33. Hinweis


Ch'en Ts'ao, ministry president, went to see Tzu Fu. When Fu saw him coming, he immediately drew a circle. Ts'ao said, „My coming here like this has already missed the point how much more so, to go on and draw a circle!" Fu thereupon closed the door of his room.

Hsueh Tau said, „Ch'en Ts'ao has just one eye."

Yuanwu führt den Hinweis ein mit der Beschreibung eines wahren Zen-Menschen, der alle Unterscheidungen aufhebt. Vom äußeren Verhalten kann man allerdings nicht erkennen, ob dieser Mensch nur schläfrig, dumm oder desinteressiert an allem ist oder ob er aus einem Zen-Geist alles aufhebt, wonach man gesellschaftlich eigentlich streben sollte. Er ist wie ein Stromkabel, wo man beim Anblick des Kabels nicht erkennen kann, ob Strom darauf ist oder es tot ist - man kann es anfassen und bekommt dann von einem wahren Zen-Menschen einen Stromschlag… oder man findet andere Wege dies zu testen. Wie eine solche Prüfung laufen kann, stellt dieser Hinweis dar.


Chencao, ein hoher Regierungsbeamter mit viel Selbstbewusstsein, Intelligenz und Bildung, kommt zu Zifu Rubao (資福如寶, ohne Lebensdaten) aus der Guiyang Schule (潙仰宗), die viel mit esoterische Metaphern und Symbolen gearbeitet hat und die Festlegbarkeit durch Begriffe gemieden. Diese beiden Personen können von ihrem Charakter und Grundeinstellung kaum unterschiedlicher sein. Denn Chencao ist dafür bekannt, dass er die Chan-Mönche darauf testet, ob sie formalen Kriterien der Erleuchtung entsprechend agieren. Hierzu nutzt er allerdings nur äußere Anzeichen und Reaktionen, um aus seiner Sicht zu beweisen, dass sie Erleuchtung nicht erlangt haben - vermutlich weil er frustriert ist, weil er selber hier nicht vorwärts kommt. Denn er wächst zwar in seiner buddhistischen Bildung und Schlagfertigkeit, realisiert hat er hiervon für sich allerdings nichts. Einzig bei seiner Begegnung mit Yunmen ist er gnadenlos aufgelaufen mit seiner Sophisterei. 


Dieser Mann bricht also auf, um auch Zifu zu testen. Der erkennt offensichtlich die Arroganz und Verblendung, von dem, der da zu ihm kommt. Aus der Guiyang Schule ist es ihm vertraut, intellektuelle Diskussionen mit non-verbalen Gesten wegzuwischen und zeichnet so einen Kreis, als Symbol der Leere, in die Luft. Chencao reagiert darauf, dass er verdeckt seine Zurückweisung durch die Geste von Zifu kritisiert, indem er scheinheilig darauf verweist, dass er gerade erst angekommen ist und dann so überrumpelt wird. Und zweideutig formuliert er, dass sein Kommen eh keinen Sinn hat. Aber die Sinnlosigkeit liegt nicht an der Direktheit von Zifu, die er versucht, dafür verantwortlich zu machen, sondern an seiner eigenen Verstocktheit, die nur ein Ziel im Auge hat: den Mönch bloßzustellen. Aber Zifu hat nachvollziehbarer Weise kein Bock auf diese Spielchen und macht einfach hinter sich die Tür zu. 


Xuedou kann sich nicht zurückhalten und kommentiert direkt ins Koan hinein, nämlich dass Chencao nur ein Auge hat. Er sieht nur eindimensional und zwar das, was er schon weiß oder sich als Ziel gesetzt hat. Er ist sozusagen ein Konstruktivst erster Ordnung, der kaum in der Lage ist, sich irritieren zu lassen von außen - und dabei ist Irritation und Staunen eine der wichtigsten Tugenden des Zen-Mönch, nämlich immer wieder die eigenen Konstruktionen hin in die Leere (unmarked space) aufbrechen zu lassen. Denn Chencaos eines Auge ist eben nicht das Weißheitsauge, dieses spricht Yuanwu nur Xuefeng zu. Dies liegt auch etwas an Chencao Position, denn er ist ganz öffentliche Person, also einer Person, die weiß sich darzustellen, so dass er in Wirklichkeit nur eine Drachenkörper ist, an dem ein kleiner Schlangenkörper hängt und der eigentlich gar nicht dir Kraft des ganzen Drachens besitzt. 


Dabei bemerkt Yuanwu, dass das Testen und Provozieren, was Chencao fortwährend betreibt, nicht ansich falsch ist. Nur so borniert wie es Chencao praktiziert, bringt es nichts, außer Selbstdarstellung und damit auch Festigung des eigenen Ego. Yuanwu fordert Chencao paradoxerweise aber auf, dass er Zifu „einen Hieb versetzen solle, daß er nicht mehr vor- noch rückwärts konnte! - Saget mit einmal. Worin bestände denn der Hieb, den er jenem hätte versetzen sollen?“ (Gundert 1960: 532) Gegenfrage an Yuanwu: Kann man Chencao sagen, was er zu tun hätte und was die richtige Reaktionen gewesen wäre? Hätte Chencao ohne Worte einfach durch den gezeichneten Kreis von Zifu durchspringen sollen? Oder den Kreis in die Gegenrichtung malen und damit wieder aufheben oder einfach wegwischen (weil auch die Markierung der Leere, eine Markierung ist)? Dies könnten angemessene Reaktionen eines Zen-Menschen sein, aber bei Chencao würden sie weiter verblendete und verkopfte Gesten bleiben: denn Chencao selbst bleibt verblendet und verkopft!


Yuanwu schreibt weiter, „von einem ›öffentlichen Aushang‹ dieser Art pflegt man zu sagen, daß er in seinen Worten den Kernpunkt, den es auszumachen gilt, verschlossen halte, daß sich in seinen Sätzen das innere Getriebe der Redenden verberge.“ (Gundert 1960: 534) Jede Reaktion von Chencao wäre falsch, weil er noch falsch ist als Person, und so zeigt sich das innere Getriebe darin, dass sich die ganze Situation umkehrt, so dass nicht Chencao der Tester ist, sondern ungewollt und von ihm auch unbemerkt selbst zum Getesteten wird - und durchfällt! Und genau auf dies macht uns Yuanwu auch direkt in seiner Hinführung aufmerksam: „Wenn es dir gelingt, in das, was hinter solchem äußeren Anschein liegt, hinein zu blicken, und du dann den Sinn von alledem begreifst, dann erst wirst du auch verstehen, warum die Alten einmal so verfahren und ein andermal nicht so.“ (Gundert 1960: 531) Man muss das „innere Getriebe“ eines Menschen erkennen. Dabei ist 机 (jī) ein Begriff den Yuanwu oft gerne verwendet und der sowohl Maschine oder Organismus bedeutet, aber auch der Knackpunkt sein kann, oder die Gelegenheit, der Kairos oder auch Intention. Damit wird hiermit darauf hingewiesen, dass der Test den inneren Knackpunkt eines Organismus aufdecken muss, wie er jeweils auf den Kairos (d.h. das ihm begegnende normale Leben) reagiert. Und Chencao reagiert nicht auf den Kairos, sondern spult immer wieder aufs neue sein einstudiertes Theater ab - und zeigt damit eher sich selbst und sein Defizit als das von Zifu.

