10. Im Buddha-Land gründen

“Subhuti, was denkst du? Als der Tathagata in früheren Zeiten mit Dipankara Buddha zusammen war, hat er da etwas vom Dharma erhalten?” „Nein, Weltehrender! Als der Tathagata mit dem Dipankara Buddha zusammen war, hat er nicht einen Ertrag des Dharma erhalten.”

„Subhuti, was denkst du? Haben Bodhisattvas ein Buddha-Land gegründet?“ „Nein, Weltehrender! Weshalb dies? Was als Buddha-Land gegründet wird, ist nur für diesen Augenblick, es bleibt nur der gründende Name.“


„Dies ist deshalb so, Subhuti, weil Bodhisattvas und Mahasattvas es gemeinsam haben, dass sie ein friedliches und stilles Herz entwickeln, und es außerdem gemeinsam haben, dass sie kein Herz haben, dass sich aus Form entwickelt, und es gemeinsam haben, nicht mehr Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl oder andere Dinge in ihrem Herzen zu haben. Gemeinsam haben sie, dass sie nirgends mehr wohnen und genau daraus ihr Herz erwächst.“


„Subhuti, nimm etwa jemanden, der in seinem Leben so groß ist, wie bis zur Spitze des Berg Sumeru. Was denkst du? Würde er nicht als groß erachtet?“ Subhuti antwortet: „Wohl groß, Weltehrender! Aber weshalb bloß? Denn der Buddha lehrt dagegen, das Leben nur ein Fehlwahrnehmung ist, und damit auch ‚großes Leben‘ nur ein Name ist.“


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Ein wesentlicher Lehrer auf dem Pilgerweg von Shakyamuni Buddha war der Dipankara Buddha, der bei ihrer ersten Begegnung auch vorhergesagt hat, dass aus diesem Pilger einmal ein großer Buddha werden kann. Aber was hat Dipankara hierzu beigetragen, d.h. was hat er ihm mitgegeben etwa an konkreter Lehre und Weisheit bzw. was hat Shakyamuni bei ihm konkret erfahren?  Gerade für Subhuti ist diese Fragestellung an dieser Stelle relevant, weil er verstanden hat, dass es eigentlich nichts gibt, was sich anzueignen gilt, sondern es eher darum geht, einen Raum zu ermöglichen, wo sich ein Öffnen ereignen kann. Hanshan Deqing (憨山德清, 1546–1623) schreibt in seinem Kommentar hierzu: „In the above text, the Buddha taught the doctrine of non-attainment. After hearing the teaching about (the mind which did) not abide anywhere, Subhuti had understood the non-abiding enlightenment (Bodhi), but he doubted and thought that although Bodhi did not abide anywhere, there should be an acquisition of the Buddha fruit. If there was no Buddhahood to attain, how could the (teaching) be transmitted and handed down. For this reason, the World Honoured One asked (the above question) to cut off his doubt. Although Dipamkara Buddha gave the prophecy, it was only to seal the realization of this mind, but nothing was acquired. If there was something obtainable, Dipamkara would not have prophesied (to the Tathagata).“ (Lu 1970: 173) Dies bedeutet zwar nicht, dass Dipankara für Shakyamuni kein wichtiger Lehrer und eine wichtige Station auf seiner Pilgerschaft gewesen ist, aber er hat hier eben nichts mitgenommen, was man festhalten oder konkret benennen könnte. Und dies deshalb nicht, weil genau so etwas eben nicht die Lehre der Buddhas wäre. „Is it possible he did not obtain any dharma? It was simply that he was not attached to the thought that he obtained anything. The Buddha thinks that his disciples have not yet rid themselves of such thoughts.” (Red Pine 2001: 177). Subhuti davon zu befreien, dass er einen Ertrag aus der Lehre mitnimmt, darum geht es dem Buddha. Denn auch dies wäre ein Festhalten an etwas, der Buddha will aber befreien und ein fundamentales Loslassen und Öffnen sich ereignen lassen. 

 

Subhuti stimmt diesem auch zu, d.h. er sieht es dann ein, wenn der Buddha ihn durch seine Frage darauf hinweist. Aber der Buddha will diese Einsicht tiefer in Subhuti verankern, so dass er weiterfragt, ob die Buddhas ein Land gegründet haben, in dem sie sich alle aufhalten. Gibt es also ein buddhistisches Paradies in den Wolken, ein Walhalla oder ist es eher das Treffen in der Royal Society oder eine Bischofssynode? Subhuti erkennt, dass es keinen ewigen Ort gibt, wo die Buddhas zusammen sind. Und dies bedeutet auch, dass es diesen Ort auch nicht zu erreichen gibt. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine heiligen Orte gibt. Aber sie gründen sich jeweils für diesen Moment und in dieser Begegnung. Genauso wie der Dornenbusch bei Moses nicht ansich ein heiliger Ort ist, sondern heilig wird durch die Begegnung von Moses mit Gott (vgl. Jacob 1997: 42ff.). so gründet sich ein Buddha-Land auch nicht auf ewig, sondern in diesem Augenblick und vergeht auch wieder mit diesem Augenblick. Auch hier ist nichts, was festgehalten oder erreicht werden könnte. Sondern man kann eher sich dafür öffnen, dass ein Buddha-Land sich in einem Moment ereignen kann (als καιρός, aber nicht als Moment, um einen guten Deal oder Schnäppchen beim Schopfe zu packen, sondern als sich Einlassen auf ein sich entfaltendes Ereignis).  Alles was hiervon übrig bleibt von einem solchen Ereignis ist ein Name, der aber an sich nicht viel Wert ist und eigentlich das Wesentliche verdeckt. Fährt man also mit dem Auto nach Santiago di Compostela, nach Lourdes oder Rom hat man nichts gewonnen, bestenfalls wenn man sich zu Fuß auf den Weg macht. Aber das entscheidende passiert dann nicht am Ziel, sondern auf dem Weg dorthin (vgl. auch die Erläuterungen zum Hinweis 23 im Hekiganroku). 

