh nicht vor hat, Feuer zu machen. Man kann es einfach freigeben. Und dadurch wird man selber frei. Und das Floß wird nicht mehr als Ding, als Objekt, gesehen, sondern einfach nur als Teil des Schwimmens und Überquerens des Flusses. 

 

Das Floß ist nach dem Buddha seine eigene Lehre. Sie ist ein Werkzeug, was man benutzen soll. Der Hammer soll nicht angebetet werden, sondern benutzt werden, um damit etwas herzustellen. Wenn man dann eine Säge braucht, soll man den Hammer weglegen und nicht versuchen damit weiterzumachen. 

 

Wenn ich durstig bin und die ganze Zeit nach einem Glas Ausschau halte, werde ich vor der sprudelnden Quelle verdursten. Dabei hätte ich anstelle des Glases einfach nur meine Hände nehmen können oder direkt aus der Quelle saufen. Versessenheit auf die Form des Werkzeugs und nicht auf dessen Zweck und Ziel und Sinn. 

 

Oft erscheinen aber Glaubensinhalte als Dogmatik genau so verwendet zu werden. So ist der Sündenbegriff sicherlich nicht so verwendet worden, wie dies oft die Kirche tut, als moralisierendes Erziehungsinstrument. Sondern die Sünden war ein Werkzeug zur Befreiung. Lehraussagen müssen damit auf ihr Ziel hin beurteilt werden und nicht für sich. Der Hammer kann ganz toll sein, wenn ich mit dem Hammer aber einen Baumast absägen möchte, entsteht dadurch nur Zerstörung. Und das Ziel von Religion ist nicht Zerstörung (von Menschen), sondern Freiheit für alle Menschen und lebenden Wesen zu eröffnen. 



7. Nichts zu erreichen, nichts weiterzugeben


“Subhuti, was meinst du? Hat der Tathagata die vollkommene Erleuchtung erfahren? Und vermag er dies auszudrücken?” 

Subhuti antwortet: “Wenn ich die wahre buddhistische Lehre richtig verstehe, gibt es kein allgemeines Verständnis für die vollkommene Erleuchtung und keinen festen Weg, diese Erleuchtung zu erlangen, und damit auch nichts, worüber der Tathagata sprechen könnte. Wie kann das sein? Die Lehre des Tathagata kann weder durch Taten noch Worte ausgedrückt werden [ohne dass sie ihrer Einzigartigkeit beraubt wird].  Es ist weder  Dharma noch Nicht-Dharma. Was bedeutet dies? Alle großen Heiligen lassen die Dinge bedingungslos ihren jeweiligen Lauf nehmen und entsprechen in ihrer Unterschiedlichkeit den ihnen aufgegebenen Gesetzmäßigkeiten.” 

 

Der Buddha fragt Subhuti, ob er glaubt, dass er die letzte, höchste Stufe der Erleuchtung erlangt hat und ob er diese ausdrücken kann oder besser andere auch dorthin führen kann. Er testet Subhuti also wieder, ob er die Lehre als Manual versteht, die einfach übertragen werden kann. 

 

Aber Subhuti antwortet richtig bzw. hat die richtige Haltung hierzu. Denn es gibt keine feste Dogmatik und keine Gebrauchsanweisung für das Leben. Jede allgemeine Gebrauchsanweisung ist von vornherein falsch. Und dann kommt relativ unvermittelt der Satz: weder Dharma noch Nicht-Dharma. Haut hier Subhuti dann nicht doch einen Satz der Dogmatik raus? Sagt man dies, liegt man schon mal richtig. Oder was hat dies hier zu bedeuten? Aber es passt auch auf die Lehre und Vermittlung: denn die Lehre (d.h. Dharma in diesem Fall) ist zwar keine fixe Dogmatik (also kein Dharma), aber sie ist deswegen auch nicht Nichts, sie ist kein vulgärer Nihilismus oder anything/k goes (also auch kein Nicht-Dharma). T’ung-li weist genau darauf hin: „If we say he realizes or teaches something, we fall into the view of idealism. If we say he does not realize or teach anything, we disappear into the view of nihilism.“ (Red Pine 2001: 132) Und  Nan Huai-Chin: „There is no set Buddha’s Dharma; and to have this idea is also wrong. It is not ‚not-Dharma.‘ The Buddha doesn’t profess nihilism. To think so is a misconception.“ (Nan 2001: 102) 

 

Sondern es ist schon ein sehr konkreter Ruf, der sich zwar individuell ausgestaltet, aber deswegen nicht beliebig ist und für die Person frei wählbar wäre, was ihr gerade passt oder angenehm ist. Es ist vielmehr ein Anspruch, der oft auch unbequem und herausfordernd sein kann. Die Frage, die dahinter steht, ist: „In becoming a Buddha, attaining the Tao, does one actually gain anything?“ (Nan 2001: 101) Dies ist durchaus eine hochambivalente Frage, die hier genau in dieser Ambivalenz zur Debatte steht. Denn man gewinnt nichts Konkretes dadurch, noch ist das Erreichen von etwas das Ziel, sondern eher das Ankommen oder das Entdecken (ganz im griechischen Sinn von αλήθεια), von dem, was eigentlich schon da ist. 

 

Huineng greift hier das Verständnis auf, dass es sich bei der buddhistischen Lehre nicht um situationsunabhängige Dogmatik handelt, sondern um konkret angepasste Medizin. „Medicine is prescribed according to the illness, teaching is given according to situational applicability - how could there be any fixed doctrine?“ (Cleary 2001c: 104) Aber was muss hier geheilt werden bzw. was muss hier erreicht werden? Das erreichen ist vielmehr ein Loslassen, um erst zu dem durchzudringen, was in unserer Tiefe schon da ist. Plakativ gesagt, muss beispielsweise dem Depressiven gezeigt werden, dass er im Kern ein wundervoller und einzigartiger Mensch ist und werden kann - dies ist alles schon da. Er wird nur durch seine verdeckenden Vorstellung daran gehindert dies zu sehen und zu leben. Und dem selbstverliebten Egomanen muss gezeigt werden, dass er ein normaler Mensch wie jeder andere ist, und gerade deswegen wundervoll ist und er es eigentlich nicht nötig hat, sich immer nach vorne zu tun, weil dies Kraft kostet, dieses Bedürfnis nie gesättigt wird, es im Grunde lächerlich ist und auch die Welt auf Kosten von Schwächeren kaputt macht. Dies zeigt schon, dass die Menschen in den verblendenden Vorstellungen sehr unterschiedlich sind. Weitgehend gleich sind sie darin, dass sie ihr einfaches Sosein verdecken - und hier oszilliert dann das Erreichen, dass nichts erreicht werden muss. So Huineng weiter: „In the unexcelled true teaching of the Realized One, the mind fundamentally has no attainment, and yet it is not said not to attain. It is just because people’s perceptions are not the same that the Realized One adapts to their faculties with various expedient methods to induce them to detach from their obsessions. He points out that the wandering minds of all ordinary beings fluctuate unceasingly, acting in pursuit of objects. Of the momentary arising of the preceding thought, the succeeding thought should be aware: since the awareness does not abide, the view does not remain either. That being so, how could there be a fixed doctrine for the Realized One to expound?“ (Cleary 2001c: 104f.) 

 

Und in diesem Sinne sind die Heiligen auch Beispiele hierfür. Denn oft haben Heilige nicht ein „easy going“-Leben, sondern folgen oft einer sehr unbequemen Sendung und müssen in dieser Sendung immer mehr ihr Ich und ihre eigenen Vorstellungen und Pläne aufgeben. Oft sind unerwartete Wendungen drin und nicht alles bequem und sie sitzen nicht immer unter einem Blumenregen. Selbst Jesus ist ein gutes Beispiel, der ja auch kein Leben hat, was zu einem Religionsgründer passt und wo am Kreuz auch erstmal sein Selbstverständnis zerbricht. Die Heiligen folgen einem Ruf, der nur ihnen gilt… der weder allgemein vorgegeben und übertragbar ist, noch ist er dem Belieben des Jeweiligen überlassen: d.h. weder Dharma noch Nicht-Dharma. 

 

Und trotzdem brauchen wir genau diese Bodhisattvas und eben nicht die Arhats. Denn hier geht es nicht um Bestätigung oder ob Erleuchtung an äußeren Umständen abzulesen ist, ob es (An-)zeichen dafür gibt, Beweise, Worte oder Taten. Aber es bestätigt sich in einer Person und in dem was diese Person tut. Ein Maler oder Koch ist hier ein gutes Beispiel. Sie sind mit den Heiligen auf eine bestimmte Art vergleichbar. Man muss einem Maler oder Koch auf der Straße gar nicht seine Kunst ansehen. Und doch gibt es immer einige wenige vollendete Maler und Köche, viele die sich auf dem Weg dorthin machen und viele die einfach nur die Rezepte oder Anleitung nachkochen oder nachmalen. Und die wahren Köche oder Maler verwirklichen sich nicht darin, dass sie Kochbücher schreiben, sondern gute Mahlzeiten kochen bzw. dass sie keine ästhetische Theorie aufstellen, sondern ansprechende Kunstwerke schaffen. Hier ist Alltag und Gegenständlichkeit ganz eng mit einem Überstieg verbunden. „Where then is the Buddha Dharma to be found? Not necessarily in the sutras. Worldly affairs can be the Buddha Dharma. The Diamond Sutra is telling you that practicing Dharma, practicing Buddhism and everyday life are an inseparable whole. There is no such thing as a worldly versus spiritual dichotomy.“ (Nan 2001: 102) 

 

In ähnlicher Weise lassen sich auch die Heiligen verstehen, auch wenn dies heute ein sehr sperriger Begriff ist und sich heute wohl kaum ein Heiliger finden lässt, der sich selber so nennen würde (siehe für zeitgenössische Beispiele Leighton 2012). Aber auch jeder Maler, jeder Koch und jeder Heiliger muss sein Handwerk erst erlernen, dann dem eigenen Ruf hören und ihm folgen. Jeder Meister war selbst einmal Schüler, hat(te) Vorbilder und Inspiration aus äußeren Einflüssen gezogen, diese angewandt und für sich in seiner Art adaptiert. Der Asiate oder die Russin, die durch unglaublich viel Disziplin Sonaten von Beethoven spielen, sind damit kein Beethoven, sondern nur eine hohle Wiederholung, die oft auch eine Computersimulation ersetzen kann. Auf das gleiche würde es hinauslaufen, wenn der Buddha konkret für alle gesagt hätte, was zu tun ist, um jeweils ein sinnvolles, gelingendes Leben zu führen. 