Christliches Jakogu

Zugang 34

 

Yangshan fragt einen Mönch: „Von wo kommst du gerade her?“ Der Mönch sagt: „Dem Gebirge Lu.“ Shan sagt: „Hast du dich auch herumgetrieben bei den Gipfeln der ‚Fünf Alten’?“ Der Mönch sagt: „Bisher bin ich da nicht hingekommen.“ Shang sagt: „Stubenhocker, noch nie bis du in den Bergen herumgezogen.“

Yunmen sagt: „Diese Worte kommen aus Mitgefühl und Mitleid, aber ein Räuber aus dem Dickicht, der da spricht.“

 Yangshan Huiji (仰山慧寂, 807-883) gehört wie im vorherigen Zugang auch der Guiyang Schule (潙仰宗) an und ist sogar der Namensgeber des zweiten Teils dieser Schule. Sein Meister Guishan Lingyou (溈山靈祐, 771-853) hat den ersten Namensteil beigetragen. In unserem Zugang ist Yangshan nun aber selber der Meister, der einen Mönch hinsichtlich seines Zustandes des Erwachens prüfen möchte. Er beginnt das Gespräch als ganz normales Alltagsgespräch und fragt danach, wo er denn gerade herkommt. Aber hier liegt schon die erste Prüfung drin. Hakuin schreibt dazu, „Where have you just come from? This is an ordinary question, but if you therefore think it’s the usual, you’re mistaken.“ (Cleary 2000: 107) Yangshan fühlt dem Mönch hier schon auf den Zahn. Der Mönch antwortet kurz und bündig, dass er vom Gebirge Lu kommt. Nun hat Yangshan einen ersten Hinweis auf den Mönch, der aber noch nicht hinreichend ist. Zum einen könnte es bedeuten, dass er wirklich so platt ist und er gar nicht verstanden hat, dass dies eine Prüfung ist auf seinen geistigen Zustand und er einfach nur seinen letzten Aufenthaltsort stumpf zu Protokoll gibt. Aber zumindest ist er kein verkopfter Schwätzer und Angeber, der berichtet, bei welchen Meistern er alles schon gewesen ist und was er alles schon erreicht hat. Denn das Gebirge Lu ist nicht irgendeine Landschaft, sondern der Sitz von vielen Tempeln schon im antiken China und auch noch während der Tangzeit. Also verweist die Bescheidenheit des Mönches durchaus darauf, dass bei ihm mehr sein könnte.


Deshalb bleibt Yangshan nichts anderes übrig, als weiter nachzuhaken. Er fragt also spezieller nach, ob er auf den Gipfeln der „Fünf Alten“ gewesen ist. Hier zeigt sich, dass Yangshan sehr genau mit der geistigen Situation seiner Zeit vertraut ist und sich auch im Gebirge Lu auskennt. Denn an den Gipfeln der „Fünf Alten“ war gerade die Grundlage für die „Akademie zur Grotte vom weißen Reh“ (白鹿洞書院) gelegt worden, da der Dichter Li Bo (李渤, gestorben 831) dort in seinen letzten Lebensjahren sehr aktiv gewesen ist. Diese Akademie galt als eine der vier großen Akademien Chinas (书院), die im Gegensatz zu den staatlichen Bildungseinrichtungen privat betrieben wurden und die ersten im Jahr 725 entstanden. Somit bleibt Yangshan mit seiner Frage auf der Ebene der Landschaft, fragt aber implizit danach, ob er an dem damals intellektuell am interessantest Ort im Gebirge Lu war. Aber der Mönch verneint dies.


Für Yangshan hat der Mönch den Test erstmal nicht bestanden. Es ist zwar gut, dass der Mönch diesen spirituell und intellektuell hochgradig inspirierenden Ort aufgesucht hat, ohne damit anzugeben oder sich nur gelehrsam damit auseinanderzusetzen. Aber wenn man dort sich wirklich nur die Natur anschaut, ist dies auch nicht der Sinn der Sache. Es ist wie wenn man im Kloster Georgenberg ist und dort nur Wanderungen ins Karwendel-Gebirge unternimmt, aber nicht an der Liturgie und den Gesprächen im Kloster teilnimmt. Für Yangshan sind beide Seiten von gleicher Bedeutung und es geht darum, dass beide Seiten sich gegenseitig „aufheben“. Yuanwu zieht wie immer eine herrlich klare Bilanz: „Ein arger Wichtigtuer! - Er sollte seine Brauenhaare besser schonen! [Denn die Redensart besagt: Wer leere Worte macht, dem fallen seine Brauenhaare aus.] - Wo bleibt denn bei diesem alten Chinesen noch etwas von dem tödlichen Eifer [wie ihn der rechte Meister an den Tag legt]?“ (Gundert 1967: 26) Nun also doch ein Wichtigtuer (oder man könnte auch wörtlicher „großer Nichtsnutz“ übersetzen, was auch besser zu unserer Übersetzung des Stubenhockers passen würde), obwohl er so bescheiden daher kommt. Aber Yuanwu hat dies schon klar erkannt. Denn der Mönch gibt vor an einer anderen Stelle zu stehen, als er eigentlich ist. Denn es ist zwar richtig, fest im Alltag und den alltäglichen Dingen zu stehen, aber dafür muss man diese erstmal verlassen haben. Ich muss erst gelernt haben, dass die ganzen Dinge, die mich täglich beschäftigen alle nichtig sind und Illusionen, die mich rastlos durchs Leben treiben mit sinnlosen Zielen. Dies muss ich erkennen, dann kann ich wieder in die alltäglichen „Geschäfte“ einsteigen, aber diesmal mit einer Gelassenheit, die aus dem Nichts kommt und nicht aus einer Trägheit, Faulheit und Dummheit. Aber die Gelassenheit des Dummen und des Weisen sehen von Außen halt verdammt ähnlich aus. Und genau so beschreibt Yuanwu den Weisen am Ende seiner Erläuterungen zu diesem Zugang: „Wer es bis dahin bringt, der ist dann freilich wie ein Blöder, sieht einem Einfaltspinsel ähnlich. Aber gerade so wird er diesen öffentlichen Aushang [dieses 34. Beispiel] richtig sehen und verstehen. Wer diesen Grund und Boden nicht erreicht hat und nur im Kreis des Wortlauts weiterläuft, an welchem Tag wird der wohl seinen Schlußtermin erleben.“ (Gundert 1967: 31)


Yuanwu zitiert am Ende noch einige Verse von Yongjia Xuanjue (永嘉玄覺, 665-713), einem Tiantai-Mönch, aus seinem sehr bekannten Zhengdao Ge (证道歌, jap. Shodoka, zit. nach Gundert 1967: 30f.): 


Geist, das ist die Wurzel, 

Dingliches ist Staub.

Beides aber gleicht noch Flecken

Auf dem Spiegel drauf.

Wird er rein von Fleck und Schrammen, 

Leuchtet erst er klar.

Beides, Geist wie Ding, vergessen

Zeigt das Wesen wahr.