 

Das Buddha-Land oder die Erleuchtung oder Befreiung (oder wie auch immer man es bezeichnen mag), ist damit kein fester, konkreter Ort, den man erreichen könnte. Diesen Ort gibt es einfach nicht. Und wer dennoch davon träumt diesen zu erreichen, träumt einfach! Denn jede Imagination kommt in diesem Fall nicht ans Reale heran, es bleibt ein blasses Abbild, denn es zeugt allein daraus, was wir uns jetzt vorstellen können - aber dies eben aus einem Zustand, wo wir eben noch nicht das Buddha-Land gesehen haben (ein schönes Beispiel findet man bei Dante, der die Hölle deutlich besser „ausmalen“ konnte, als den Himmel… vielleicht, weil wir dem ersteren meist noch näher stehen). Es bleibt dabei alles nur eine Wunschvorstellung, die von einem Ego projiziert wird. „The so-called ‚majestic Buddha lands‘ is just a descriptive phrase. They ‚are not majestic‘ means it's not the kind of majesty that we usually imagine. For instance, most people would think of a place which is really pristine. Close your eyes for a moment and whatever you think of, even if it is a big empty space, is but that which we can imagine. An imagined state is already not majestic. Absolute purity and emptiness are not that which we have the capacity to imagine. Real majesty is beyond imagination. So, in this process of reasoning, there is the obverse, the reverse and then a combining, or middle ground. That which we experience, describe or imagine as emptiness is already not empty. Without experiencing the actual majesty of the Buddha lands, there is no way possible for the ordinary mind to conceive of it. This is the meaning behind Subhuti's answer.“ (Nan 2001: 133) 

 

Nan macht hier auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. Denn das vorgestellte Buddha-Land ist nicht nur ein blasses Abbild, sondern es trifft es gerade deswegen nicht, weil es im Buddha-Land um Leere geht, was das Gegenteil einer üppig ausgemalten Fantasie ist. Huineng trifft es in seinem Kommentar zum Sutra extrem  pointiert wohl am besten. Er schreibt zu den Buddha-Ländern: „The emergence of the pure mind is the pure land.“ (Cleary 2000c: 110) Der Erlösungsort ist damit nicht etwa auf einem der neun heiligen Berge der Chinesen, nicht auf dem Putuo Shan (普陀山) oder dem Tai Shan (泰山), aber auch nicht in Santiago oder Jerusalem oder Lourdes. Im Chinesischen ist der Begriff für Pilgern (朝聖) auch einfach die Abkürzung für einen Berg verehren (朝拜聖山). Aber hier geht es nicht darum einen Berg geografisch zu erreichen, sondern quasi die Massivität, Wucht und Unzugänglichkeit des Berges in mir selber zu realisieren. Nehme ich diesen Berg in mir wahr, so realisiere ich wie wenig, langweilig und verbohrt eigentlich mein kleines Ego ist. Die Frage ist dann nur, ob ich mich in diesen Berg loslassen kann. In diesem Augenblick würde sich dann das Buddha-Land ereignen, es wäre das „pure mind“, das reine, friedliche und stille Herze, was sich rückhaltlos hier reinfallenlassen kann. Dies ist dann ein Herz, wie der Buddha im Sutra sagt, das sich nicht aus irgendeiner Form entfaltet und auch keinerlei andere Imaginationen hinsichtlich der Sinneswahrnehmungen macht (also kein Paradies vorstellt), sondern das genau nicht mehr in diesen Imaginationen wohnt, sondern frei auf einer Pilgerfahrt ist, die aber kein imaginiertes Ziel hat. Im Vimalakirti-Sutra gibt es eine ähnliche Passsage: „Who would purify their world, first purifies their mind. As their mind becomes pure, their world becomes pure.“ (Zit. nach Red Pine 2001: 180) 

 

Für Huineng hat diese Passage vom „nirgends mehr wohnen“ eine besondere Bedeutung, weil er die Erleuchtung erlangt hat, als er diese Stelle des Sutra hörte. So berichtet er selber darüber in seiner „Autobiografie“: „‚Enlightenment originally has no tree, / And a clear mirror is not a stand. / Originally there's not a single thing-/ Where can dust be attracted?’ After this verse had been written down, the whole community was amazed, and everyone wondered. They said to each other, 'How odd! You can't tell about people by their appearance! How could we have employed him, a living bodhisattva, as a servant for so long?’ Seeing the surprise and wonder of the crowd, the Grand Master feared someone might do me harm, so he erased the verse with his shoe and said, ‚This is still not yet perception of essence.‘ Everyone thought it was so, but the next day the Grand Master surreptitiously came to the mill, where he saw me pounding rice, a stone at my waist. He said, ‚People who seek the Way forget their bodies for the sake of the teaching; will he be like this?‘ Then he asked me, ‚Is the rice ready yet?‘ I replied, ‚The rice has been ready for a long time, but it still wants sifting.‘ The Grand Master knocked the mortar three times with his cane. Immediately understanding the Grand Master's meaning, I went to his room at the third watch (in the middle of the night). Using his vestment as a screen so no one could see us, he explained the Diamond Sutra to me. When he came to the point where it says, ‚You should activate the mind without dwelling on anything,‘ at these words I had the overwhelming realization that all things are not apart from inherent nature.“ (Cleary 2000c: 12f.) Huineng hat sich auf seinem Weg schon soweit in seinem Geist vorbereitet, dass er dieses Gedicht an die Wand schreiben konnte, was anders als sein Mitbruder, ganz aus der inneren Freiheit, dem Loslassen und einem „pure mind“ hervorgegangen ist und nichts mehr hat von Angelesenen oder den Erfahrungen von anderen oder dem Bedürfnis und Ehrgeiz etwas zu werden und Karriere als Abt zu machen. Es ist ganz er selbst, paradoxerweise weil gerade kein Ich mehr von ihm darin zu finden ist. Es ist ein Gedicht, was dasteht wie ein Berg: es ist einfach da und unverrückbar. Und eben keine schicke Hütte, die ein prämierter Architekt nach den aktuellen Wertmaßstäben mal für ein paar Jahre an den Berghang geklebt hat. Und trotzdem macht Huineng noch einfache Aufgaben im Kloster und beansprucht keine herausragende Position: ‚The rice has been ready for a long time, but it still wants sifting.‘ Auch wenn er schon bereit ist, ist er weiter dabei sich selbst zu reinigen, ist aber jederzeit bereit für ein Ereignis. Und dieses Ereignis geschieht dann an dieser Stelle des Sutra. Das muss deswegen nicht die wichtigste Stelle des Sutras sein, aber es ist der Moment, an dem für Huineng alles zusammenpasst. Er realisiert, dass er nirgends mehr wohnt indem er an etwas hängt, dass er keine eigenen Vorstellungen mehr hat, sondern sich ganz dafür öffnen kann, was sich in dem Augenblick ereignet. In diese Richtung deuten auch die Überlegungen von Heidegger zum Wohnen, der Wohnen nicht mehr versteht, als sich einen sicheren Rückzugsort einzurichten, wo jede individuelle Idiosynkrasie seinen berechtigen Platz hat (von tausenden gesammelten Püppchen bis zur schwarzen Death-Metall-Gruft). Sondern es ist ein Ort wo sich in einer Öffnung, dass Geviert zueinander versammelt von Sterblichen und Göttern, Himmel und Erde (vgl. Heidegger 2000: 145ff.). 