 

Auf der anderen Seite ist der Buddhismus aber auch ganz offen, was die unterschiedlichen Lebensweisen der Menschen betrifft, solange sie nicht einem selbstgesetzten Idealbild hinterherlaufen, wie dies die russischen und asiatischen Musik-Karrierschmieden sind. Jegliches Verhalten, auch die Irr- und Abwege, das Gefallensein ist sinnvoll. „If it encourages any kind of virtuous behavior, it is affirmed. Whether it be an Immortal, a saint, an arhat,  a Bodhisattva, or whoever, the differences among them are due to their varying depths of understanding of the Tao. The Tao of Jesus, the Tao of Buddha, the Tao of Mohammed, the Tao of Confucius, the Tao of Lao-tzu  - which one is actually the Tao? Which Tao is bigger? Which is smaller? Actually, the truth is singular.“ (Nan 2001: 102) Und auch aus der Perspektive Christentums kann man eigentlich auch hier anknüpfen, was zunächst recht ungewöhnlich erscheint, aber Rahners „Anonymen Christen“ zielen in eine ähnliche Richtung genauso wie Balthasars Rehabiltationsversuch der Apokatastasis, mit der Grundaussage, das die Hölle leer ist. 

 

Das einzige worum es geht, ist dass man nicht in eigenen Bildern gefangen bleibt, so sagt Subhuti „Alle großen Heiligen lassen die Dinge bedingungslos ihren jeweiligen Lauf nehmen und entsprechen in ihrer Unterschiedlichkeit den ihnen aufgegebenen Gesetzmäßigkeiten.“ Es diese von uns uncreated truth, auf die wir uns einlassen müssen, um heilig zu werden. Hierzu schreibt Huineng: „The uncreated truth expounded by Buddha is non-dwelling. Non-dwelling is formless, formlessness has no origin; what has no origination has no destruction. Clear, free, empty, and silent, perception and action equally enlightend, mirror like awareness unobstructed - this is trully the liberated buddha-nature.“ (Cleary 2001c: 105) 

 

Aber ist dies überhaupt leistbar, kann dies ein Mensch erreichen? Das Avatamsaka-Sutra erkennt diese Unmöglichkeit und setzt diese für die Bodhisattvas auch als Ziel: 

 

„All meditations, liberations, and concentrations,
 Defiled and pure, of countless kinds,
 They want to know all-entry, abiding, and exit; 

Therefore do enlightening beings arouse their aspiration. 

 

According to the sharpness or dullness of beings' faculties, 

So are their powers of effort also various;
 Wanting to understand and know them all distinctly,
 Do enlightening beings therefore arouse determination. 

 

Sentient beings have various understandings
 And their mental inclinations arc each different: 

Wanting to know all these innumerable inclinations 

Do enlightening beings therefore arouse their will. 

 

The realms of sentient beings arc each different;
 There is no measure to all the worlds there are: 

Wanting to know completely their substance and nature 

Do enlightening beings rouse their aspiration.“ (Cleary 1993: 390) 

 

Und hier steht dann ein weiteres Paradox, denn es ist nicht nur „weder  Dharma noch Nicht-Dharma“, sondern auch ich muss mit größter Entschlossenheit alles tun, obwohl ich eigentlich nichts tun kann. Darin wird die tiefste Ohnmacht erfahrbar - und genau da muss das Ego des Menschen hin. „Buddhist books and Taoist sutras often discuss this phase of meditation by using riddles or other inscrutable statements. The idea seems to be that it is not necessary to describe it clearly, since a deity is expected to appear to instruct those who reach this level of attainment.“ (Nan 2008: 128f., vgl. auch die Ausführungen zur Liebe bei Job 12) 

8. Geboren, um zum eigenen Dharma aufzubrechen


“Subhuti, was meinst du? Wenn ein Mensch über die sieben Schätze des Kosmos verfügt und diese alle als Almosen einsetzt, ist dieser Mensch dadurch mit sehr großer Fülle und Ruhe gesegnet?” 

Subhuti antwortet: “Sehr, Weltehrender! Wie kann das sein? Aber diese Fülle, ist eine andere Fülle, als die gesegnet  Fülle, von der der Tathagata spricht.” 

“Wenn dagegen jemand dieses Sutra empfängt, diese lebt/verwirklicht/praktiziert und dadurch weitergibt, auch wenn es nur die vier Verse eines Stanzas sind, übersteigt diese Segnung dies noch. Wie kann das sein? Subhuti! Alle Buddhas entsprechen allen anderen Buddhas in ihrer vollkommenen Erleuchtung, denn alle kommen aus diesem Sutra. Subhuti! Was als Buddhismus benannt wird, ist nicht annähernd realisierter Buddhismus.” 

 

M. aus dem 6. Bezirk fragt: „T. aus Sülz, was meinst du? Wenn ein Sülzer vegane Fairtrade Bioschokolade kauft und sich besser als die Kalker vorkommt, weil diese nur Billigschokolade essen, ist er dadurch ein guter, ökologischer Erdenbewohner?"  

T. aus Sülz antwortet: "Das ist er, M. aus dem 6. Bezirk! Wie kann dies aber sein, fragst du dich zurecht! Er ist vielleicht ein guter ökologischer Mensch, aber ohne Komma! Ein Guter Mensch ist da aber etwas anderes, denn der hat den Tathagata dabei im Blick, und nicht nur sein Image oder das Weltklima.” 

M. aus dem 6. Bezirk sagt: "Na, eh. Schau, wir versuchen äußere Maßstäbe auf innere Haltungen zu legen. Das ist doch genau das, was zu nichts führt.“ 

T. aus Sülz antwortet: „Aber, wenn jemand beispielsweise ökologisch vernünftig handelt, ist dies vom Prinzip ein besseres Leben als, wenn dies jemand nicht tut. Denn es dient nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern hilft die Umwelt zu schützen, was vielen Mitmenschen jetzt und in der Zukunft zu gute kommt. Deswegen ist es zu loben, wenn er so handelt. 

Dies ist also grundsätzlich ein besseres Leben, auch wenn einige sich dies mehr oder weniger leisten können, oder sie haben zwar die Mittel dafür, aber es fehlen etwa die Bildung und Reflexion dazu oder auch das man sich entsprechend verhalten könnte von seinen Mitteln, aber einfach nur durchgängig verblendet ist durch sein eigenes Ich (etwa wenn der Rennfahrer M. aus K. vor seinem Sturz überlegt, ob er mit seiner Familie überlegt, mal kurz heute nach Dubai zu fliegen, weil der Schnee heute zum Skifahren schlecht ist: er hätte die Mittel ökologisch zu leben, er hätte die Zeit, sich entsprechend zu informieren… er scheint vielmehr verstellt von einem selbstgefälligen Ich und geringer Bildung, d.h. einem so flachen Ich, was eh schon die Solidarität verweigert in dem es Steuern in der Schweiz sparen möchte). 

Ähnlich verblendet wie Rennfahrer M. aus K. ist aber auch der Sülzer, wenn er dies nur aus Imagegründen macht. Aber jemand der aus einer inneren ökologischen Haltung lebt, indem er nicht nur sich, sondern sich in seiner Umwelt als gleichberechtigte Teile wahrnimmt (und nicht verächtlich auf den Kalker schaut) und diese Haltung weitergibt, dann wird das gleiche Verhalten zu einem guten Menschen führen. Wie kann das sein, fragst du ungläubige Wienerin wohl? Und kann dies nicht auch der Kalker, der versucht ein bewusstes Leben zu führen nicht genauso gut wie ein Sülzer, auch wenn das Verhalten einen total unterschiedlichen ökologischen Fußabdruck erzeugt? Was gutes Verhalten genannt wird, ist noch nicht annähernd gut. Der Punkt ist, dass die innere Haltung das Ausschlaggebende ist und nicht allein die äußeren Taten, nur dass diese innere Haltung nicht allgemein definiert werden kann, sondern von jedem Menschen selber in jeder Situation gefunden werden muss und auf seinen Ruf hören muss… und damit auch nichts, worüber der Tathagata sprechen könnte.“ 

M. aus dem 6. Bezirk: „Nah eh!“ 

 

Natürlich ist es nicht schlecht, wenn man mit materiellen Mitteln dazu beiträgt die Welt für allen Menschen zu einer besseren zu machen. An dem Resultat ändert die innere Haltung des Gebenden erstmal gar nichts. Und natürlich ist es ein unumgängliches Ziel, dass alle Menschen über das Existenzminimum gehoben werden. Aber was ist mit dem Fahrstuhl-Effekt von U. Beck? Ist eine solche sozialdemokratische Forderung zu loben? Oder eher die Grenzen des Wachstums aufzeigen? Und wird da nicht auch die Grenze des materiellen Wachstums deutlich? 