Yongjia macht deutlich das Geist (bei dem Mönch in unserem Zugang, die Akademie am Berg der „Fünf Alten“) und die Dinge (die reine Landschaft des Gebirges Lu) erstmal noch falsch sind. Sie müssen erkannt werden und dann der Spiegel von ihnen rein gemacht werden. Dann leuchtet alles in seinem Wesen. Dahin will ihn Yangshan führen und um seine ruppige Art richtig einzuordnen wird noch ein Kommentar von Yünmen hinzugefügt: „Diese Worte kommen ganz und gar aus Mitleid und Erbarmen. Darum redet er wie einer, der sich ins Gras hat fallen lassen.“ Und Yuanwu erläutert Yünmen: „Einen Säbel, um zu töten; einen Degen zum Lebendig-machen! [Auch Yang-schan führt das Schwert des Geistes nach beiden Seiten, ist streng und mild zugleich. Seine Güte kommt aus eisiger Höhe; sein vernichtendes Urteil ist lautere Güte.] - Zweie sind es, dreie sind’s! [Auch Yün-mën mit dieser seiner Anmerkung, und Hsüä-dou, welcher sie hier an die Anekdote anfügt, sind von gleicher Art. Sie lassen sich genau wie Yang-schan ‚ins Gras fallen‘ und sind doch hoch darüber.]- Um Pfade im Gebirge zu erkunden, brauchst du einen, der auf ihnen hin und her geht.“ (Gundert 1967: 26) Wie immer sind die Worte von Yünmen sehr gehaltvoll. Zunächst rückt Yünmen die Motivation von Yangshan zurecht, denn dieser will sicherlich nicht den Mönch vorführen oder lächerlich machen, sondern handelt ganz aus „Mitgefühl und Mitleid“. Denn er will den Mönch auf den richtigen Weg bringen, will dass er zur Wahrheit gelangt, d.h. er will nur etwas Gutes für den Mönch. Aber hierfür muss man die Menschen oft eher stoßen und schupsen, als sanft zu überzeugen (eine Pädagogik-Professur würden die Chan-Meister alle nicht bekommen - zumindest heutzutage nicht). Yünmen spricht dann weiter einen recht kryptischen Satz, den Gundert übersetzt mit „Darum redet er wie einer, der sich ins Gras hat fallen lassen“ und auch andere Übersetzungen folgen meist dieser Lesart. Aber Yünmen ist auch ein Meister im Spiel der Mehrdeutigkeit von Worten in seinen Äußerungen und hier spricht er von 落草. Dies kann wörtlich sicherlich sich ins Gras sinken lassen bedeuten. Aber gerade im antiken und mittelalterlichen Chinesisch hat 落 vor allem die Konnotation in Richtung loslassen, sich verlieren, untergehen etc. Und als zusammengesetzter Begriff 落草 hat es auch die Bedeutung von  „geboren werden“ genauso wie „sich einer Räuberbande“ anschließen. Deswegen haben wir dies hier mit „aber ein Räuber aus dem Dickicht, der da spricht“ übersetzt. Denn Yangshan spricht hier zum einen wie ein Baby, dass noch keine Unterscheidungen kennt aber auch wie ein Räuber, der alle Unterscheidungen und gesellschaftliche Konventionen hinter sich gelassen hat. Und der Räuber passt auch gut zu dem, was Yuanwu dazu sagt, dass er hier mit einem Säbel unterwegs ist, der tötet. Aber Yangshan tötet mit seinen Worten zwar wie ein Räuber, aber er macht auch gleichzeitig wieder lebendig. Man könnte sagen, indem der Räuber dem Reichen allen Besitz nimmt, lässt er ihn mit sich selbst allein zurück und gibt ihm so die Chance zu erkennen, dass dies viel mehr ist, als alle Güter die er vorher besessen hat und die ihn vor allem von sich selbst nur abgelenkt haben (in gewisserweise ist dies auch eine Parallele zur Geschichte von Job im Ersten Testament). Der japanische Mönch Tenkei gibt hier eine gute Zusammenfassung: „when Gyozan asked him if he had been to Five Elders Peak, he was being very compassionate. What place is this? Where are you right now? The monk said he had never been there; unfortunately he missed what was right in front of him; apparently he didn’t hear. He didn’t realize it’s the great matter right at his feet. When Gyozan told him he had never even traveled the mountain, he was attentively trying once again to help the man. “Traveling the mountain” means passing through formal Buddhism and no longer establishing views of Buddha or views of Dharma. There is no such thing as roaming the mountains and enjoying the rivers in the context of formal Buddhism. As for Ummon’s remark, this is known as his method of lifting up and putting down, where one can censure and praise independently according to the situation.“ (Cleary 2000: 108)


Es gibt noch einen anderen Dialog von Yangshan, der sich auch mit diesem Thema auseinandersetzt und hier unkommentiert den Abschluss bilden soll: „Yangshan said, ‚What place are you from?‘ Siyi said, ‚From You Province.‘ Yangshan said, ‚Do you still think of that place?‘ Siyi said, ‚I often think of it.‘ Yangshan said, ‚That which thinks is the mind. That which is thought of is the environment. In the environment are buildings, towers, forests, gardens, people, horses, and other things. If you stop your thoughts, are there still so many categories of things or not?’ Siyi said, ‚When I reach here, I don’t see any existing.‘ Yangshan said, ‚What you have realized is still within mind. It brings about the stage of belief. It is not the stage of person.’“

Christliches Jakogu:

„Maria aber stand auf in diesen Tagen, machte sich bereitwillig auf den Weg ins Gebirge“ (Luk 1, 39)

Unmittelbar vorher ist Maria der Engel Gabriel erschienen und hat ihr verkündet, dass sie einen Sohn gebären werde. Ihre Antwort darauf könnte auch als Äußerungen eines Chan-Menschen nach seinem Erwachen sein: „Ich bin die Magd des Herrn, geschehe mir nach deinem Wort!“ Zwar kennt der Chan-Meister keinen Herrn, aber die Bereitwilligkeit sich der Wahrheit im Nichts der Situation zu überlassen, schöpft aus dem gleichen Grund. Maria geht nach dieser „Herausforderung“ mit dem Engel (die bei unserem Mönch oben, die Begegnung bei den „Fünf Alten“ hätte sein sollen) bricht sie auf ins Gebirge, um dieses Erlebnis für sich einzuholen. Erst danach geht kann sie wieder in einer Stadt in Juda (also im normalen Alltag) einkehren, um ihrer Verwandten Elisabeth zu begegnen.



Zugang 35


Wenshu (Manjusri) fragt Wuzhuo: „Von wo kommst du gerade her?“  Wuzhuo sagt: „Aus dem Süden.“ Shu sagt: „Wie ist im Süden die Buddhalehre und die Äbte? Zhuo sagt: „Mönche in der Zeit des Niedergangs halten nur wenig die Gebote.“  Shu sagt: „Wie groß ist die Gruppe?“ Zhuo sagt: „Vielleicht dreihundert, vielleicht fünfhundert.“

Wuzhuo fragt Wenshu: „Wie viele Äbte gibt es hier?“ Shu sagt: „Weltliche und Weise leben zusammen, Drachen und Schlangen sind vermischt.“ Zhuo sagt: „Wie groß ist die Gruppe?“ Shu sagt: „Vorher drei und drei, nachher drei und drei.“

Wuzhuo Wenxi (無著文喜, 821–900) ist ein Schüler und Nachfolger von Yangshan aus dem vorherigen Zugang und auch das Gespräch ähnelt dem dortigen vom Einstieg. Aber dem Bodhisattva Wenshu geht es um einen etwas anderen Aspekt. Denn Wuzhuo ist deutlich weiter auf seinem Weg, als der Mönch dem Yangshan begegnet. Wenshu fragt danach, wie die Buddhalehren gelebt werden in seiner Heimat. Darauf beklagt sich Wuzhuo, dass es alles fürchterlich dekadent und im Niedergang wäre. Die übliche Klage, die man zu allen Zeiten kennt: früher war oder in den alten Zeiten war alles besser und heute alles im Verfall! Aber zumindest sind es selbst nach Wenzhuos Ansicht immer noch einige Hundert, die die Buddhalehre adäquat weiterleben und -geben. 