 

Huineng hat hier bereits schon viel auf seiner Pilgerschaft erreicht, so dass man ihn einen großen Meister nennen kann. Dennoch hat er keine herausgehobene Stellung im Kloster wie etwa den Tenzo (典座), der sich für alle um das Essen kümmert und die entsprechende Anerkennung dadurch genießt. Nein, er verrichtet Tag für Tag die mindere Tätigkeit des Reis säubern und beansprucht gar nicht mehr, bis dahin, wo der Augenblick dies von selbst einfordert. Denn auch wenn man von jemanden als „groß“ bezeichnet wird, ist dies nur ein Name. Für Huineng sind alle Stationen seines Pilgerwegs gleich bedeutsam: das Holz fällen, das sich kümmern um seine Mutter, den Reis säubern, zum sechsten Patriarchen zu werden… auf jedem Schritt seines Weges hat er sich auf das Eigentliche zubewegt. 

            11. Entsprechung segnet, Eigentum vergeht

„Subhuti! So wie der Ganges viele Sandkörner hat, so viele Ganges-Flüsse nehme einmal an! Und die Sandkörner aller dieser Flüsse, wären dies nicht unermesslich viele? 

Subhuti antwortet: „So viele, Weltehrender! Denn wenn alle diese Ganges-Flüssse nicht mehr zählbar sind, dann noch viel weniger deren Sandkörner!?“ 

„Subhuti, ich sage dir jetzt die Wahrheit, dass wenn ein rechtschaffener Mann oder eine rechtschaffene Frau, so viel der sieben Schätze besitzen, dass sie diese an so vielen Orten sammeln wie die Sandkörner in den Ganges-Flüssen, wo die Orte jeweils so groß sind, wie das ganze Universum, und diese dann alle als Almosen verschenken würden, wäre dies nicht großer Segen für die Person?“ 

Subhuti antwortet: „So groß, Weltehrender!“ 

Buddha zu Subhuti: „Wenn nun aber ein rechtschaffener Mann, oder rechtschaffene Frau, etwas aus der Mitte dieses Sutras herausgreift, oder auch nur vier Verse hieraus weitergibt, und diese jemand anderen nahe bringt, wäre der Segen für sein Herz, nicht noch viel größerer Segen? 

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Der Buddha führt uns hier ein seltsames Beispiel vor, von einem Menschen, der zunächst unermesslichen Reichtum anhäuft und dann noch in der Lage ist, diesen Reichtum dann als Almosen wegzugeben. Zunächst einmal erscheint es relativ unwahrscheinlich, dass ein Mensch so viel Reichtum erwirbt und sein Leben ja genau in dieser Logik des Erwerbens ausrichten muss und dann in der Lage ist, alles wegzugeben. Obwohl man hier gar nicht erfährt, ob dies dann alles ist und ob er nicht noch weiteren Reichtum i der Größenordnung von Rhein, Inn und im Jangtsekiang hat. Und dann wäre da die Frage, ob Bill Gates wirklich mehr Segen erwirbt als zum Beispiel eine Studentin, die mit dem Obdachlosen gemeinsam zu Aldi reingeht und ihn ein paar Sachen kaufen lässt. Jesus hat dies recht klar gesehen, als er das Gleichnis von der armen Witwe mit der kleinen Münze am Opferstock im Tempel erzählt (Mk 12, 41-44). 

 

Dass es hier nicht um Quantität geht zeigt im implizit auch der Buddha, denn er nennt keine Zahl für den Reichtum, sondern lässt diese mit den Sandkörnern bereits ins Unendliche kollabieren. Damit haben wir einen ersten Schritt aus dem Rechnen heraus getan. Huineng schreibt zu diesem Kapitel: „Created blessings are limited; uncreated blessings are incomparably superior.“  (Cleary 2001c: 112) Gegen diese riesige Spende setzt der Buddha dann die Person, die in einem anderen Menschen den Funken entzündet, für das worauf das Sutra hinweist und so die Sehnsucht erweckt auf die Suche nach der eigenen Buddha-Natur zu gehen und aufzubrechen. Dies scheint zunächst viel weniger, wenn man bedenkt, wie viele Hungernde man mit dem gespendeten Reichtum satt bekommen könnte, aber hier wird einfach der Fokus falsch gesetzt bzw. der Sprung noch nicht vollzogen vom rechnenden Weltlichen hin zum schenkenden Ewigen (siehe auch Jesus Antwort, dass man das Öl auch hätte verkaufen können, um mit dem Erlös Armen Essen zu kaufen, anstatt seine Füße damit zu salben (Joh 12, 3ff.). 

 

Hier geht es nicht um eine utilitaristische Kalkulation, was den meisten Nutzen bringt, sondern um einen Sprung in eine andere Logik. Und wenn jemand Almosen gibt, mit dem Ausblick oder Erwartung, was dieses Geben für ihn für einen Segen (Lohn) einbringt, hat er oder sie diesen Sprung nicht geschafft (siehe auch den ersten Hinweis im Hekiganroku mit Bodhidharma). Wenn man aber Almosen gibt, ohne daran zu hängen (wie oben im Sutra beschrieben), kann dies die Vorbereitung auf einen Sprung sein. Wang Jih-hsiu sagt zu diesem Sprung von einer zur anderen Logik Folgendes: "The Buddha often says that material offerings have limits, while dharma offerings are inexhaustible, that material offerings don't transcend the Realm of Desire, while dharma offerings transcend all realms. Thus, it is no wonder that the merit that comes from dharma offerings surpasses the former by an incalculable amount.“ (zit. nach Red Pine 2001: 193) Damit verlässt man das Berechnende und gelangt ins Unermessliche, so dass kalkulierte Verdienste gegen überbordende Geschenke ersetzt werden. Aber Geschenke die gerade in ihrer Kleinheit und Schlichtheit faszinieren. Nan Huai-Chin bringt das Beispiel (Nan 2004: 141f.), dass die Reisfelder unbewacht und nicht abgezäumt an jedem Wegesrand grundsätzlich frei zugänglich sind. Dagegen Geld schwer bewacht in Tresoren lagert. Aber was brauchen wir denn letztlich zum Leben? Es ist der Reis und nicht das Geld, denn allein mit Geld würden wir verhungern. Natürlich kann man sich mit Geld Reis kaufen (in normalen Zeiten), aber die Pointe liegt darin, dass sich eine Scheinwelt zwischen uns und die Welt geschoben hat, die immer mehr eine Eigenständigkeit gewinnt. Wir laufen dem Geld hinter her, nicht um davon genug zu haben, um uns unseren Reis zu kaufen (also Geld als Mittel), sondern nur um Geld zu haben (also Geld als Zweck in sich selbst) und immer mehr Geld, was nie abschließbar ist und nie Befriedigung geben kann. Der Sprung ist quasi vom sterilen Banktresor und der Betrachtung der Bilanzen hinein in das sumpfige Reisfeld und dort sich über das Schneeglöckchen am Rande zu freuen. 