Denn bei mehr Kohle würde niemand nein sagen, vom Banker bis zum Heiligen… nur das der Banker die Kohle für sein kleines Ich braucht und der Heilige für ein Krankenhaus im Sudan. Aber selbst ein Krankenhaus zerfällt irgendwann und erzeugt immer neue Erwartungen, an Behandlungsweisen, die noch möglich wären. Deswegen bringen materielle Almosen Segen… aber eben nur in bestimmten Grenzen. 

 

Wenn jemand dagegen dieses Sutra (oder auch jedes andere Sutra oder auch etwa das Evangelium oder den Kategorischen Imperativ, denn sie sprechen alle vom gleichen) weitergibt, so hat er damit so unendlich mehr getan, als ein materieller Spender. Denn ein durch das Sutra erleuchteter lebt sein eigenes Leben eingepasst in die Welt, ohne verblendete Projektionen und damit echter und wahrer. Und in diesem Fall auch ökologischer, weil in die Umwelt mitfühlend eingepasst. 

 

Aber darüber hinaus ist es auch eine größere Hilfe für die Menschen, anstatt eine materielle Hilfe. Denn eine Mahlzeit ist schnell verbraucht, eine Einsicht und Wissen dagegen besteht für immer. So dass es wichtiger ist, den Menschen das Sutra zu bringen als Brot, denn „der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ (5. Mose, 8,3). Aber dies ist immer ein schmaler Grat zwischen Brot und Mission. Gerade wenn Brot eingesetzt wird, um ein Dogma zu oktroyieren. Aber dies ist weniger ein Problem von Sutra und Evangelium, sondern von den Ausführenden. 

 

Deswegen ist Spenden und materiell Bedürftige zu unterstützen zwar sehr wichtig, aber es ist nicht das letzte Ziel, bei dem man stehen bleiben darf. Deswegen ist immer ein Überstieg nötig. Der Buddha treibt hier an, was so wenig mit der Ruhe zu tun hat, was ein westliches Verständnis des Buddhismus in den Wellnesoasen immer suggeriert. Vielmehr ist es ein Pilgern, dass nirgends zur Ruhe kommt und immer wieder ins Unerreichbare aufbricht. Der Laie Yen Ping hat dies auf den Punkt gebracht, was einem Spencer Brown sicher gut gefallen hätte: „Whatever the Buddha says, he negates.“ (Red Pine 2001: 154) 

 

So ist von jedem Menschen erstmal gefordert, und dahinter steht auch der Buddha, sich um eine materielle Grundsicherung aller Menschen zu kümmern. Aber dann muss man fortschreiten, das Almosengeben negieren bzw. besser aufheben und auch Einsicht und geistige Befreiung ermöglichen - für sich selbst und für andere. Und in unserer aktuellen Gesellschaft scheint dies tatsächlich kaum noch etwas wert zu sein: Buddhismus gehört eigentlich nur ins Spa, oder dient dazu, dass man durch Meditation oder selbst dem Aufenthalt in einem christlichen Kloster besser im Job oder im Leben performed. Und leider lassen Verkaufszahlen von Bücher auch keinen anderen Schluss zu. Meine griechische Ausgabe des neuen Testamentes, die weltweit die Standardausgabe ist (Nestle-Aland), hatte auch 10 Jahre nach ihrem Erscheinen dieser Ausgabe die fortlaufende Nr. 5155, d.h. pro Monat interessieren sich 40 Menschen von knapp 8 Milliarden dafür und kaufen sich eine Ausgabe. 

 

„Learning from a teacher is called ‚accepting,‘ understanding the meaning and putting it into practice is called ‚holding.‘ Understanding for oneself and acting on it is self-help; explaining to people is helping others. The merit in this is so great it has no bounds.“ (Cleary 2001c: 106) Huineng würde uns vermutlich zurufen: Es gibt also noch viel zu tun, also erstmal unsere materielle Unterstützung der Entwicklungszusammenarbeit an das versprochene Niveau endlich auch mal zu leisten und dann vielleicht auch mal bei uns selber zu beginnen und Sutra, Neues Testament oder Kant zu lesen. Aber „whatever the Buddha says, he negates.“ So schreibt Huineng weiter, indem er den Vers „Was als Buddhismus benannt wird, ist nicht annähernd realisierter Buddhismus“ kommentiert Folgendes: „All verbal and literarg expressions are like labels, like pointing Fingers. Labels and pointers mean shadows and echoes. You obtain a commodity by its label, and you see the moon by way of the pointing finger - the moon is not the finger, the label is not the thing itself. Just get the teaching by way of the sutra - the sutra is not the teaching. The sutra literature is visible to the physical eye, but the teaching is visible to the eye of insight. Without the eye of insight, you just see the literature, not the teaching. If you do not understand what Buddha meant, the reciting sutras won’t produce buddhahood.“ (Cleary 2001c: 107) 

 

Damit ist auch das Studium der Sutras kein Ruhepunkt, sondern auch wieder Überstieg. Und selbst ein Buddhismus der aus Einsicht lebt, ist kein Halte- oder Ruhepunkt. So führt Nan Huai-Ching zu diesem Kapitel des Diamant-Sutra noch Linji an: „When Master Lin-chi had his awakening, he said, ‚Oh, so true Buddhism is nothing more than this whit after all.‘ In modern terms, whit means ‚speck.‘ Buddhism really isn’t much more than this little speck.“ (Nan 2001: 110f.) 

 

Jiedi, Jiedie… (Herz-Sutra) 

9. Form setzen… Form aufheben 

“Subhuti, was meinst du? Denken die, die dem Fluß der Vergänglichkeit entsprechen: “Wow, ich entspreche dem Fluss der Vergänglichkeit?””

Subhuti spricht: “Nein, Weltehrender! Wie kann das sein? Denn der, der dem Fluss der Vergänglichkeit entspricht, nimmt das Entsprechen selbst nicht wahr, weil es kein Festhalten an Empfänglichkeit, Konstrukt, Praktik, begriffliches Wissen mehr gibt, somit auch kein Festhalten am “Entsprechen dem Fluss der Vergänglichkeit”.


“Subhuti, was meinst du? Denken die, die nur noch ein einziges Mal wiederkehren: “Wow, ich werde nur noch ein einziges Mal wiederkehren?””

Subhuti spricht: “Nein, Weltehrender! Wie kann das sein? Denn der, der nur ein einziges Mal wiederkehren wird, nimmt das Wiederkehren selbst nicht wahr: Weil es kein Festhalten am nur noch einmal Wiedergeboren werden gibt.


“Subhuti, was meinst du? Denken die, die gar nicht wiederkehren: “Wow, ich kehre gar  nicht wieder?””

Subhuti spricht: “Nein, Weltehrender! Wie kann das sein? Denn der, der gar nicht wiederkehrt, nimmt das gar nicht Wiederkehren nicht wahr: Weil es kein Festhalten am nicht Wiederkehren gibt.


“Subhuti, was meinst du? Denken die, die Arhatschaft erlangt haben: “Wow, ich bin auf dem Weg des Arhats!”?

Subhuti spricht: “Nein, Weltehrender! Wie kann das sein? Denn der, der die Arhatschaft erlangt hat, nimmt seine Arhatschaft nicht wahr: Weil es kein Festhalten an der Arhatschaft gibt, da er sonst wieder an Empfänglichkeit, Konstrukt, Praktik, begriffliches Wissen hängen würde. Weltehrender, selbst wenn der Buddha sagt, dass ich erreicht habe das unbestrittene Samadhi, und da am weitesten unter den Menschen bin und unter den Arhats, führend darin die Sehnsüchte hinter sich gelassen zu haben - selbst da habe ich nicht den Gedanken: wow, ich bin auf dem Weg des Arhats! Wenn ich den Gedanken hätte ‚Wow, ich bin auf dem Weg des Arhats!’, der Weltehrende würde nicht sagen, dass Subhuti aus der Bindung in Ruhe und Stille leben würde. Dass Subhuti mental an nichts festhält, nennt man aus der Ruhe und Stille leben.“



In diesem Abschnitt werden die Erleuchtungsstufen des Hinanyana-Buddhismus bis zum Arhat beschrieben, die durch das Mahayana nicht überflüssig werden, sondern mit als erste Etappen zum Pilgerweg gehören. Hier gibt es keine Abkürzungen. Die erste Stufe der Erleuchtung ist in den Fluß der Vergänglichkeit steigen und diesen in seinem Wesen „wahrzunehmen“. So ist für den historischen Siddhartha das Durchschreiten des Flusses eine wichtige Etappe zu seiner vollen Erleuchtung. So verlässt er die Höhle, in der versucht hat, durch Askese zur Erleuchtung zu kommen und überquert den Fluss, um auf der anderen Seite unter dem Bodhi-Baum Erleuchtung zu erlangen (Jiedie… Jiedie…).