 

Daraufhin ergreift Zhuo die Frageinitiative und fragt den Bodhisattva wie viele denn in dieser Gegend beim Bodhisattva die Buddhalehre gut leben. Vermutlich denkt er, dass hier das „gelobte Land“ ist und hier alles viel, viel besser wäre. Hier stellt sich dann schon die Frage, inwiefern er wirklich ein Meister ist… vielleicht ist es auch nur buddhistische Gelehrsamkeit und wenig Welterkenntnis. Da ist ihm selbst ein Jugendlicher im Ruhrpott voraus, der für sich erkennt „Woanders is’ auch scheiße“ (Tim Sohr). Der Bodhisattva dagegen teilt die Ruhrpott-Weisheit und antwortet, dass es auch hier Menschen gibt, die die Buddhalehre gut leben und andere, die sich weltlichen Dingen hingeben. Wenshu spricht hier von Drachen und Schlangen, die zusammenleben. Hierzu schreibt Gundert: „Hier im Wu-tai-Hochgebirge, dem heiligen Bezirk des Bodhisattva Manjushrì, da muß es gewiß ganz anders stehen. Welch ein Trost wird es für ihn sein, zu hören, wie hier oben das Gesetz des Buddha in der Blüte steht! Was aber ist der Zustand, den ihm Manjushrì nun schildert! Ein großes Durcheinander, eine bunte Mischung! Drachen, d. h. überwärts Aufsteigende, Bodhisattvas, Heilige ohne Fehl und Flecken, und daneben ein Gewimmel von Reptilien, die dem Anschein nach den Drachen etwas ähnlich sind, aber auf der Erde kriechen bleiben, jedes Höhenflugs unfähig. Das ist für Wu-dscho eine kräftige Enttäuschung. Und unbehaglich obendrein, vielleicht geradezu anstößig ist ihm die Ruhe, mit welcher ihm der große Bodhisattva diesen Zustand schildert, so als mache ihm das gar nichts aus. Halb ängstlich, halb inquisitorisch nimmt er nun den Bodhisattva ins Verhör und stellt, wie vorher dieser, die Frage nach der Zahl der echten Buddhajünger oben im Wu-tai-Gebirge.“ (Gundert 1967: 59) Zhuo hat dann noch die Hoffnung, dass die Gruppe der Drachen vielleicht größer ist, als bei ihm Zuhause - aber so einfach bestätigt Wenshu dieses Weltbild nicht. Hier kommt nur eine recht kryptische Antwort: „Vorher drei und drei, nachher drei und drei.“ Gundert will dies als mysteriöses Mantra so stehen lassen (möglichst auch nicht übersetzt aus dem Chinesischen) und in seiner ganzen Kryptik wirken lassen. 

 

Xuedou scheint Gundert auch als Bestätigung nutzen zu können, denn in seinem kommentierenden Gedicht, wiederholt er ohne Veränderung nur diese Phrase von Wenshu. Aber der Vers davor rückt dies noch einmal in ein anderes Licht: „Kaum ertragbares Lachen: Wie viele in der klaren Kälte leben…“ Hahaha! Xuedou kann auf diese Frage nur mit einem herzhaften, tiefen Chan-Lachen reagieren. Zhou will tatsächlich abzählen, wie viele zum Erwachen gekommen sind und der Buddhalehre entsprechen! Sitzen wir hier in der Schule, der eine bekommt eine 1 in Buddhalebensführung und die andere eine 5? Und wann ist man bitte schön wirklich erwacht… das weiß man ja noch nicht einmal beim alltäglichen Wachzustand… bin ich tatsächlich wach, wenn mein Wecker klingelt oder wenn ich in einer Besprechung sitze? Hahaha! Klar ist die Kunst der Unterscheidung wichtig, man muss Drachen von Schlangen unterscheiden können. Aber wir sind hier in einer wunderbaren Welt, wo der Schlange Beine und Flügel wachsen können, wenn sie sich darauf einlässt (denn in ihrem Wesen ist sie mit dem Drachen nah verwandt). Aber genauso fallen dem faulen Drachen die Flügel ab und anstatt Feuer kommt nur noch abgestandener Mundgeruch von erstarrten Lehren aus seinem Mund. In dieser Welt kann man nicht zählen, rechnen, etikettieren… sondern kann sich nur immer wieder auf das Wunder einlassen: wachsen mir in diesem Moment die Flügel eines Drachens oder nicht? Sicher kann man da nie sein. Aber erfahren kann ich dies auch immer erst, wenn ich in den Abgrund springe! Zu blöd, dass man sich der Flügel da nicht sicher sein kann. Da bleibt man besser wohlbehütet zurück, lässt die Flügel verkümmert, aber erzählt dafür umso lauter, was für ein toller Drache man ist. Das ist der Drache als platonischer Schwätzer in der Höhle. 

 

Und dies ist dann Wenshus Berechnung vorher können Drei von Drei Drachen sein (oder auch Schlangen), nachher kann dies sich umkehren oder auch gleichbleiben! Hahaha! Mit Rechnen und Versicherungen kommt man hier nicht weiter. Spring einfach! Und erst dann wirst du feststellen, ob du Flügel hast oder nicht… und vielleicht wachsen Flügel auch erst in dem Moment, wo man springt!

...

Zugang 36: Changsha zieht umher im Gebirge


Eines Tages zog Changsha durch das Gebirge umher. Als er wieder beim Eingangstor ankommt, fragt der Klostervorsitzende: „Wo kommt der Mönch her?“ Sha entgegnet: „Komme vom umherziehen aus dem Gebirge.“ Der Vorsitzende entgegnet: „Bis zu welchen Orten bist du gekommen?“ Sha entgegnet: „Erst bin ich den duftenden Gräsern nachgegangen, und zurück dann den verwelkten Blüten.“ Der Vorsitzende entgegnet: „Offensichtlich liegt Frühling in der Luft.“ Sha entgegnet: „Aber der Herbst ist nicht überwunden, wenn der Lotus aus dem Wasser kommt.“