 

Deswegen geht des dem Buddha darum, die Menschen dahin zu bringen, diesen Sprung zu vollziehen, sich umzudrehen und eine Kehre zu machen, um die einfachen und schlichten Dinge zu sehen, die nicht mehr verdeckt werden von irgendeiner Scheinwelt (wie z. B. Geld, Ruhm, Ansehen). Huineng schreibt hierzu: „If you give precious things in charity, you will be rewarded with worldly wealth and status, but if you expound the scriptures of the Great Vehicle and cause the hearers to develop great wisdom, you attain the supreme Way. So you should know that the blessing of accepting and holding surpasses the blessing of the aforementioned precious substances.“ (zit. nach Cleary 2001c: 112f.) Diesen Segen erlangt man also nicht dadurch, dass man möglichst große Almosen gibt, sondern indem man das Sutra den Menschen weitergibt. Und zwar nicht indem man es andere Auswendiglernen lässt, sondern in dem man es schafft, dass sich ein Mensch von der Sehnsucht nach diesem Sprung, die im Sutra ausgedrückt wird, berühren und ansprechen lässt. Dafür braucht es nicht das ganze Sutra, sondern es reichen oft auch nur vier Verse oder auch nur ein Wort daraus (und hier ist es eigentlich egal, welche vier Verse dies sind, so dass der Buddha sicher hier keine konkreten Verse mit meint, sondern die Verse, die eine Person in ihrer jeweiligen Situation in der Lage sind anzusprechen). Huineng selber hat nur einen kurzen Vers aus dem Diamant-Sutra aufgeschnappt und Erleuchtung erlangt, andere studieren ihr ganzes Leben das Avatamsaka-Sutra und kommen keinen Schritt weiter, außer in der Anhäufung akademischer Gratifikationen. Dies ist der Unterschied bei der Art das Sutra weiterzugeben, so dass es dem Buddha um das Nahebringen geht und nicht um ein auswendiglernendes Studium. 

 

Damit geht es darum, sich vom eigentlichen Text zu lösen und auf den Kern und die Sehnsucht zu stoßen, die Ausgangspunkt und Ziel des Sutras sind. Aber dieses Verlangen muss ich in mir schon genährt und einen fruchtbaren Boden bereitet haben, um davon angesprochen zu werden. Jemand der satt ist, wird auch nicht von den leckersten Gerüchen wieder angezogen werden und jemand der sich nicht darauf einlässt, wird die Musik von Bach im Supermarkt nur als nervig empfinden. Genauso ist es mit dem inneren Kern des Sutras: ich muss Hunger hierauf haben und ich muss mich darauf einlassen können. Aber dafür muss ich über den buchstäblichen Text hinausgehen und mich selber als ganze Person hier aufs Spiel setzen. Nan schreibt hierzu: „In Ch'an Buddhism, you often will see or hear this, ‚Go beyond the four sentences and exhaust the hundred negatives.‘ This is the way to research Buddhism. Throw everything away. Everything is wrong. There are four sentences, or concepts, which are within the Diamond Sutra and not within the Diamond Sutra, these being: emptiness, existence, both empty and existent and neither empty nor existent. All worldly things are of a dialectic nature: obverse and converse; both obverse and converse, and neither obverse nor converse. So to ‚leave the four sentences and uncompromisingly exhaust the hundred negatives‘ is to really receive and retain the essential meaning of the Diamond Sutra. This is also the central meaning of the four-sentences stanza. This section is talking about the fortune of ease, which is also the fruit of Buddhist practice. In Chinese we call it ‚ease‘; in Sanskrit it is called nirvana. They mean the same thing, the unsurpassable achievement.“ (Nan 2004: 139) Nan macht hier auch sehr deutlich, dass es nicht um vier konkrete Verse geht, sondern um den Kern, der hinter jedem buddhistischen Vers liegt, sei es ein Sutra oder ein Koan. Man muss die Versen zwar buchstäblich verstehen, aber auch wieder loslassen, um nicht daran gebunden zu bleiben. Dies ist ähnlich wie bei einer Metapher, wo der buchstäbliche Sinn verstanden werden muss, aber das eigentliche Verstehen passiert erst in dem Moment, wo die Assoziationen beginnen, die über die buchstäbliche Bedeutung hinausgehen (vgl. Haverkamp 1996). Denn wenn ich an dieser erster Bedeutung festhalte, wird es falsch. Im Ch’an sagt man, dass es den Moment des Festhaltens gibt (Leben geben) und des Loslassens (Tod geben) gibt und beide bewegen sich in einer entsprechenden Dynamik und dass eine besteht aus dem anderen, so dass Loslassen auch Leben geben ist und Festhalten Tod geben. Nan spricht hier von einer dialektischen Natur, es ist allerdings fraglich, ob hier wirklich eine Dialektik im westlichen Sinne gemeint ist, oder ob man anstatt mit Dialektik eher mit einer Paradoxie als Grundlage arbeitet (vgl. für diese Debatte im christlichen Kontext Milbank/Zizek 2009). Für Nan liegt hinter jeder Aussage dieses Spiel von Vorder- und Rückseite, von Festhalten und Loslassen oder auch mit dem Logiker George Spencer Brown gesprochen von „marked“ und „unmarked space“ (Spencer Brown 1969). Hier kann man die eine Seite aufgreifen oder die andere, man kann aber auch beide Seiten als sich bedingend betrachten (in einer Beobachtung zweiter Ordnung wie die Systemtheorie dies nennt) oder man erkennt beide Seiten als kontingente und damit ihre leere Setzungen. Und genau diese paradoxe Dynamik führt letztlich zu einer tiefen Ruhe, was im Sanskrit Nirvana genannt wird. Bemerkenswert hieran ist, dass damit Nirvana nichts ist, was uns am Ende des Lebens erwartet, was wir uns durch gute Taten verdient hätten (wie etwa die 99 Jungfrauen im Paradies), sondern sich jeder Zeit im Hier und Jetzt ereignen kann. 

12. Verehrung der wahren Lehre erweisen

Merke dir weiterhin, Subhuti, dass wenn das Sutra gesprochen wird, oder auch nur vier Verse hieraus, an diesem Ort alle anwesend sind - die ganze Welt, die Himmlischen, die Menschen, die Asuras - und von allen Respekt gezollt wird, wie einer Pagode oder einem Tempel.