Während er in der Askese noch versucht hat, durch asketischen Willen Erleuchtung herbeizuzwingen, steht er nun im Fluss und realisiert, wie der Wasserstrom an ihm vorbeizieht. Er realisiert, dass er selber diesen Strom nicht stoppen kann. Genauso kann man diesen heutigen Tag nicht stoppen und auch nicht festhalten. Alles Schöne und Schreckliche, was heute passiert, jeder Tod bzw. jede Geburt, findet heute, je in diesem Augenblick statt… morgen ist er schon begraben und übermorgen vergessen bzw. morgen ist der Säugling schon ein junger Mann und übermorgen ein Alter, der sich an seine Geburt nicht mehr erinnern kann und diese vielleicht sogar verflucht. 


Siddhartha realisiert seine Ohnmacht, dass er nichts festhalten kann, und lässt den Fluss fließen. Denn er kann noch nicht einmal Augenblicke für sich selbst festhalten, denn auch wenn er versucht, nur einen kleinen Teil des Wassers zu bewahren, rinnt er ihm durch die Finger oder er ist eine Zeit paralysiert, weil er nur auf die Bewahrung dieses Tropfens aus ist und nichts anderes mehr machen kann. Vielleicht bleibt er dann in dem Fluß stehen und lässt sich einfach nur von diesem Fließen mitnehmen… so wie wenn man ins Feuer oder aufs offen Meer schaut und man einfach nur dem Spiel folgt, wie eine Flame durch die nächste Flame abgelöst wird und eine Welle auf die nächste folgt… und man erst nachdenkt, aber dann nur noch schaut und gar nicht mehr denkt. Vielleicht kommt Siddhartha noch eine abgerissene Lotusblüte entgegen geschwommen, er freut sich, dass er diese nun wirklich festhalten kann und in ihrer Schönheit bewundern kann, bis ihm auffällt, dass diese auch bald verblüht sein wird… und lässt sie wieder weiter schwimmen.


An dem Punkt wo Siddhartha dort steht und nur noch den Fluß in seiner Vergänglichkeit fließen lässt, ohne Trauer und Wehmut, einfach nur den Fluß fließen lässt, aufhört nachzudenken über die Vergänglichkeit, sondern nur noch der Fluß fließt…. fließt er irgendwann nur noch mit dem Fluß, selbstvergessen mit. Dies ist ein Teil der ersten Erleuchtungsstufe.


Aber hier ist der Buddha uns eigentlich nicht weit voraus, denn ähnliche Zustände wie solche Flow-Erlebnisse kennt fast jeder, sei es am Feuer oder Meer, im Kino oder Festival, durch Drogen oder Sex, Karriere, Naturerlebnisse, Sport und Esoterik. Es gibt viele Varianten, wie man sich selbst vergessen kann, und die eines gemein haben, dass sie meist von Außen bewirkt werden und immer nur zeitlich begrenzt sind… es sind manchmal kurze oder längere Auszeiten oder ein Kurzurlaub vom Ich, aber das Ich bleibt bestehen und kommt wieder. So sind im Rausch alle Menschen Freunde und man vögelt mit dem, mit dem man sonst nie sprechen würde… und genau hier beginnt dann erst der richtige Rausch! Nur dass man sich danach dafür schämt… wenn man darüber lachen kann, ist man schon einen Schritt weiter. Wenn man sich dagegen noch nicht mal zu einem Exzess traut, ist man dagegen noch tiefer in sich verkapselt. Wenn sich Sonntagmorgen der Kirchgänger und der Partygänger begegnen, könnte man hier fragen, wer näher der Erleuchtung steht…


Aber oft kommt der Rausch oder auch die anderen Flow-Erlebnisse gar nicht so sehr aus blanker Lebensfreude und der Vollheit des Lebens, sondern sollen vielmehr einen Abgrund verdecken - aber einen Abgrund den sie gleichzeitig immer auch aufreißen. Im Rausch holen wir uns die Welt nahe, es fallen die Barrieren, die uns von anderen und der Welt trennen. Weil wir oft eben genau das Gegenteil erfahren, nämlich, dass sich uns die Welt entzieht. Dass wir alleingelassen mit unserem Ego dastehen. Dies ist was Heidegger mit der Langeweile analysiert hat oder mit der Angst (Heidegger 1983: 117ff.; resp. 1993: 184ff.). Im beiden entzieht sich dem Menschen die Welt in ihrer Vorhandenheit. Das gleiche passiert in der Trauer oder bei Liebeskummer. Die Welt entzieht sich, zerfällt, wird nicht mehr greifbar. Nur während dies bei der Angst und der Langeweile eher Momente sind, ist dies hier ein Zustand der andauern kann und zu einer Grundstimmung wird - aber der Rausch kann dies nur kurzfristig verdecken, er kann dieser Grundstimmung aber nicht auf Augenhöhe adäquat begegnen.


Vor diesen Abgrund des Entzugs, flüchten die meisten Menschen mit aller Kraft ihr ganzes Leben lang, immer wieder aufs Neue mit einem komplexen Medikamentenmix aus den verschiedensten Rauschzuständen. Deswegen wird man in diesem Zustand siebenmal wieder geboren, bis man realisiert hat, worum es bei diesen Zustände geht und den Mut und die Kraft hat, diese als Grundbefindlichkeit zu realisieren. Aber genau dieser Abgrund ist einzige unverdeckte Realität (die frühen Griechen haben dies dies in einem tiefen Sinn αλήθειεα genannt). Und auch Seng-Chao schreibt zur ersten Stufe: „When people oppose what is real, we find form and sound. When we turn away from form and sound, we meet what is real. But to meet what is real is to find nothing.“ (zit. nach Red Pine 2001: 160) 


Immer tiefer in dieses Nichts gehalten zu sein bzw. bewusst in diesem Nichts zu bleiben, dass ist die Aufgabe auf dieser ersten Stufe. Allerdings passiert dies kaum oder nur sehr langsam. Die Scham des Rausches wird schnell vergessen oder mit dem nächsten Rausch weggesoffen. Der Liebeskummer wird durch den nächsten Lebenspartner ersetzt. Die Trauer um das gestorbene Kind verdrängt, durch das „Projekt“ des nächsten Kindes. Dabei ist dies auch nicht grundsätzlich falsch, denn man kann nicht sein ganzes Leben der ersten Liebe hinterhertrauern und sich davon lähmen lassen. Und doch wird jedesmal etwas sehr Tiefes abgeschnitten und dadurch verdrängt. Aber im Inneren merkt man auch, das man mit einigen Ereignissen eben nie abschließen kann. Denn wenn man sich einmal wirklich geöffnet hat, kann man später diese Tür nicht wieder schließen. Man hat sich verschenkt und ein Geschenk kann man nicht wieder zurückholen - es bleibt bei dem, dem man es geschenkt hat. Und manchmal schenkt man nur wenig und bedacht, ein anderes Mal rückhaltlos und aus vollen Händen.


Diese Ambivalenz wird sehr eindrucksvoll in einer Episode in dem Film „Night on Earth“ von Jim Jarmusch (1992) deutlich. In Helsinki steigen am frühen Morgen drei volltrunkene Männer in ein Taxi. Sie erzählen dem Taxifahrer, dass ihr pennender Kumpel vor dem Nichts steht, weil sich seine Frau getrennt hat und er seinen Job verloren hat. Kompensiert wird dieses Nichts hier erstmal mit Alkohol-Rausch und Solidarität der Kumpel. Nachdem der Taxifahrer sich nicht sofort ebenso mitleidig solidarisiert, sind sie empört. Daraufhin erzählt der Taxifahrer ihnen, dass er vor einem Jahr Vater geworden ist, nachdem sie lange darauf gewartet haben, dass seine Frau endlich schwanger wird. Allerdings kam das Kind zur früh zur Welt und war sehr schwach und sah aus wie eine Erdnuss. Im Krankenhaus hat man ihnen keine Hoffnung gemacht, dass das Kind überleben würde, so dass er beschlossen hat, dass Kind gar nicht erst zu lieben, weil es eh nicht bei ihnen bleiben würde. Das Kind war aber zäh, denn es überlebte die erste und auch die nächste Woche. So dachte sich der Vater, wenn das Kind so kämpft, dann braucht es alle Unterstützung, die es kriegen kann und er beschloss es mit ganzen Herzen anzunehmen und zu lieben - in der nächsten Nacht ist das Kind gestorben.


Jetzt kann man sagen, dass man Leid immer mit größeren Leid relativieren kann und auch ihm vorhalten, was ist mit den Kindern und deren Familien, die durch unsere Faulheit jeden Tag verhungern und die einfach gerettet werden könnten. Dies ist leider die Interpretation, die die Kumpels mitnehmen und ihren Kumpel am Ende der Fahrt als Jammerlappen bezeichnen. Aber liegt in dieser Geschichte nicht noch eine ganz andere Pointe? Nämlich muss man den Taxifahrer jetzt bedauern, dass er sich letztlich mit Liebe auf dieses Kind eingelassen hat, obwohl es nichts gebracht hat, außer dass er viel tiefer verletzt wurde, als wenn er weiter indifferent gegenüber dem Kind geblieben wäre? Sollte man sich eher Lebensabschnittspartner als passende Dekoration für jede Lebensphase suchen, als sich auf eine Liebe einzulassen, die verbrennen, zerstören und vernichten kann?