Xuedou bemerkt hierzu: „Dank für diese Antwort!“

Changsha Jingcen (長沙景岑, 788-868) war ein direkter Schüler von Nanquan Puyuan (南泉普願, 748-835). Er führte ein recht unstetes Wanderleben, was sich auch schon in seiner Lebensphase, wo er noch fest in einem Kloster lebte, in unsere Zugang zeigt. Denn auch hier streift er schon durch die Berge. Es wundert nicht, dass er den Spitznamen Tiger trug (vgl. Gundert 1967: 68). „He had the nickname ‚Tiger Cen.‘ Although he is known to have lived in the city of Changsha at Lushan Temple, Jingcen roamed China expounding the Dharma according to the situations he encountered. He possessed an extremely pointed and aggressive style of instruction. Thus, after Jingcen literally climbed on top of Yangshan, he was widely likened to a tiger.“ (Ferguson 2011: 149) Interessant ist, dass der Text nicht schreibt, dass Changsha durch die Berge wandert oder geht, sondern das Wort 游 verwendet, was eher schwimmen, spielen, umherziehen, fließen bedeutet. Aber der Klostervorsteher scheint eher abzufragen, welche konkreten Orten er auf seiner Wanderung abgearbeitet hat bzw. die er sich vorgenommen hat, zu erreichen. Aber genau dem verwehrt sich Changsha, indem er betont, dass er „nur“ umhergezogen (游) ist im Gebirge. Aber der Vorsitzende insistiert, dass er doch die konkreten Orte benennen soll, die er geschafft hat auf seiner Wanderung. Aber so ist Changsha nicht unterwegs gewesen, denn er hat sich nichts an konkreten Zielen vorgenommen zu erreichen. Er hat sich treiben lassen von dem Duft der Pflanzen und den wieder verblühenden Blumen. Nun glaubt der Vorsitzende verstanden zu haben, liegt aber dennoch unendliche daneben. Denn Changsha hat nicht einfach nur den schönen Frühling genossen. Und er hat dies auch in seiner Antwort schon angemerkt, indem er nicht nur den frühlingshaften Duft genannt hat, sondern genauso die herbstlich verwelkenden Blumen. Der Vorsitzende hat allerdings nur den ersten Teil der Antwort gehört, weil es in sein Weltbild passt: denn wenn man nicht wandern geht mit festen Zielen als Herausforderung, dann kann man tatsächlich auch mal einfach nur den Frühling genießen. Ein Zenmensch ist er nicht, sondern ein normaler Spießer! 

 

Mit seiner letzten Antwort versucht Changsha noch einmal deutlich zu machen, dass dies alles nicht so einfach und einseitig ist. Vermutlich wird der Vorsitzende auch diesen Hinweis nicht hören, aber Xuedou feiert ihn dafür umso mehr. Aber wo reden denn der Vorsitzende und Changsha aneinander vorbei? Der Vorsitzende geht offensichtlich davon aus, dass Changsha mal die „Seele hat baumeln“ lassen und ist etwas in den Bergen wandern gewesen und dies auch noch in einer herrlichen Frühlingsstimmung. Also ein sonntäglicher Frühlingsspaziergang mit belgischer Waffel und einem Bier wie man ihn so oft beobachtet. Aber das ist Changsha nicht! Und es ist erstaunlich, wie der Vorsitzende dies überhören kann, denn Changsha scheint doch sehr weit von dessen Welt entfernt zu sein. Denn er weist immer wieder darauf hin, dass er nicht nur dem Frühling folgt, sondern genauso dem Herbst. Und Yuanwu hört wie sein Meister dies auch sehr deutlich indem er den ersten Hinweis, das Frühling und Herbst zusammengehören und nicht einzelne zu haben sind, folgendermaßen kommentiert: „Nicht wenig rutscht ihm hier der Spott heraus, denn eigentlich ist er nur im Dornenwald zuhaus.“ (碧岩录 2016: 155) Changsha schlendert also nicht unbekümmert seiner Wege, sondern zieht in höchster Konzentration durch das Gebirge, wie im Dornenwald, darauf achtend, wo sich Wege im Dickicht auftun und immer darauf konzentriert, sich nicht an den Dornen die Haut aufreißen zu lassen. Dies hat nun gar nichts mehr von einer entspannten belgischen Waffel! So merkt Gundert zu Yuanwus Kommentar noch an, „seine fast anstößige Unbefangenheit ist in Wirklichkeit nur die Frucht langjähriger harter Übung.“ D.h. einer Übung, die das Umherziehen im Dornenwald als Leichtigkeit und Unbekümmertheit erscheinen lassen, wo allerdings die Ungeübten blutig und voller Angst irgendwo in der Sackgasse festsitzen würden. Changshas zweiten Hinweis auf den Herbst kommentiert Yuanwu so: „Der erste Pfeil traf noch leicht, der folgende Pfeil dagegen tief. Wann werden sie sich jemals begegnen können?“ Das eine Begegnung hier gerade kaum möglich ist, beschreibt Gundert sehr einfühlsam: „Es verschlägt dem Vorsitzer die Sprache. Von dem Standpunkt aus, den er sich unter Tschang-scha's Leitung aufgebaut hat, wüßte er natürlich manches zu erwidern. Aber irgend etwas hält ihn davon ab. Er fühlt, daß alles, was er dem Meister entgegenhalten könnte, lauter Dinge sind, in denen ihm dieser selbst seit Jahren Vorbild und noch immer weit voraus ist. Er fühlt, daß ihn aus dieser ganz leicht hingeworfenen Bemerkung eine kühle Höhe anspricht, die mit Frühlingsstimmung der gemeinen Art sowenig zu tun hat wie mit sentimentaler Herbsteswehmut. Ja, vielleicht fühlt er, daß der Meister nur ihm zulieb den Frühling vor dem Herbst gelobt hat, um ihm zur Ehrlichkeit vor sich selber zu verhelfen. Und er muß sich schämen; denn mit dem Ausdruck ‚Frühlingsstimmung‘ hat er sich ja selbst verraten. Vor der Bruderschaft ist er der Nächste nach dem Meister. Nun geht er still neben ihm her dem Kloster zu, getroffen vom Gefühl der Kluft, die ihn noch vom Geheimnis dieses rätselhaften Mannes trennt.“ (Gundert 1967: 79) 

 

Der Vorsitzende und Changsha leben einfach in verschiedenen Welten, wo offensichtlich keine Begegnung möglich ist. Dabei steht der Vorsitzende für den „normalen Menschen“, Heidegger würde sagen das „Man“ (Heidegger 1993: 114ff.) oder Dostojewskij nennt dies den „Tatmensch“: „alle unmittelbaren und alle Tatmenschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. Wie sich das erklären lässt? Folgendermaßen: Infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die augenscheinlichen und zweitrangigen Ursachen für die primären und lassen sich auf diese Weise rascher und leichter als die anderen überzeugen, daß sie einen unanfechtbaren Grund für ihre Tätigkeit gefunden haben; damit geben sie sich zufrieden, und das ist die Hauptsache. Denn, um eine Tätigkeit zu beginnen, muß man restlos beruhigt und aller Zweifel enthoben sein. Nun, wie soll ich zum Beispiel mich beruhigen? Wo sind meine primären Gründe, auf die ich mich stützen kann, wo meine Ursachen? Woher nehme ich sie?“ (Dostojewskij 1984: 19; vgl. auch Nishitani 1990: 139ff.) Der Ich-Erzähler in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ ist hier interessant, weil er auf dem halben Weg zwischen dem Vorsitzenden und Changsha steht. Oder besser er hat sich auf dem Weg gemacht, so dass er aufgebrochen ist aus der behüteten Dummheit des „Man“ und nun im vollen Bewusstsein den Dornenwald wahrnimmt und sich ungeübt hier überall verletzt. Das ist die Tragik und der Abgrund, woraus die Figuren bei Dostojewskij leben und die ihn heute genau so aktuell sein lässt, wie im 19. Jhd. Denn es sind immer noch nur wenige aufgebrochen und in der abendländischen Kultur haben wir noch längst keinen Weg zur Ruhe gefunden, in den Changsha hineinwinkt. 