Und noch viel mehr bei denjenigen, die Ausschöpfen ihre Möglichkeiten den Glauben zu erhalten, die lesen und rezitieren. Subhuti, sind nicht genau diejenigen dafür vorbereitet, das sich ihnen zueignet das hervorragendste und reinste Dharma? Wo immer diese Schrift sich so entfalten kann, dort ist der Buddha und seine angesehensten Schüler.

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Das Sutra weiterzugeben und am Leben zu erhalten, ist mehr „wert“ als alle Almosen, die nur die weltlichen Nöte lindern. Dem Buddha geht eher darum, dass jeder seine Haltung zur Welt ändert. Damit ist die Sicherung des Existenzminimums zwar nicht belanglos - ganz im Gegenteil. Aber anders als in der Sozialdemokratie ist dies nicht das letzte Ziel, sondern eben nur ein Mittel, so dass ich den Menschen die größten Nöte und Ungerechtigkeiten nehmen muss, indem allen Nahrung, gesundheitliche Versorgung und Selbstbestimmung ermöglicht wird. Denn erst dann habe ich den Kopf frei, um mich mit dem Sutra zu beschäftigen und dieses weiterzugeben. 


Aber den Segen erlangt man nicht darüber, dass man es in gedruckter Form weitergibt oder als vertrockneten Dogmatismus, sondern die Veränderung sichtbar macht, was das Sutra mit einem Menschen machen kann: d.h. ihn befreit. Ein schönes Beispiel hierfür ist Anne van der Bijl (eher bekannt als Bruder Andrew), der vor allem Bibeln in die Ostblock-Staaten geschmuggelt hat. Er hat damit sicherlich sehr viel dazu getan, das Sutra bzw. hier die Bibel zu verbreiten. Dies ist sicher eine sinnvolle Aufgabe gewesen. Aber der Buddha, Mahakasyapa, Huineng genauso wie Jesus, die Seraphim und Ignatius von Loyola  waren nicht deswegen anwesend, weil er die Bücher verteilt hat, sondern weil Bruder Andrew eine Haltung dadurch vorgelebt hat: so dass er etwa mutig und selbstlos Menschen Zuversicht gegeben hat, indem er ihnen die Bibeln zugänglich gemacht hat.


Die Verehrung des Sutras geschieht deswegen nicht dadurch, dass ich eine Buch-Ausgabe davon im Regal stehen habe und sie besonders pflege. Nan schreibt hierzu: „You can't depend on the sutra there on your shelf. The sutra must become ‚yours.‘ You must take it into the heart of your mind because this is the place where the stupa and the temple are. The Buddha never said ‚wherever a printed copy of this teaching is kept,‘ nor was a particular place named. […] There really is no reason for you to go rushing to India, however. Vulture Peak is at the heart of your own mind; this is why in the Diamond Sutra it says you should receive and retain this teaching. This is where the Buddha is found. This mind is the Buddha. When one awakens to the great wisdom of the Diamond Prajna Paramita Sutra, the Buddha is therein found. This is the stupa and temple of the Buddha to which the devas, asuras and so forth will bow down and pay reverence.“ (Nan 2004: 145) So lebt eine Pilgerreise auch nicht von der letzte Station, die man erreicht, sondern davon, was mit uns auf diesem Weg dorthin passiert. Ist auf dem Weg nichts mit uns geschehen, wird auch am Heiligtum nichts passieren. Und auch unsere letzte Station der Pilgerreise unseres Lebens, wird einfach nur der Tod sein. Wenn wir aber nicht unser ganzes Leben auf diesen Tod zugegangen sind, wird da ebensowenig etwas passieren, man verendet einfach.


Huineng merkt hierzu an: „If this sutra is expounded with a pure mind, causing hearers to be rid of confusion, realize the original buddha-nature, and always act genuinely, this will move celestial beings to bring offerings to the person holding the scripture. […] When your own mind can recite this sutra, your own mind understands the meanings of the sutra, your own mind embodies the formless principle of having no fixation, and you always practice the conduct of Buddha wherever you are, with unbroken attention moment to moment, then your own mind is buddha.“ (zit. nach Cleary 2001c: 113f.) Die richtige und wahre Verehrung des Sutra geschieht an der Stelle, wo ich mich dadurch verwandeln lasse, wenn ich mit ganzem Herzen den Geist des Sutras verkörpere. Wenn ich wirklich loslassen kann. „There is only one way to express your feelings. Let go of everything and rest at ease.“ (Nan 2004: 146)

13. Aufrichtiges Annehmen und Aufheben der Lehre


An diesem Punkt (des Gesprächs) fragte Subhuti den Buddha: „Weltehrender, wie soll das Sutra hier genannt werden? Und wie soll es angenommen und behalten werden?“

Der Buddha sagt zu Subhuti: „Dieses Sutra soll genannt werden Diamant zur Weisheit, wie man zum anderen Ufer gelangt, so soll es genannt und aufgehoben werden. Aber weißt du wie, Subhuti? Denn wenn du nur nachsprichst ‚Weisheit, wie man zum anderen Ufer gelangt‘, hast du noch nicht die ‚Weisheit, wie man zum anderen Ufer gelangt‘, denn es ist nur ein Name für ‚Weisheit, wie man zum anderen Ufer gelangt‘. Subhuti, was meinst du? Hat der Tathagata je irgendetwas erklärt?

Subhuti antwortet auf Buddhas Rede: „Weltehrender, der Tathagata hat nie etwas erklärt.“

„Subhuti, was meinst du? Besteht der Kosmos aus Staubpartikeln, und zwar vielen?“

Subhuti antwortet: „Viele, Weltehrender!“

„Subhuti, wenn der Tathagata hiervon spricht, existieren dadurch aber nicht diese Staubpartikel, sondern es ist nur der Name für Staubpartikel. Auch wenn der Tathagata vom Universum spricht, existiert dadurch das Universum nicht, sondern es ist nur der Name für das Universum. Subhuti, was meinst du, kann der Tathagata an seinen 32 Merkmalen erkannt werden?“

„Nein, Weltehrender, an den 32 Merkmalen kann er nicht erkannt werden. Aus welchem Grund? Der Tathagata erklärt zwar die 32 Merkmale, aber deswegen existieren sie nicht, sie sind nur die Namen für die 32 Merkmale.“

„Subhuti, wenn ein rechtschaffener Mann oder rechtschaffende Frau, so viele Leben lang Almosen gegeben hat, wie es Sandkörner im Ganges gibt, und dagegen jemand, der von diesem Sutra hier allein nur vier Verse angenommen und weitergeben hat, so sage ich dir, dieser Segen wird viel größer sein.“