Aus einer buddhistischen Perspektive wäre die Indifferenz eigentlich zu raten, da eh alles leer ist und man sich an nichts binden soll. Ob Lebensabschnittspartner oder große Liebe, beide vergehen, manchmal schneller, manchmal erst nach vielen Jahren und manche erfüllen sich erst nach einem ganze Leben (wie beim Rotter-Andrä und der Kantner-Lena in der Piefkesaga). Also warum sich darauf einlassen? Und  warum dann nicht eigentlich direkt in das nächste Abenteuer schmeißen zur Ablenkung? Eine wirkliche Antwort eines Zen-Meisters wäre wahrscheinlich auch hier paradox: Lass dich mit ganzem Herzen auf den Exzess ein, und vor allem auf die Liebe und den Tod! Und lebe danach in einem Abschied weiter, aber ohne dich davon abzulenken und zu vergessen, weil du dich dann nur selber verleugnest.


Diese Paradoxie des Abschiedsschmerzes und Erleuchtung soll am Beispiel von Dongshan Liangjie (洞山良价, 807-869) weiter ausgeführt werden. Seine ersten Schritte im Zen sind uns schon bei der Diskussion des Herz-Sutra und der Diskussion seiner fünf Stufen begegnet. Dongshan verbringt erst lange Zeit bei dem großen Meister Guishan Lingyou (溈山靈祐, 771-853), aber selbst bei ihm findet er nicht zur vollen Erleuchtung. Guishan schickt ihn also weiter zu Meister Yunyan Tansheng (雲巖曇晟, 780-841) der unvergesslich bleibt durch seine Verbindung zu Guanyin und dem nächtlichen Suchen nach dem Kopfkissen (Dogen 2013a: 230ff.)). Zwar bringt ihn Yunyan auch ein ganzes Stück weiter, aber letztlich muss Dongshan gegenüber Yunyan bekennen (siehe hierfür die Beschreibung im Denkoroku (Cleary 2001d: 165f.)): „Ich habe immer noch einen Rest, an dem ich hänge und was bisher auch noch nicht aufgehoben worden ist. Was kann ich tun, mein wirkliches Sein zu sehen?“ Yunyan antwortet darauf: „Frag den Boten (Engel) in dir selbst!“ Dongshan antwortet: „Ich frage ihn gerade!“ Yunyan darauf: „Was sagt er dir?“ Bezeichnenderweise führt das Denkoroku dies nicht mehr aus, vermutlich weil die Botschaft eh nur für Dongshan ist und nicht für Yunyan und noch weniger für uns. Hier wird lediglich vermerkt, dass er danach Abschied von Yunyan nimmt.


In der Sammlung „Fingerzeige zum Mond“ (Holstein 1993; vgl. auch Nan 1993: 243ff.) findet sich aber noch dieser Abschied beschrieben: Yunyan fragt ihn beim Abschied: „Wohin gehst du nun?“ Dongshan antwortet: „Auch wenn ich dich, Meister, nun verlasse, weiß ich noch nicht wohin ich gehen werde.“ Yunyan fragt weiter: „Gehst du zurück in deine Heimat? Wenn nicht, wirst du dann früher oder später wieder hier hin zurückkehren?“  Dongshan darauf: „Meister, wenn hier ein Platz für mich ist, werde ich kommen!“ Yunyan erwidert: „Nach diesem Abschied, wird es schwer sein, dass man sich wieder begegnet!“ Darauf Dongshan zurück: „Es wird schwer sein, dass wir uns nicht in jedem Augenblick begegnen!!!“


Was passiert also hier bei diesem Abschied? Dongshan bricht auf, ohne zu wissen wohin. Aber vielleicht war der Aufbruch genau die Botschaft auf die er aus seinem Inneren hören sollte und die uns oben verschwiegen wurde. Vielleicht ist seine Pilgerreise noch nicht abgeschlossen. Daraufhin deutet auch Yunyans Nachfrage, ob er wieder in seine Heimat zurückkehrt. Und beide spüren, dass es diese Heimat nicht mehr gibt und dass sein Zuhause eher bei Yunyan als in seinem Geburtsort ist. Und Yunyan bietet ihm genau dies als Rückkehr daraufhin an. Dongshan stimmt dem sofort zu, wenn denn sein Platz wieder hier ist - aber in diesem Moment ist er erstmal herausgerufen in die Pilgerschaft. Und man spürt mit jeder Wendung des Gesprächs wie schwer den beiden Meistern dieser Abschied fällt (und beide gehören zu den größten Meistern, die die klassische Tang-Zeit hervorgebracht hat). Yunyan gibt zu bedenken, dass es nach diesem Abschied schwer werden wird, dass man sich wieder begegnet. Denn beiden ist klar, dass dieser Abschied tief in ihr Leben einschneiden wird, dass er sie verletzt und teilweise amputiert zurücklassen wird. Aber direkt in der nächsten Wendung zeigt Dongshan wie viel der Meister ihm schon geschenkt hat, wie viel vom Meister schon in ihm ist, dass er dem Meister die Antwort gibt, die er sich eigentlich selber geben müsste. Andererseits auch nicht sich selber geben kann, weil er Dongshan genau dafür braucht: als Gegengewicht, als Spiegel, als Interaktion… aber das ist alles noch zu starr, er braucht ihn als Spielpartner, als Tänzer, als Liebenden… als Analogia Entis.


So erwidert Dongshan ihm, dass es schwer sein wird, dass sie sich nicht an in jedem Moment immer und immer wieder begegnen werden. Der japanische Zen-Meister Shūhō Myōchō (宗峰妙超 1283-1338 bzw. auch bekannt als Daitō Kokushi (大燈國師) hat hierfür die schöne Formulierung gefunden: „separated for an eternity yet not separated for an instant“ (zit. nach Hase 2011: 787). Alles was er betrachtet und was ihm begegnen wird, wird er gleichzeitig auch mit den Augen des Meister betrachten und diese Art von Begegnung wird von Dauer sein. Der Ort ihrer Begegnung wird deswegen ein Chronotopos sein, der lebt und eben dadurch nicht vergeht. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Chronotopos sowohl Chronos als auch Topos ist. Er verfügt über Oberflächen und Tiefen, Ausdehnungen und Dauern, Stadien und Zonen, Stillstände und Bewegungen, Reflexionen und Abgründe. Zugänglich wird er durch Erinnerungen, durch Praktiken, Dinge, Räume oder Erzählungen. Er durchdringt alle Ebenen. Das macht ihn zu einer außerordentlich stabilen und konstanten Sache, zugleich ist er aber auch sehr verletzlich: Denn ändert sich eine seiner Komponenten, ändert sich das gesamte Gefüge. Wir denken, fühlen und handeln nach wie vor chronotopisch. Lediglich die Form hat sich verändert, die Geschichten finden Ausdruck über neue Handlungen, neue Gegenstände, neue Worte.


Und in diesem Chronotopos werden sich die beiden immer wieder begegnen. Ihr gemeinsamer Ort ist eben nicht ein bestimmter Tempel, sondern der Chronotopos ist ihre gemeinsame Pilgerreise wo jeder seinen festen und wichtigen Platz behält im Leben des anderen. Und hier begegnen sie sich lebendig. Nicht nur als „Erinnerung“ oder als ein totes Souvenir aus einem netten Wochenendausflug, sondern sie kultivieren es weiter, leben und tanzen aus dieser Analogia Entis weiter und es wächst in seiner eigenwilligen Form - ganz lebendig und so gar nicht tot. Ein wucherndes Deleuze-Rhizom (Deleuze / Guattari 1977) und nicht ein steriles Gesamtpaket, was als eine abgeschlossene Lehre und Erinnerung mitgenommen und aufbewahrt würde. Ihre Begegnungen werden wie die Wolken sein, die sich vielleicht mal kurz verziehen oder sich zu Dunst oder Nebel oder dunklen Gewitterschwaden verändern, aber trotzdem immer in irgendeiner Gestalt vorhanden sind. Ihre Geschichten werden nach wie vor weitererzählt, nur eben anders. 


Die Geschichte der beiden ist mit diesem Abschied nicht zu Ende. In der Koan-Sammlung Cong Rong Lu, wird dieser Abschied auch noch einmal im Rückblick aufgegriffen. Und der Zen-Meister  Wanshi, der hier die Koans einführt, greift genau diesen Aspekte der fortlaufenden Geschichte auf, obwohl in der geschilderten Begegnung Yunyan bereits gestorben ist: „Willst du es zeichnen, lässt es sich nicht ausführen; willst du es malen, lässt es sich nicht vollenden.“ (Roloff 2008: 246) Hier also der ganze 49. Zugang (eigene Übersetzung):


Als Dongshan Opfer vor dem Bild von Yunyan darbrachte, erzählte er die Geschichte seitdem er dem Meister unablässig begegnet. Denn es kam ein Mönch zu ihm und sagte: „Als Yunyan sagte ‚So halt!’ (只这是), was meinte er damit?“

Dongshan sagte: „Ich habe damals die Absicht meines Meisters fast nicht mitbekommen!“

Der Mönch fragte: „War sich Yunyan dem denn so sicher?“

Dongshan sagte: „Wenn er nicht wusste, dass es dies gibt, wie konnte er dann so etwas sagen? Und wenn er es gewusst hat, wie hätte er wagen können, dies auszusprechen?“


Dongshan steht also wahrscheinlich Jahre nach dem Tod von Yunyan an seinem Bild (was im Chinesischen hier ein Wortspiel mit Bild und Realität ist) und bringt ein Opfer dar, indem er etwa ein Stück Palo Santo anzündet und ganz ungreifbar, aber dafür umso präsenter sein Lehrer da ist. Auf den ersten Blick sieht es aus, wie das Ausführen von toten Erinnerungen. Aber jeder Mönch kennt die Geschichte ihres Abschiedes, da Dongshan sie schon oft erzählt hat und das unter der toten Erinnerungen-Zeremonie sich erst das eigentliche ereignet. „He retold the story about depicting reality - Each time you bring it up it’s new.“ (Cleary 1998: 208) Denn immer aufs Neue begegnen sich hier Dongshan und Yunyan ganz nahe und intim einander.