 

Changsha hat nicht nur die Herdenwärme des „Man“ verlassen, die ihr kleines aufgeblasenes Ich in der Frühlingswärme genießt. Dies hat Dostojewskij auch geschafft, hat quasi den Herbst im „Kellerloch“ oder etwa den „Bösen Geistern“ erreicht. Changsha übersteigt aber selbst den Herbst, so dass er den Abgrund im Keller durchwandert hat, aber dann wieder zurück ins Leben gefunden hat, also wieder aus der Tür treten kann. Aber eben in ein ganz anderes Leben, als das des Vorsitzenden. Der japanische Zenmeister Tenkei schreibt zu diesem Koan: „First I followed—roaming the mountains without impediment, without fixation anywhere, beyond emotional objectification of comparative judgments. Like spring— How peaceful the sense you express, like the sense of spring, he says, with the underlying meaning that there still seems to be some warmth somewhere. Surpasses autumn—No there isn’t. Don’t you know it is a pure, cool state of mind, without the slightest breath of warmth? Since the congregation leader lacked this ability, Setcho bunged up the gap and expressed thanks for Chosha’s final words, even though it was the congregation leader himself who should have said thanks.“ (Cleary 2000: 116) Da der Vorsitzende noch gar keinen Zugang zur Welt von Changsha findet, so übernimmt den Dank Xuedou. Und diesmal reicht ihm hier nicht nur sein Gesang zum Koan, sondern er muss den Dank direkt schon im Koan gegenüber Changsha loswerden. Ein wenig als ob er ihm zurufen wollen würde, dass er zwar sehr einsam in seiner Welt ist, da es kaum wahre Begegnungen gibt, aber manchmal ereignen sich solche Augenblicke doch, so dass ich ganz selten einen Menschen treffen kann, der mir auch aus dieser gleichen Welt heraus zunickt und grüßt. Eine intime, reine Geste, inmitten der stinkenden Herdenwärme, die einen leider immer umgibt. 

 

Da der Vorsitzende nicht den Hinweis mit den verwelkten Blüten versteht, zitiert Xuedou in seinem Gesang diese beiden Zeilen noch einmal und fügt diesen zwei weitere hinzu, um uns Lesern deutlich zu machen, dass es hier nicht um einen sonntäglichen Frühlingsspaziergang im überfüllten Park mit anschließendem Bier in der Sonne geht (碧岩录 2016: 157): 

 

„Der abgemagerte Kranich streckt sich auf dem winterlichen Baum, 

Der wahnsinnige Affe auf der antiken Terrasse, 

Changshas grenzenloser Geist, 

Huaahhh!“ 

 

Nun muss man sich auf die Dynamik und Eskalation dieser vier Verse einlassen. Der Kranich im Winter und der Affe in einem verfallenen alten Gebäude hören sich jetzt nicht besonders nach Gemütlichkeit an und verweise darauf, dass Chan-Buddhismus kein Wellness ist, sondern karge Wirklichkeit. So weit, so klar! Zumindest uns, sollte dieser Aspekt jetzt deutlich sein, dass der Frühling nicht ohne den Herbst zu haben ist. George Spencer Brown würde sagen, es sind die beiden Seiten einer Unterscheidung und es muss immer ein Crossing möglich sein, so dass ein Crossing vom Frühling in den Herbst immer möglich ist und auch immer mitläuft. Aber genau an dieser Stelle implodiert Xuedous Hirn und es bricht aus ihm quasi physisch Spencer Browns nächster logischer Schritt durch: das re-entry. Denn er spricht auf einmal ganz unvermittelt von Changshas grenzenlosem Geist. Denn nun beginnt es zu oszillieren zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung und Xuedou fällt unvermittelt in den tiefen Dornenwald einer paradoxen Welt.  Auch Yuanwu weist auf diesen Bruch im Gesang hin: „Wenn jemand wirklich diesen Bereich erreicht, wem werden sich da nicht die Augen öffnen?! Wer sich darauf einlässt, alles auf den Kopf zu stellen, dem wird jeder Ort immer wahrhaft in diesem Bereich gründen und zu jeder Zeit diese Verbindung haben. Alle zehn Richtungen haben keine Mauern mehr, sind alle gefallen, zu allen Seiten gibt es keine verschlossenen Tore mehr. Deswegen ist der Weg: ‚Erst bin ich den duftenden Gräsern nachgegangen, und zurück dann den verwelkten Blüten.‘ Xuedou sollte geschickt genug sein, nicht einfach nur hinzugehen, dass er einen Vers schön zur linken Seite ergänzt und einen schönen Vers auf der rechten Seite. Dies ist ähnlich, wie wenn man einem Gedicht einen Titel gibt. ‚Der abgemagerte Kranich streckt sich auf dem winterlichen Baum, / Der wahnsinnige Affe auf der antiken Terrasse‘. Aber dann veranlasst es Xuedou doch, dass er darüber spotten sollte, so dass es unerwartet aus ihm herausbricht: ‚Changshas grenzenloser Geist, / Huaahhh!‘ Dies ist wie aus einem Traum aufzuwachen und wieder zur Besinnung zu kommen. Aber Xuedou hat zu wenig getrunken, um alles auszulöschen. Dagegen würde der Bergmönch Changsha nicht unbegrenzt Ideen spinnen lassen, sondern tief in der Nacht ihn in der Erde begraben.“ (碧岩录 2016: 157f.) 

 