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An diesem Punkt findet das Gespräch einen gewissen Abschluss. Han Shan schreibt zu dieser Gesprächsstelle: „Subhuti had received the teaching and had been awakened to it. The whole body of prajna was exposed and there was no further Dharma (to be revealed). Therefore, he asked for the name of the sutra.“ (Lu 1970: 176) So fragt Subhuti nach einem Namen, unter dem das Gespräch und die gerade gehörte Lehre angenommen und aufgehoben werden soll. Der Buddha antwortet „Diamant zur Weisheit, wie man zum anderen Ufer gelangt“. Wobei Diamant aus dem Sanskrit von Vajra (वज्र) kommt,  was Diamant oder Blitz bedeutet, aber vor allem eine sehr gefährliche Waffe bezeichnet, die mit der Gottheit Indra verbunden wird. Damit ist die Lehre eine Waffe der Weisheit, die man braucht, um sich zum anderen Ufer durchkämpfen zu können. Die Vajra ist die härteste Waffe, die der Buddha finden konnte und die in der Lage ist wie ein Diamant alles tief an der Wurzel abzuschneiden, d.h. jede menschlich-weltliche Illusion zu zerschneiden. Hier zeigt sich wie schwierig es ist, zu dem anderen Ufer zu kommen und die ganzen Gewohnheiten unseres Denkens und Lebens hinter uns zu lassen. Dies kann man nicht erreichen, indem man eine Lehre auswendig lernt oder auch nur theoretisch erschließt, sondern sie muss alles Bisherige an ihrer Wurzel abschneiden. Und dafür nimmt der Buddha nichts Geringeres als dieses martialisch Waffe der Vajra. 


Aber was hat denn Subhuti bisher mit dieser Vajra gemacht? Hierzu schreibt Han Shan weiter: „His mind before hearing this Dharma, was not quiet, hence his request for the method to subdue it. What he knew and saw were external objects. There was a great distance between living beings and the Buddha, between the clean and the unclean, and there was a difference of tendency between attachment and renunciation. Therefore, his mind was not quiet and it was difficult to subdue it, with the result that all kinds of doubt surged therein.“ (Lu 1970: 176) Subhuti hat durch die Vajra, die der Buddha ihm in diesem Gespräch in die Hand gegeben hat, seinen eigenen unruhigen Geist zu unterwerfen. Er hat damit sein Festhalten an allem Seienden abgeschnitten, was ihn vorher unruhig von einem zum nächsten Seienden unablässig getrieben hat, niemals satt, sondern immer zum nächsten eilend. „Section one through section ten constitute one division in which the Buddha tells us the first method of cultivation, ‚one should not dwell,‘ the method of not dwelling on anything. If one has actually achieved this, then one already understands prajna paramita.“ (Nan 2004: 147) Dies hat Subhuti gelernt, dass er an nichts festhält und sich nirgendwo einrichtet. Diese bequemen Wohnungen, die wir uns unablässig schaffen, hat er zerschlagen und zerstört mit der Vajra des Buddha. Und hier zeigt sich auch, warum eine solch mächtige Waffe nötig ist: denn unser Leben ist eigentlich mit nichts anderem beschäftigt, als uns gesichert, wohnlich einzurichten. Aber so sehr wir dies auch absichern, bleibt diese Sicherheit eine Illusion.


Zwar gibt der Buddha, auf die Frage von Subhuti hin, dem Sutra bzw. ihrem bisherigen Gespräch einen Namen, er nimmt ihn aber auch direkt wieder zurück, indem er die Benennung durch einen Namen unterscheidet von dem Gespräch selber. Oder besser den Namen davon unterscheidet von dem, was in dem Gespräch selber geschieht bzw. geschehen kann (vgl. hierzu auch Platons Phaidros). Diese Unterscheidung gilt aber nicht nur für das Sutra, sondern auch für Erklärungen wie der Zusammensetzung des Universums oder auch woran man einen Buddha in der Welt erkennen kann. Dies sind Konstruktionen, mit denen wir uns die Welt erklären, sie strukturieren, damit wir uns in ihr zurechtfinden und uns mit anderen Menschen koordinieren können, indem wir die gleichen Konstruktionen teilen. Aber Staubpartikel der Hindus habe nicht mehr mit dem Universum zu tun als Demokrit oder Planck oder Einstein, außer dass sie am nützlichsten sind, in der Gesellschaft, wo sie entstanden und allgemein gebraucht wurden. Diese Theorien und Erklärungen bringen uns mitunter weiter, die Welt besser nach unseren Wünschen zu manipulieren, aber dies bedeutet nicht, dass sie uns der Welt oder auch uns selber näher bringen würden. Es mag dadurch Wissen produziert und konstruiert werden, aber keine Weisheit. 


Der Zen-Mönch aus der Yunmen-Schule Huai-Shen (慈受懷深, 1077-1132) geht auf diese Stelle des Sutras ein und zitiert erst den Lyriker Han-Shan (寒山, etwa 8 Jhd., aber er ist ein anderer, als der am Anfang des Kapitels zitiert wurde) und schreibt dann dazu: ‚My mind is like the autumn moon / clear and bright in an emerald pool / nothing can compare / what more can I say.' In this poem (The Collected Songs of Cold Mountain: 5), Cold Mountain basically says, 'If we can't find anything, then stop.' Whoever is able to understand that form and nature are both empty and able to eliminate both existence and non-existence, and to forget both words and silence, sees that their own nature is pure. Although they talk all day, they still don't say a word.“ (zit. nach Red Pine 2001: 210) Wenn man über die Benennungen hinausgeht, wie der Buddha dies Subhuti lehrt, so ist der Geist wie der Herbstmond in einem Teich. Der Mond ist hell, die Nacht ist klar und der Teich ist ruhig. Und auch wenn hier alles klar erkennbar scheint, ist die Quelle dieser ganzen Erscheinung verdeckt: die Sonne. Aber trotzdem gibt es in dieser Szene eigentlich nichts nachzufragen oder zu erforschen. Der Mond im Teich spricht für sich - und motiviert nicht dazu einen Forschungsantrag für die DFG zu schreiben, über den Einfluss der Sonne in diesem Zusammenhang. Die Szene spricht einfach aus sich heraus, aber genau diese Momente sind in unserem Leben meist so unendlich selten und trotzdem ereignen sie sich manchmal und sind eigentlich in jedem Moment möglich. Und genau auf diese Ruhe will der Buddha hinaus und keine Theorien und Wissen vermitteln: „‚Hat der Tathagata je irgendetwas erklärt?‘ Subhuti antwortet auf Buddhas Rede: 'Weltehrender, der Tathagata hat nie etwas erklärt.’“ Durch unser Forschen schaffen wir Wissen und zwar immer mehr und immer differenzierter. Und der Wissensdurst kann genauso stark sein wie die Gier nach Geld oder Ruhm - aber der Wissensdurst kann genauso das Wesentliche verdecken. Man braucht einen Grundbedarf an Wissen (genauso wie bei Geld und Ruhm auch, so dass ich ein materielles sowie psychisches Existenzminimum des Selbstwertes benötige), aber ich muss auch erkennen, wo mich dieser Weg nicht weiterbringt. Denn Weisheit ergibt sich nicht linear aus dem Wissen heraus, sondern ist ein Sprung aus dem Wissen heraus. 