Denn Dongshan hat als letztes Yunyan beim Abschied gefragt, was er sagen soll, wenn ihn jemand fragt, wie sein Meister denn gewesen wäre. Darauf antwortete Yunyan nur: „So halt!“ (Ein alter Tiroler Bergbauer hätte vermutlich einfach nur sehr passend mit „Soa!“ Übersetzt). Und ergänzte kurz, dass dies aber allein in der Verantwortung von Dongshan liegen würde ihn so zu behalten. Betrübt verliess Dongshan daraufhin Yunyan. Als er dann durch einen Fluß watete, sah er seine eigenes Spiegelbild im Wasser und hatte seine erste tiefe Erleuchtung. Daraufhin verfasste er den folgenden Vers (eigene Übersetzung):


Versuche nicht einem Bild zu entsprechen,

Ansonsten entfremdest du dich von dir.

Ich gehe nun alleine weiter,

Überall begegne ich diesem „So“,

Nur jetzt bin ich dieses „So“,

Nur jetzt ist er nicht vor Ort im „So“,

Man muss es so verstehen,

Denn nur auf diese Weise findet man ins Sein.


Aber was ist hier passiert? Dongshan verlässt seinen Meister, ohne zu verstehen, was er ihm mitgegeben hat. Was soll dies schon heißen, „So halt!“? Es ist eben gar nichts mehr so, wie es gewesen ist und es wird nie mehr so sein. Er ist weggegangen von seinem Meister und irrt jetzt ohne ein konkretes Ziel umher, voller Schmerz und Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit Yunyan. Der Meister hätte wenigstens ganz buddhistische sagen können, dass alles vergänglich ist und auch ihre Zeit nur eine Episode in ihrem Leben unter anderen Episoden gewesen ist - und man nicht daran festhalten darf, sondern sie bestenfalls manchmal dankbar erinnern kann. Aber das hat er nicht und für Dongshan würde sich eine solche These zwar kognitiv richtig und wahrscheinlich auch pragmatisch ratsam anhören - aber letztlich fühlt sie sich Falsch an. „So halt!“, dieser Satz bohrt in Dongshan auf seinem Weg wie ein hua-t’ou (話頭禪, vgl. Nan 1986: 2ff.), den er aber nicht durchdringt, der ihn aber anspricht und ein Gefühl in ihm auslöst, dass darin etwas Richtiges liegt.


Als er durch einen Fluß geht, sieht er im Wasser sein Gesicht gespiegelt. „So halt!“ Und er sieht in sein Gesicht, aber sieht sein Gesicht so wie Yunyan ihn angeschaut hat: unendlich liebend und ihn ganz in seiner Person annehmend! …סֶלָה… Sela!


Aber diese Liebe, die Dongshan hier wahrnimmt, ist etwas, was viel tiefer als eine romantische Liebe geht (vgl. dazu Luhmann 1982). Sie kann den Zugang hierzu schaffen, muss aber einen Sprung darüber hinaus vollziehen. Heidegger beschreibt dies folgendermaßen: „Nur die wahrhaft Einsamen vermögen die Liebe. Denn sie sind die Er-eigneten und der Eigensucht enthoben und der Eitelkeit. Sie kennen nicht die »Eigenliebe«. Nimm diese aus deiner Liebe weg und du weißt, ob du liebst. Der Unterschied der Eigenliebe und der »Eitelkeit« - sich im Spiegel der Anderen sehen. ! das Warten und Erwarten !“ (Heidegger 2013: 804)

Wie sich die Liebe von der Eigenliebe „reinigt“ lässt sich sehr gut bei Shunryu Suzuki zeigen, der ebenfalls die Erleuchtungsdynamik bei Dongshan in dieser Szene in ähnlicher Weise beschreibt: „Actually, you are in the river. You may say that is just a shadow or a reflection of yourself, but if you look carefully with warm-hearted feeling, that is you. You may think your are very warm-hearted, but when you try to understand how warm, you cannot actually measure. Yet when you see yourself with a warm feeling in the mirror or the water, that is actually you. And whatever you do, you are there.“ (Suzuki 2002: 78) Aber Suzuki drückt sich hier nicht ganz deutlich aus, denn ein warmherziger Blick auf einen Selbst kann auch das größte Hindernis sein, indem das eigene Ich blind macht und nun nur das eigene eingebildete Bild von sich selbst sieht. 


Suzuki und Yunyan sind sicher keine Apostel von Instagram, Facebook und einem esoterischen Wellness-Zen, der das eigene Ich feiert. Denn was Dongshan sieht, ist nicht direkt sein eigener Blick, sondern der liebende und warmherzige Blick von Yunyan auf ihn. Denn Yunyan kann ihn viel besser sehen, weil objektiv liebevoll, als er sich selber. Dies ist zwar auch ein Blick, der ihn bestätigt, in dem wie er ist, aber gleichzeitig auch eine Herausforderung darstellt, sich immer wieder zu übersteigen, sich in dem Blick von Yunyan an ihm zu reiben, mit ihm zu kämpfen und immer wieder aufs neue durchzubrechen. Und nichts anderes erzählen die meisten Interaktionen in den Koans.


Dongshan wird von dem Mönch auch gefragt, warum er überhaupt Yunyan feiert und erinnert, und nicht Baizhang Huaihai  (百丈懷海, 720-814) oder Nanquan Puyuan (南泉普願, 749-835), bei denen er viel länger gelebt und vor allem inhaltlich gelernt hat. Denn bei Yuanyan hat er keine Lehre „mitgenommen“, sondern nur diesen liebenden und warmherzigen Blick. Und diesen Blick auf sich selber, hätte er sich niemals selber geben können, dies wäre nur die Bestätigung eines eitlen Egos gewesen. Diesen Blick hat er sich schenken lassen müssen von Yunyan. Und dieser Blick von Yunyan wird für ihn bleiben, sein ganzes Leben. Und nicht als Erinnerung an schöne, alte Zeiten, sondern immer wieder neu, immer wieder anders, immer wieder neu aufbrechend, weil er durch Yunyan immer wieder erst sich selbst zu Gesicht bekommt. Und so wird Yunyan immer Dongshan zutiefst nahe sein, auch wenn er weiterziehen musste und selbst als Yunyan schon längst tot war.


Und auch Suzuki macht im weiteren darauf aufmerksam, dass man sich dies nicht selber geben kann, sondern das es der Blick jemand anderes auf einen selbst ist. „When you do something with a warm-hearted feeling, Manjushri, the Bodhisattva of wisdom, is there, and there is the true you. You don’t have to wonder where Manjushri is or what he is doing. When you do things with your warm-hearted mind, that is actual practice. That is how to take care of things, that is how to communicate with people.“ (Suzuki 2002: 78f.) Aber in der Regel startet man nicht mit einer solch innigen und intimen Beziehung zu dem allmächtigen Bodhisattva der Weisheit, sondern eher wie Dongshan mit seinem Meister. Aber in einer Liebesbeziehung zwischen zwei ganz „normalen“ Menschen  kann genau das gleiche beginnen. Aber eben nicht, wenn sich zwei Ichs begegnen, dich sich in ihren Selbstbildern auf Instagram strategisch ausgewählt haben zur Selbstbestätigung und auch kein Milchbrötchen was auf seinen Analogkäse trifft. Aber manchmal ereignet es sich dann eben doch in einer Liebesbeziehung, was beide nicht planen können, was man sich quasi schenken lässt und was dann alles weit übersteigt, was man sich je hat vorstellen können und dann in welcher Form auch immer ein ganz anderes Leben beginnen lässt und einen ganz anderen Blick eröffnet…“when the source is deep the flow is long.“ (Cleary 1998: 208)


Was hiermit gemeint ist, drückt sehr eindringlich ein Gedicht von zwei sehr großen und eigenwilligen Liebenden aus Wien aus:


liegen, bei dir


ich liege bei dir. deine arme

halten mich. deine arme

halten mehr als ich bin.

deine arme halten, was ich bin

wenn ich bei dir liege und

deine arme mich halten.


(Jandl 1985: 626)


Auch hier wird dieses Dynamik beschrieben, dass Frederike viel mehr vom Ernst in den Armen hält, als Ernst selber in sich sieht: Eben durch ihren liebenden Blick, den Ernst alleine und für sich gar nicht so auf sich anwenden kann, bevor er Frederike trifft (die er auf einem sehr schönen Foto mal als seine Lebensfreundin bezeichnet hat). Aber genau durch diese Umarmung und diesen Blick wird er selber zu diesem Mehr und ist am Ende dieser Umarmung, mehr als er vorher war und auch mehr und anders als er sich jemals hätte selber träumen oder vorstellen konnte. Und diesen Blick wird er nicht mehr verlieren.