Aber dieser vorletzte Vers des Gesangs ist recht mehrdeutig, gerade wegen dem Zeichen 意 (Yì), was wir hier als Geist übersetzt haben, aber auch Bedeutung, Wunsch, Verlangen, Hinweis, Geste, Anflug, Erwarten bedeuten kann. Hier irren leider die Übersetzer Cleary und Gundert, wenn sie dies mit Meaning oder Sinn übersetzen, denn einen definierten, begreifbaren Sinn hat Changsha nicht gefunden, auch wenn er grenzenlos ist. Aber schaut man in das „Dictionary of Chinese Buddhist Terms“ wird recht deutlich, worum es Xuedou an dieser Stelle geht: 意 bedeutet „Manas, the sixth of the ṣaḍāyatanas or six means of perception, i.e. sight, hearing, smell, taste, touch, and mind. Manas means ‚mind (in its widest sense as applied to all the mental powers), intellect, intelligence, understanding, perception, sense, conscience, will‘. It is ‚the intellectual function of consciousness'. In Chinese it connotes thought, idea, intention, meaning, will; but in Buddhist terminology its distinctive meaning is mind, or the faculty of thought.“ Und das „Digital Dictionary of Buddhims“ schreibt hierzu: „Thought, intellect (Skt. manas; Tib. yid); the mind (Skt. citta; Tib. sems). Intention, aim, inclination (Skt. āśaya, abhipraya; Tib. bsam pa). Consideration, mind, thought, idea; the action of the pondering mind. (Tib. nyon yid rnam par shes pa; Pāli manas). In Thought, intellect (Skt. manas; Tib. yid); the mind (Skt. citta; Tib. sems). In 'eight consciousness' theory (such as in the Yogâcāra school), it is a term for the seventh (manas 末那識) consciousness. In this case, the sixth manovijñāna is usually expressed as 識. In Sarvâstivādin 說一切有部 theory, the mental faculty (among the six faculties), functioning to cognize. The mind organ—synonymous with 心 and 識.“ Damit hat 意 in diesem Zusammenhang wenig mit einer bestimmten Bedeutung oder Sinn zu tun, sondern drückt den Geist aus, der grenzenlos geworden ist, d.h. der jeden markierten Sinn immer wieder aufbrechen kann, der nicht nur immer wieder ein Crossing ermöglicht und kreativ immer wieder neue Wege findet. Sondern der ein re-entry vollzieht und darin den unmarked space erfährt. Dies ist ein Leben, was alles auf den Kopf stellt, was „man“ so normalerweise macht. Und Yuanwu schreibt weiter, dass jeder Ort, aber auch jeder Gedanke, jedes Seiende immer in diesem Bereich gründet. Dies ist zwar immer so, nur Changsha ist einer der wenigen, für den sich dies bewusst immer wieder aufs neue ereignet. Denn ein re-entry ist auch nach Spencer Brown immer für eine Unterscheidung möglich - ich muss es einfach nur tun! 

 

Allerdings ist dieses „einfach nur tun!“ nicht so leicht, weil es dann kein „Geländer“ mehr gibt, es bricht Orientierung und jede Unterscheidung weg. Und selbst dem wortstarken Xuedou gehen an dieser Stelle die Worte aus und er kann seinen Gesang nur mit einem Schrei abschließen. Das Schriftzeichen, was er hierfür benutzt, hat im alten Chinesisch auch eine recht breite Bedeutungsvielfalt. Um ein drittes Wörterbuch zu zitieren, nun das „A Students Dictionary of Classical and Medieval Chinese“ von Paul W. Kroll, bedeutet  咄 (duō): „1. rail at, berate, bellow at. 2. gasp at in surprise, ‚whoa!‘; also, sigh of dissatisfaction, ‚well now . . .‘; also, expression of impatience, ‚tut-tut.‘“ Xuedou hat selbst in seiner Wortlosigkeit ein Zeichen gefunden, was einen richtigen Hinweise darstellt, da hier das Aufbrausende, das Überraschende, das Überwältigende und Drängende gut ausgedrückt wird. Aber Yuanwu ist selbst das zu viel der Bedeutungen, so dass er seinen Meister hier korrigieren möchte. Yuanwu will gar keine Worte mehr hören, noch nicht einmal einen Aufschrei. Denn selbst dieser differenzierte Aufschrei ist brainfuck! Yuanwu will alles nur der Grabesruhe übergeben. Aber diese Grabesruhe muss sich nicht erst am Ende unseres physischen Lebens ereignen, es ist auch kein Privileg der großen Tang-Zeit, wo es noch „echte“ Chan-Meister gegeben hat. Sondern Yuanwu sagt richtig, dass man diesen Bereich jederzeit und von jedem Ort erreichen kann. 

 

So endet genau in diesem Geist ein Roman aus dem letzten Jahr über eine Meerjungfrau, die sich entschlossen dagegen wehrt, zu einem Mädchen gemacht zu werden, wie man sie gesellschaftlich haben will: And I was not a girl - I was a mermaid. A mermaid destined to swim in water not infected by chlorine. A mermaid destined to travel to her brethren under stars and moons and night skies. A mermaid destined to float suspended in de soothing cradle of water; abandoning her weighty human troubles. A mermaid destined to be mermaid. 

A mermaid destined to be free. 

As Ren Yu. As me. 

I swam away. 

Christliches Jakogu 

Als das Kind durch den Wald getragen, da haben die Dornen Rosen getragen. Jesus und Maria (GL 224)


Auch Maria zieht umher durch den Dornenwald und indem in ihr das Kind wächst, beginnen die Dornen zu blühen. Die Unterscheidungen lösen sich hier genauso wie im Koan auf. Aber dies ist keine einmalige Szene vor 2000 Jahren, sondern die Gottesgeburt ereignet sich auch in uns, so wie dies Ueda für Meister Eckhart beschrieben hat (vgl. Ueda 1965). Nur dabei dürfen wir uns Maria nicht so steril, devot und überhöht vorstellen, sondern eher als eine bodenständige Frau, die sich authentisch ganz auf Gottes Anruf und Wink einlässt. Und so ist auch das Lied „Maria durch ein Dornwald ging“ nicht perfekt, sondern atmet aufrichtig aus einer tiefen Sehnsucht und Ansprache heraus: „Die Verszeilen haben unterschiedliche Silbenzahlen und wirken teilweise wie Prosa (der hat in sieben Jahrn kein Laub getragen). Sie lassen sich deshalb nicht immer leicht den Noten zuordnen. Das wirkt archaisch und auf eine liebenswürdige Weise holprig. Die wehmütig klagende Mollmelodie fügt sich gut zu dem schmerzlichen Text der ersten und zweiten Strophe, während sie zur freudigen Botschaft der dritten Strophe in einen gewissen Kontrast gerät.“ (Franz et al. 2017: 744) Diesen Kontrast, diesen Übergang und Widerspruch brauchen wir auch in einem christlichen Glauben, nur dann können wir liebenswürdig holprig durch diese Welt umherziehen.

 Hinweis 37


Panshan hat einen Spruch hinterlassen, der geht: „In den drei Bereichen gibt es kein Seiendes, wo ist dann der Geist zu suchen?“