Huai-Shen schreibt oben „If we can't find anything, then stop.“ Auf den Wissensdurst scheint dies eben so gar nicht zuzutreffen, denn man findet immer mehr Wissen und immer mehr Durst nach Wissen. Und doch kommt man auf einer anderen Ebene nicht weiter. So kann ich in der Herbstnacht am Teich Theorien und Empirie studieren, wie die Sonne hier indirekt in den Teich scheint. Ich kann diese Theorien verbessern oder mich auch ins Flugzeug setzen und jetzt der Sonne entgegenfliegen - aber ich verpasse damit jedesmal diese Ruhe dieser Herbstnacht. Denn in dieser Herbstnacht gibt es eigentlich nichts mehr zu erforschen oder zu erkunden, sondern nur noch etwas still zu erfahren. Hier geht es nicht mehr um einzelne Zusammenhänge, Verbindungen und Relationen, sonder alles wird als eins und als leer von jeglicher Konstruktion erfahren. Mit Spencer Brown könnte man sagen, dass jede Markierung (wie Mond, Spiegelbild im Teich, ich selber) durchsichtig werden auf ihren begründenden unmarked space hin, ohne dass dieser direkt erkannt würde. Denn die Sonne bleibt hier am Teich weiterhin verdeckt, aber ich erfahre sie in dieser Verdeckung und Entzug viel tiefer, als wenn ich mir Wissen aneigne, wie sie hier in den Teich scheint. Oder mit Heidegger wäre es der Sprung vom Seienden hin zum Seyn, was ebenfalls nie direkt zugänglich ist, sondern auch nur in seinem Entzug erfahrbar wird. Hier scheint dann etwas durch, was jenseits von Markierungen und Seiendem ist, weder existiert noch nicht-existiert, sondern „sees that their own nature is pure.“, wie Huai-Shen schreibt. In dieser Haltung kann man dann reden, aber auf eine Art und Weise, dass in jedem Wort dieses Durchscheinen und spürbar und erfahrbar ist. Dies ist die Sprachhandlung, die im Sutra, aber auch in den Koans oder Evangelien sich ereignet.


Nan Huai-Chin erzählt hierzu sehr passend von dem Dichter und Kalligraphen Huang-Tingjian (黄庭坚, 1045-1105), der in eine sehr gebildete Familie hineingeboren wurde und entsprechend erzogen wurde. Trotz dieses literarischen Hintergrundes ist er bei seinem ersten Versuch beim Jinshi durchgefallen und hat erst beim zweiten Versuch den Einstieg in die kaiserliche Beamtenlaufbahn geschafft. Gleichzeitig hatter er auch immer ein starkes Interesse an Chan und Daoismus, so dass er sich etwa nach dem Tod seiner Frau nach Shan’gu (山谷, Gebirgstal) zurückzog und dies als religiösen Beinnamen weiter führte. Allerdings bemerkt Nan auch, dass er „hadn’t even a shadow of awakening“ (Nan 2004: 149), so dass er seinen Meister Huitang-Zuxin (晦堂祖心, 1025-1100) darum bat, ihn zu entlassen, dass er zu einem anderen Meister wechseln kann. Darauf fragt Huitang ihn, ob er den Satz aus den Analekten kennt, wo Konfuzius fragt: „Meine Kinder, ihr denkt, ich habe Geheimnisse? Ich habe keine Geheimnisse vor euch. Mein ganzer Wandel liegt offen für euch, meine Kinder. So ist es meine  Art.“ (Analekte 7:23) Huitang führt Huang hier ziemlich vor, weil er ihn nach einer Stelle aus den vier Büchern fragt, die der Kern des Jinshi sind und wo er den Makel, hier einmal durchgefallen und gescheitert zu sein, sicher noch in sich spürt und dann muss er auch noch zugeben, dass er nicht weiß, was Huitang jetzt damit meint. Nan schreibt dann weiter dazu: „The master shook out the long sleeves of his robe and left in displeasure. Huang Shan-ku's spirits were completely crushed and the only thing he could do was follow. The master silently strode up into the mountain, not looking back knowing full well Huang Shan-ku would follow. Huang Shan-ku followed along like an admonished school boy. It was autumn and the cassia flower was in bloom everywhere. The whole forest was exquisite fragrant. The master suddenly stopped, turned and asked, ‚Do you smell the flowers of the Cassia trees?‘ Huang Shan-ku also stopped and turned his attention to his nose. ‚I smell them.‘ The master then said, ‚Those of you here, have l concealed anything from you?‘ and Huang Shan-ku finally awakened. The so-called prajna paramita is not prajna paramita but is called prajna paramita.“ (Nan 2004: 149f.) Auch hier wird nichts erklärt bzw. bewirkt die Suche nach Erklärungen, dass Huang verstockt bleibt und sich der Erleuchtung nicht nähert. Aber sein Lehrer verweigert jede Erklärung, wie der Buddha auch, und hat doch nichts verheimlicht: alles liegt offen vor Huang. Er verstellt es sich nur selber, denn erst wenn er nicht mehr nach dem lateinischen Namen der Cassia fragt, überlegt wann man sie ernten kann, was man damit kochen kann etc., sondern einfach nur riecht, ganz absichtslos und ohne Zweck, ganz in der Schlichtheit dieser Situation sich aufgehen lässt, gelangt er dort hin, wo er es mit viel Fleiß und Ehrgeiz bisher noch nicht einmal in die Nähe geschafft hat. 