Gleichzeitig schneidet hier der Abschied noch viel tiefer… „ich habe gehört, wie die Stimme des Vogels UNTERGEHT in einem EGALEN Busch, weil ich die Augen nicht mehr hatte dafür, lauter EGALE Büsche und Zweige und Stauden und das EGALE Mundöffnen der Passanten und das EGALE Sprechen der Freunde und das EGALE Zirpen von Weltfülle - alles EGAL,  hatte nicht Augen noch Ohren für Ding und Wort und Bild und Strauch und Buch und Blume, und dann die Verlegenheit der anderen, die einen trösten wollen, und sage ihnen ich habe 1 Leid […] aber vielleicht ist es so, daß man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann und vermutlich die Antworten erwarten darf. Einer einstmals so stürmischen Aura, nicht wahr. Jetzt gestammelt gehimmelt, und weltweit. […] Deformation hat stattgefunden, Samuel Beckett, schwer und gefährlich, wir sind nicht nur müder wegen gestern, wir sind anders, nicht mehr, was wir waren vor dem Verhängnis des gestern. Es ist so 1 UNGLÜCK es ist 1 UNGLÜCK, ich schreie, werfe die Teekanne auf den Tisch, schreie NEIN NEIN, er war ganz beige er war ganz beige.“ (Mayröcker 2001: 10f.; 13; 17) Aber auch wenn es ein anhaltendes Gespräch gibt, was fruchtbar ist und vorwärts treibt, es ist gebaut auf einem Abgrund, einem Riss, einer Sehnsucht…


Nun werden die meisten Liebesbeziehungen nicht dort hinkommen, weil beide Liebenden in ihrem Ich und ihrer Einsamkeit verharren. Und das Sutra gibt dem Menschen sieben Leben hierfür (d.h. man bekommt hierfür etwa 560 Jahre Zeit!), um sich auf eine solche Liebe vorzubereiten und diese zu suchen. Aber selbst wenn sich dies einmal ereignet, ist es noch nicht sicher, ob es sich auch in aller Tiefe ereignet, d.h. als einem Ereignis, was in die Tiefe des Sutras öffnet. So hat eine solche innige Beziehung wohl zwischen Yunyan und Dongshan bestanden, aber Dongshan erlangt keine tiefe Erleuchtung in der Zeit ihres Zusammenseins. Und er versteht auch den Hinweis seines Meisters beim Abschied zunächst nicht: „Ich habe damals die Absicht meines Meisters fast nicht mitbekommen.“ Denn es muss erst auf der weiteren Pilgerschaft in ihm bohren, bis er realisiert, was zwischen ihm und Yunyan sich ereignet hat. Aber den ersten und vielleicht schwierigsten Sprung hat Dongshan auf der ersten Stufe der Erlösung schon genommen.


Die zweite Stufe ist die, wo man nur noch einmal wiedergeborgen wird. Auch sie nehmen es nicht wahr, dass sie nur noch einmal geboren werden. Die Chinesen gehen davon aus, dass dies oft auch die Sternenkinder sind, die in diesem Stadium sind. Also Menschen, die sich in den vorherigen Leben weitgehend im Strom gereinigt haben, dass sie alles indifferent auf sich zukommen lassen, aber nichts mehr versuchen festzuhalten und so gereinigt in einer letzten Wiedergeburt nur noch kurz auf dieser Welt verweilen und sie dann schnell ganz loslassen können und sterben - entweder bereits im Mutterleib oder dann schnell in den ersten Kinderjahren (vgl. Nan 2001: 123f.).

Für die Hinterbliebenen der gestorbenen Kinder eröffnet dies durchaus eine interessante und wirklich tröstliche Perspektive. Während im Christentum die gestorbenen Kinder eher im Limbus „gelagert“ wurden, als die vollen Qualen in der Hölle zu durchleiden, versucht man heute dies noch etwas positiver zu wenden und diese als Sternenkinder zu bezeichnen, was ein schönes Wort ist, woran aber vermutlich nun wirklich niemand ernsthaft glauben kann. Die buddhistische Perspektive vermeidet aber, dass es bei den verstorbenen Kindern darum geht, dass etwas zu früh abgebrochen wurde und das ein Leben verweigert und weggenommen wurde. Sondern gerade dieses kurze Leben ist Vollendung, in dem es das noch einmal kurze Aufleuchten ist, von jemanden, der in seinen vorherigen Leben schon viel erlebt, erlitten und erreicht hat im Strom der Vergänglichkeit. Dem Sternenkind ist damit nicht sein Leben verweigert, sondern es hatte dieses schon bzw. sogar schon sieben Leben und führt dies jetzt nur noch kurz zur Vollendung. Und es steht ihm darüberhinaus sogar noch ein letztes ganz befreites Leben auf der nächsten Stufe bevor.

Aber die zweite Stufe der Erleuchtung ist nicht nur ein Trost für Hinterbliebene, sondern auch Orientierung für die Pilgernden und sich selbst. Denn es verweist darauf, dass die Indifferenz des Buddhismus keine Stumpfheit darstellt. Auch wenn bestimmte Interpreten diese Perspektive auch stützen, wenn die zweite Stufe mit Holzfiguren verglichen wird, die seelenlos und emotionslos wie Roboter einherwandeln (vgl. hierzu auch Needham 1956: 70ff.). Nein es sind Kinder, die nun genau das Gegenteil von Robotern sind. Die vollkommen ohnmächtig sind, nichts geleistet haben. Die allein durch ihr Dasein unendlich umsorgt werden, umsonst und beschenkt. Genau diese Haltung hat der Pilger auf der zweiten Stufe. Und dann kann die kernlose Frucht der letzten Wiedergeburt unendlich süß sein und der Augenblick und die Ewigkeit kollabieren ineinander, die Frucht wird gegessen, egal ob sie klein oder groß ist, und es bleibt nichts zurück, keine Bitterkeit durch die Kerne (d.h. weiteren Wiedergeburten) trübt dieses Genießen, bis die ganze Frucht verschwunden ist.


Die dritte Stufe ist die der Nicht-Wiederkehrenden. Sie kehren nicht wieder, weil sie restlos alle Illusionen, Wünsche, Bedürfnisse und Dinge, an denen sie hängen, aufgehoben haben. Es ist wie mit einem Baum, den man fällen möchte. Man kann nicht als ersten Schritt die Wurzel ausgraben, weil der Baum dann durch seinen Fall das Umliegende unkontrolliert zerstören würde. Man muss erst die Äste abschneiden und dann den Stamm zerlegen. Hierfür benötigt man die ersten sieben Leben. Und wenn man hier zu langsam vorgeht, bekommt der Baum durch die Beschneidung sogar noch Kraft, blüht und treibt umso üppiger aus. So ist der Atheist, der den Katholizismus bekämpft mitunter dogmatischer als der Kritisierte. Genauso entfacht der Asket in sich eher die Leidenschaften (siehe Antonius in der Wüste, der wohl der erste Youporn-Junkie war). Aber damit gewinnt es hierdurch auch erstmal eine richtige Form, anders als der Baum, der einfach nur so vor sich hin austreibt und dadurch an Stärke und Form verliert. Der Baum durch Beschneidung und Kultivierung wird stark, treibt stärker aus, bringt mehr Frucht… so erhöhen sich auf dem Weg der Erleuchtung eher die Hindernisse, anstatt dass sie kontinuierlich abnehmen. Es ist eher ein demotivierender und verzweifelter Weg, wo man oft nicht mehr das Ziel sieht oder für realistisch hält, sondern nur die Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit (die der Zen dann absichtlich auf die Spitze treibt, um die Menschen dann in diese Freiheit aufbrechen zu lassen).


Der Nicht-Wiederkehrende hat den Baum bis auf die Wurzel herausgerissen, Schritt für Schritt, über sieben lange, mühsame Leben hinweg. Es ist nichts mehr da, woraus etwas austreiben kann und es ist auch keine Hoffnung mehr da, dass etwas austreibt, wie dies selbst bei einem alten Wurzelstumpf noch sein kann. „This cutting off of delusions in the second and third Stages is like cutting down a tree. The only way is to cut it completely down.“ (zit. nach Red Pine 2001: 165). Er ist vollkommen auf dem Komposthaufen gelandet und bringt so die Basis für neues, aber eben nicht sein Leben. Der Nicht-Wiederkehrende hat keine Hoffnungen mehr, lebt ganz in diesem Moment, von Moment zu Moment… und ihm ist es egal, ob er jetzt 1.000mal noch wiedergeboren wird oder gar nicht… deswegen nimmt er sich nicht als Nicht-Wiederkehrenden wahr. „‚All that must be done is finished, when one has paid off the debts of sentiment, has worked off these karmic debts and has broken even, one won’t need to endure another life. They don’t need to return. Other sutras put it this way, ‚Take a long bow to this world.‘ As you go, make a bow to this human world, ‚Goodbye, everyone! I won’t be back!’“ (Nan 2001: 117)


Die vierte Stufe betrifft den Arhat, was die zentrale Stufe im Hinayana darstellt. Aus dem Sanskrit ist die Übersetzung wohl durchaus mehrdeutig: die Person, die Wert ist, dass ihr Gaben dargebracht werden; aber auch der Schlächter der Feinde; oder der Jenseits des Lernens ist; und der Jenseits der Wiedergeburten lebt. So unterschiedlich diese Übersetzungen sind, so passen sie dennoch alle in Bezug auf verschiedene Aspekte. Selbst der Schlächter, der alle Gedanken und Bindungen niedergemetzelt hat.