Aber eine der gefährlichsten Fallen, die der Chan benennt, besteht darin, dass man sich nach einem solchen Moment zurücklehnt und sich in seiner Erleuchtung ausruht, sich wähnt am Ziel zu sein. Aber meist ist dies nur ein Moment, der einem geschenkt wurde, als Appetizer oder Angeld, und es ist noch ein weiter Weg, bis die ganze Person mit dieser Haltung durchdrungen ist. Es ist so, wie wenn man kurze Erlebnisse hat, wie erhabene Naturerlebnisse, ein tolles Konzert oder Fußballspiel oder Drogen, hier werden oft Ahnungen von transzendenten Erfahrungen gegeben, die aber erst viel tiefer greifen müssen, die strukturell die Person umkehren müssen, um wirklich sich ereignen zu können. Und Huang fällt genau in diese Falle. Er führt weiter sein Leben als einer der anerkanntesten Poeten und Intellektuellen und hohen Beamten seiner Zeit, mit der entsprechenden Anerkennung und Lebenshaltung. Sein alter Meister hat aber schon längst erkannt, dass Huang sich verlaufen hat oder besser gesagt sich wieder sehr bequem in dieser Welt eingerichtet hat. So sagt er kurz vor seinem Tod zu seinem Nachfolger, der deutlich jünger als Huang ist, Folgendes: „Your dharma brother, layman Huang Shan-ku, has had an awakening, but he's only half way there. He has not yet had a great awakening. No one can seen to get anywhere with him. I'm leaving. If you have a way to really reach him, then teach him well.“ (Nan 2004: 150) Als der Meister dann gestorben ist, informiert man darüber auch Huang, der direkt anreist um bei der Verbrennung des Körpers seinen letzten Respekt auszudrücken. Als der junge Mönch kurz davor ist, die Holzscheite anzuzünden, sagt er zu Huang: „Gleich wird der Körper unseres Meisters nur noch Asche sein. Wo wirst du dann den Meister begegnen? Sprich!“ Aber Huang hat in seiner ganzen Intellektualität keine Antwort darauf. Er steht genauso sprach- und ratlos da, wie in der Situation, wo ihn sein Meister mit dem Zitat aus den Analekten des Konfuzius konfrontiert hat. Diesmal folgt er aber nicht seinem Nachfolger, sondern flüchtet. Allerdings wird seine Selbstsicherheit noch mehr erschüttert, weil 1100 nicht nur sein Meister stirbt, sondern auch Kaiser Zhezong. Durch den neuen Kaiser verschieben sich die Machtverhältnisse, so das er seinen Posten am Hof verliert und über die nächsten Jahre immer weiter aus dem Geschehen herausgedrängt wird, so dass er 1103 krank und schwach im Exil in einer der südlichsten Provinzen China (dem heutigen Guangxi) an den Rand verdammt ist. Nan schreibt zu dieser Reise ins Exil: „Well, Huang Shan-ku took the opportunity of this misfortune to practice as they made their way along the road. He would even sit and meditate when they stopped. One day, the weather was quite hot and by noontime it had become unbearable. Huang Shan-ku suggested they stop and rest for a while. Getting ready to lie down, he knocked the headrest down off the bed. In those days, they used a wooden block for a pillow so it made a loud ‚clap‘ as it hit the ground. It startled him, and at that moment, he really had an awakening. He had no desire to sleep anymore and quickly wrote a letter to Ch'an master Huang-lung Ssu-hsin Wu-hsin. Then, he had someone carry it immediately back to Lu Mountain to deliver it. The letter read: Completely ordinary! My writings, my Tao, under the heavens there is not one who doesn't flatter me except you, Venerable One. Finally, Huang Shan-ku sees fit to address his dharma brother in a way worthy of such a monk. He said, you were the only one who didn't praise me and I thank you for it.“ (Nan 2004: 151) Nachdem er alle Posten und damit alle Wertschätzungen verloren hat und nur noch als heimatloser Pilger ohne ein Ziel als einem Exilsposten ist, findet er zur wirklichen Erleuchtung, indem er sich von der Erfahrung, die er erstmals bei der Cassia-Blüte erfahren hat, ganz einnehmen lässt. Dies erinnert daran, wie Zhuangzi auf das Angebot reagiert, seinen bescheidenen Gärtnerposten gegen einen Posten am kaiserlichen Hof einzutauschen: „Als Zhuangzi einmal angeboten wurde, einen Posten zu bekleiden, ließ er als Antwort ausrichten: ‚Hast du jemals ein Opferrind gesehen? Ihm werden mit Ornamenten bestickte [Decken] übergeworfen, es wird mit [feinem] Heu und Bohnenkraut gefüttert, doch wenn es ins Innere des Tempels geführt wird, kann es sich noch so sehr wünschen, ein einsames Kalb zu sein - wird man ihm dies noch gewähren?’“ (Zhuangzi 2018: 681) Zhuangzi ist die ganze Dekoration und Schmuck und Anerkennung und Im-Mittelpunkt-Stehen nichts Wert, im Vergleich dazu, dass man dies ja dann mit seinem eigenem Leben bezahlen muss. Er will nicht zum Opferrind gemacht werden, um weiterhin ohne großartige Aufmerksamkeit (außer vielleicht von ein paar Kindern) als Kalb unbekümmert auf der Wiese spielen zu können. Dieses einfache und schlichte Leben hat Huang das erste Mal bei der Cassia-Blüte erfahren, aber dann diese Erfahrung zu einem Ornament gemacht und sich umgehängt und es bei Hof präsentiert. Erst jetzt realisiert er, dass er damit nicht den Pfad des Opferrindes verlassen hat. Aber letztlich bekommt er dennoch die Kurve, vollzieht seine Kehre und μετάνοια, was die meisten, wie Zhuangzi deutlich sagt, nie schaffen, wenn sie einmal auf diesem Pfad sind. Aber auch Huang musste dazu gezwungen werden, indem er nicht freiwillig seine Posten aufgegeben hat, sondern sie wurden ihm genommen. Den letzten Schritt musste er allerdings selber tun, denn auf die Wiese des Kalbes wieder zu springen, kann einem niemand abnehmen. Aber auch dies bleibt dann immer noch die Ausnahme, weil die meisten in dieser Situation nicht in die Freiheit des Kalbes springen, sondern in die Verbitterung. 


Auch das Sutra ist an dieser Stelle, so das Subhuti an der Cassia-Blüte gerochen hat, aber der Buddha ist noch nicht sicher, ob Subhuti und alle anderen dies bis zu dieser Stelle dem Sutra gefolgt sind, sich wirklich von dieser Erfahrung im Ganzen ergreifen haben lassen. Ob sie die Vajra genutzt haben, um tatsächlich alle Wurzeln abzuschneiden und umgekehrt zu sein. Genau deswegen geht das Sutra hier weiter. Das Wesentlich ist bis zu dieser Stelle alles schon gesagt oder besser Subhuti nahgebracht worden. Nun soll es tiefer in ihm greifen.