Allerdings ist dieser Schlächter nicht ein triumphaler Gewinner, der das Feld mit Leichen der Feinde überblickt und sich für den Gewinn feiern lässt. Sondern er hat auch sich selber hingemetzelt. Vielleicht hat er sich sogar als erstes „geopfert“, um seine Soldaten Mut zu machen, jetzt selber alles in die Hand zu nehmen. Er übergibt sich und den Sieg in die Eigenverantwortung von jedem Einzelnen. So wie Jesus als erstes am Kreuz gestorben ist und uns so die Tür geöffnet hat - und wir ihm nun selbständig und eigenverantwortlich folgen sollen und können. So lange jemand das Gefühl hat, er hat die Leere erlangt, ist er kein Arhat. Auch der obige Feldherr und Jesus haben einen höchst zweifelhaften Sieg errungen: der Sieg ist noch nicht da, aber sie haben gewonnen, indem sie den Sieg in die Hände jedes Einzelnen legen, der aus sich heraus dies in seiner Situation tut und so zum Sieg beiträgt.


Und so ist dann vielleicht auch besser zu verstehen, warum Christus für uns am Kreuz gestorben ist. Nicht dass er für uns unsere Sünden büßt oder uns vor Augen führen will, welche Strafe wir für unsere Sünden verdient haben. Wenn dann eher, dass er uns dabei beisteht. Auch nicht, dass mit dem Kreuzestod alles abgegolten ist und wir Jesus nur noch zu danken haben. Sondern eher als Aufforderung, dass jetzt jeder das Heft selbst in die Hand nehmen muss und man nicht mehr auf übernatürliche Wunder hoffen kann, die Jesus wirkt (wie die Speisung der Tausenden). Das Wunder sind wir, die wir durch Jesus zum handeln gebracht werden und zwar gerade weil es keine übernatürlichen Wunder mehr gibt. Und in diesem Sinne ist Adolf Kolping auch wirklich ein Heiliger, weil er eben nicht auf übernatürliche Wunder gesetzt hat, sondern Menschen bis heute ermutigt irdische Wunder zu bewirken… dies ist ein viel größeres Wunder, als die zwei medizinischen Eingriffe des polnischen Papstes, der selbst ja auch gerne mit der Gießkanne über allen Marienfrömmlern Heiliggesprochen hat.


In dieser Hinsicht liegt die Heiligsprechungspraxis vielleicht wirklich daneben, indem ein Graduiertenkolleg aufgebaut wird, dem bitte nachzueifern ist. Heiligkeit kann sich ganz unterschiedlich äußern und offen wissen die Personen gar nicht, dass sie heilig handeln oder heilig sind (und als letztes bekommt dies dann die Kyrie in Rom mit). Sondern sie tun es einfach. Sie tun einfach, was von ihnen erwartet wird. Sie gehorchen aber auf einer ganz tiefen Ebene, so wie Heidegger das Hören und Horchen auf das Sein beschrieben hat. Aber eben nicht dadurch, dass den Regeln von Moral, Mitmenschen und Gesellschaft gehorcht wird und sich diesen unterworfen wird, sondern indem sie in einem ganz tiefen Sinne Hörende werden. Jeder der sich dagegen als Heiligen sieht oder als Arhat kann dagegen recht sicher sein, dass er sich noch weit davon entfernt befindet. Es ist eher die Freiheit von all diesen Ansprüchen und Zielen, ein bestimmtes Bild zu erfüllen - aber gleichzeitig ganz hellhörig zu werden, auf das was um einen passiert. „The attributes of the samadhi of dispassion include not becoming upset by any being while always practicing compassion.“ (Red Pine 2001: 169)


Alle Dogmen, Vorbilder, Moralregeln etc. sind nur Mittel, die zu diesem Hören führen sollen. Buddha vergleicht im Huayen-Sutra seine Lehre mit einem gelben Tuch, was man verwendet um ein weinendes Baby zu beruhigen. Das Tuch bindet die Aufmerksamkeit des Babys, dass das Weinen vergisst und wieder ganz aufmerksam in der Situation ankommt. Das gelbe Tuch ist aber nichts besonderes. So ist auch die Dogmatik, Lehre und die Heiligen, alles nur gelbe Tücher, die man je nach Bedarf verwenden kann: zur Erleuchtung, um sich die Nase zu schnäuzen oder den Arsch abzuwischen. Dies ist der Weg zur Arhatschaft: “Letting go of their self, they find the river; letting go of their being, they return for one more birth; letting go of their life, they return no more; and letting go of their soul, they free themselves from the passion that binds them to the endless round of birth and death.“ (Red Pine  2001: 159)


Der Arhat nimmt sich selber als ein "Ich" in der Situation nicht wahr. Indem er der Situation entspricht, ist er die Situation, er gehört zu ihr. Aber nicht als klar abtrennbarer Teil, sondern in ihr aufgegangen, zerschmolzen. Ein der Situation Entsprechender strebt auch nicht danach, der Situation zu entsprechen. Kein Widerstand, er geht mit der Vergänglichkeit. „Despite its emphasis on detachment, it is self-centered, not being-centered. The shravaka’s quest for no rebirth is not the same as the bodhisattva’s realization of no birth. The difference is profound. Shravakas damm the river. Bodhisattvas swallow it at its source.“ (Red Pine 2001: 157)


Es ist dieser Sprung von self-centered zu einem being-centered, worum es hier geht. Um noch einmal auf Dongshan zurückzukommen. Auch bei ihm zeigt sich ein Prozess, denn er erkennt im Fluß sich nicht selbst, in dem er sich selber liebend und wertschätzend anblickt, sondern durch die Augen seines Meisters Yunyan. Aber kann er den Blick seines Meisters aushalten und ihn trotzdem verlassen? Warum bleibt er nicht bis zum Tod von Yunyan in seinem Kloster, und lässt sich von ihm täglich anblicken und lernt und lacht mit ihm? Geht er etwa auf Pilgerschaft, um den nächsten großen Meister zu finden, der ihm das gleiche gibt wie Yunyan?


Yunyan ist Dongshans einziger Meister und auch wenn er andere tatsächlich sehr große Meister getroffen hat und bei diesen länger gelebt hat, als bei Yunyan, ist Yunyan SEIN Meister. Hierauf zielt eben auch die Frage des Mönchs ab. Was Dongshan bei seinem Abschied und der anschließenden Wanderschaft realisiert ist vermutlich genau das, dass es eine tiefere Bindung wie zu Yunyan für ihn nicht mehr geben wird. Und das gerade diese tiefe Bindung für ihn notwendig gewesen ist, damit er sich von jeglichem anhaften an den Dingen der Welt löst. „Delusion is the root of englightment. If someone uses this for their practice, it can become the means for transcending the world. The lotus doesn’t grow in high places. It only blooms in muddy waters. Delusion doesn’t injure the enlightened mind. So, too, smoke and clouds obscure the sun and moon without injuring them. If a jewel is dropped into the mud, neither is the jewel injured. Don’t concern yourself with the clouds of delusion. Concentrate on the englightened mind.“, so T’ai-neng (zit. nach Red Pine 2001: 163).


Es ist vermutlich ähnlich, wie dass nur ein Alkoholiker die Freiheit einer Abstinenz wirklich realisieren und verstehen kann oder der Raucher, der keine Zigarette mehr braucht. Ein Milchbrötchen wird nur verständnislos auf diese Freiheit schauen… was soll schon an einen Leben ohne Vollrausch mit Zigaretten besonderes sein, es ist eher kaum nachvollziehbar, dass man sich so hingeben kann. 


Diese Konstellation stellt im Sutra den Umbruch da, der sich aber ähnlich auch woanders findet: so im Herz-Sutra wo dies auch im Rahmen der fünf Stufen von Dongshan mit der Begrifflichkeit von Spencer Brown diskutiert wurde, im Buch Job läuft die erste Gesprächsrunde hierauf hinaus, was dann in der Begrifflichkeit von Heideggers Entzug, Abschied und dem Sprung vom Seienden ins Seyn beschrieben werden kann. Und im Johannesevangelium ist es der Austausch der καταλλαγή wie ihn Przywara ausgearbeitet hat, der Wendepunkt.


Nan beschreibt diesen Übergang von self zu being mit dem zentralen Beispiel des Avatamsaka-Sutra. Es geht darum jedes Anhaften und jeden Gedanken gehen zu lassen, wenn man hierzu nicht in der Lage ist, ist man sofort gefangen. Für Dongshan bedeutet es, wenn er Yunyan gehen lassen kann und sich von ihm verabschieden kann, gibt es nichts mehr was ihn hält, weil Yunyan die tiefste Verbindung gewesen ist, die er zur Welt hatte. Wenn er ein Anhaften an der Welt noch will, dann an Yunyan, jeglicher Rest ist langweilig, fad und belanglos. Nur so sind alle Gedanken ausradiert, denn sobald man wieder einen Gedanken zulässt gilt: „If this thought is present, then the myriad of thoughts are also present, for this one thought is connected to all the other thoughts. In the Avatamsaka Sutra, it talks about Indra’s net (Indra-jala) where our ideas, thoughts, feelings and emotions are part of an enormous net, and when one part of the net moves, the rest of it will move as well.“ (Nan 2001: 125)


"The whole universe shatters into a hundred pieces.
In the great death there is no heaven and earth
Once body and mind have turned over
there is only this to say:
Past mind cannot be grasped,
present mind cannot be grasped,
future mind cannot be grasped."

Dogen


סֶלָה