Wo soll ich den Geist suchen, wenn ich mich nicht an Seiendem orientieren kann? Alles was mir erkennend begegnet ist Seiendes. Aber der chinesische Begriff für Seiendes 法 (fa, Sanskrit dharma) bildet hier auch eine entsprechende Vielfältigkeit in seiner Bedeutung ab, denn er bedeutet nicht nur Dinge, sondern auch das Gesetz, die Methode, das Muster oder auch der Standard. Also die Einordnung von Dingen in einem Bedeutungszusammenhang, was für uns Menschen ja erst ein Ding ausmacht. Gundert schreibt hierzu: „Aber in der Sprache der Buddhisten hat ‚dharma‘ eine noch viel weitere Bedeutung. Es kommt von dem Zeitwart ‚dhar‘, und das heißt ‚halten’. So kann es einesteils Gesetz, Ordnung und Recht bedeuten und andernteils im allgemeinsten Sinn jegliches Erdenkliche ‚in den drei Reichen‘, was dem Geist sich zur Betrachtung, zur Benennung und Behandlung bietet, woran er ‚sich halten’ kann, also Objekte und Gegebenheiten jeder Art.“ (Gundert 1967: 91f.) Panshan nimmt mit seinem Spruch dem Buddhisten auf seiner geistigen Suche damit alles, an was er sich irgendwie halten könnte. Dies können die Dinge sein, die mir im täglichen Umgang begegnen und die ich vertraut verwende. Aber es sind auch alle immateriellen Muster, Regelmäßigkeiten damit gemeint, womit sogar Naturgesetze oder moralische Gesetz hinfällig werden. Er steht einfach nur noch mit Nichts da, ohne etwas woran er sich festhalten oder orientieren könnte. Yunawu kommentiert: „The elements are basically empty; how can a Buddha abide? The polar star does not move; quiet and still, without traces, once presented face to face, there is no longer anything else.“ (Cleary/Cleary 2005: 227) Alle Interpretationen unserer „Weltbilder“, die wir auf die Welt legen, um uns darin zurechtzufinden, um uns mit unseren Mitmenschen zu koordinieren, sind letztlich leer. Sie sind Hilfsmittel, von denen wir täglich ausgehen und annehmen, dass dies die Welt ist, so wie sie tatsächlich ist. Aber dieses „Ding an sich“ ist für uns gar nicht zugänglich, wie vor allem Kant stringent herausgearbeitet hat. Aber was bleibt dann noch übrig? Wir können daraus den Schluss ziehen, dass es verschiedene Interpretationen von Welt gibt. So lebt der Katholik in einer anderen Welt als der Buddhist, da sie in vielerlei Hinsicht die Welt vollkommen anders erklären. Allerdings in bestimmten Bereichen überschneiden sie sich auch, in dem sie beide ein mitfühlend-liebende Haltung zur Welt und den Lebewesen haben. Hier unterscheiden sie sich dann gemeinsam wieder von Richard Dawkins und Trump, deren Welt deutlich mehr von der Wut geprägt ist etc. 


Aber bleibt man dann einfach bei einer Pluralität von Welten und Interpretationsperspektiven? Oder kann man auch fragen, was hinter diesen Interpretationen liegt? Was nicht mehr geht ist allerdings, dass man davon ausgeht, dass es dahinter tatsächlich die eine wahre Interpretation gibt, der wir uns immer mehr annähern. Philosophiegeschichtlich ist dies heute keine Option mehr für uns, auch wenn dies lange gerade im Abendland das Grundverständnis von Wahrheit war. Yuanwu sagt vielmehr, dass man Ruhe und Stille wie dem Polarstern begegnen soll, d.h. in dieser Begegnung ist einfach Nichts mehr. Der japanische Mönch Tenkei kommentiert: „When it is said that there are no things, one might shrink back, thinking it means there is nothing at all, but what is this right in front of you? Seek the mind—What are sensation, perception, consciousness, and cognition? Let every one of you get hold of your own self and look: is it nothing that says there is no thing, or is it something that springs forth saying there is some thing? Analyze the verse carefully.“ (Cleary 2000: 120) Hier müssen wir den Rat von Tenkei ernst nehme und ganz genau hinschauen. Denn das Ziel des Buddhismus ist nicht alles Seiende aufzulösen, so dass man ein Leben ohne Seiendes leben kann. Aber so absurd ist dieses Ziel nicht, wenn man damit verbindet, dass sich dadurch auch der eigenen Schmerz auflöst, der einem in diesem Leben niederdrückt. Aber eine aufrichtige Religion ist nie nur so weltentrückt-transzendent gewesen, sondern stand mit dem anderen Bein immer fest im Leben: in tätiger, mitfühlender, anpackender, mutiger, riskierender Liebe! Als gläubiger Mensch ist es damit kein Ausweg, sich in ein fühlloses, entrücktes Dasein zu versetzen. Vita contemplativa ist immer auch Vita acitva.


Es gibt zwar keinen Exit aus der seienden Welt, aber den Geist und Sinn meines Lebens finde ich nicht in diesem Seienden. Was wir selbst und unser Geist ist, ist nicht etwas Seiendes, sondern gründet in einem gebenden Sein. Nur das wir dieses Gründen in einem gebenden Sein meist nicht sehen, weil es durch das Seiende verdeckt wird, also mit dem, womit wir uns den ganzen Tag beschäftigen. Aber um dieses Sein in mir selbst zu realisieren und damit meinen Geist zu finden, muss ich anders suchen, eine Art μετάνοια vollziehen. Den Geist im Sein und nicht im Seienden zu finden, beschreibt Yuanwu wie ein Harmonieverständnis in einer Melodie. „The harmony of this tune requires you to be a connoisseur before you can appreciate it. If you are not such a person, it is useless to take the trouble to incline an ear to it. An Ancient said, ‚Even a deaf man can sing a foreign song; good or bad, high or low, he doesn't hear at all.‘“ (Cleary/Cleary 2005: 229) Ich muss auf diese Harmonie schon eingestimmt sein, sonst realisiere ich den Geist darin nicht. So hätte ein Tang-Chinese die Musik von Bach nachspielen können, ohne wirklich die Schönheit darin wahrnehmen zu können. Genauso ist es auch in der Musik- und auch Kunstgeschichte insgesamt, so dass neue Kunst, die den Zeitgeist oder sogar die Ansätze von zukünftigen Entwicklungen in ihrer Kunst erfahrbar machen, von den meisten Zeitgenossen, die in der Regel ja in der Vergangenheit leben, aber als Lärm und Unfug wahrgenommen werden. Genauso kann ich  aber auch ein Gong’an vorlesen und darüber im entsprechenden Jargon schwadronieren, ohne schon den Geist darin gefunden zu haben bzw. sogar mit meinem eitlen Geschwätz mir diesen Zugang sogar noch verstelle. Tenkei spitzt dies weiter zu: „To get the point, you must hear with your eyes.“ (Cleary 2000: 121) Den Geist findet man nicht im Seienden, sondern erst wenn man vom Sein aus schaut. 


Yuanwu fährt in seinem Kommentar mit einem Zitat von Yunmen fort: „When it is raised, if you do not pay attention, you will miss it; if you want to think about it, in what aeon will you ever awaken?“ (Cleary/Cleary 2005: 229) Und erläutert dies folgendermaßen: „Mit dem ‚Antrag‘ [bei Cleary/Cleary: raising] ist das Wesen selbst gemeint [das sich in den Worten eines echten Meisters anbietet]. ‚Beachten‘  [bei Cleary/Cleary: attention] ist die praktische Anwendung [in der das Wesen sich betätigt]. Wer das Subtile [das geheime Wesen] schon dann zu sehen fähig ist, bevor es sich noch in äußeren Anzeichen kundgibt, der löst sich auf der Stelle, wo er steht, von seinem Ankergrund [an dem er haftet, und wird frei]. Wer wenigstens dann etwas sieht, wenn das Subtile sich kaum erst in äußeren Anzeichen kundgibt, dem wird ein Abbild davon zu eigen werden, das er im Leben betätigen kann. Wem aber erst dann die Augen aufgehen, wenn sich die äußeren Anzeichen vom Subtilen [vom geheimen Wesen selbst] abgelöst haben, der verfällt dem Organ bewußten Denkens [und bleibt damit in der Blindheit stecken].“ (Gundert 1967: 88) Zu meinem Wesen, zu meinem Geist komme ich nur, wenn ich aufmerksam für das werde, was vor dem eigentlichen Unterscheiden liegt, wodurch Seiendes erst entsteht. „Draw a distinction“ (Spencer Brown)… und es entsteht etwas Seiendes. Diese Unterscheidung machen ist eine „function“, aber durch eine Unterscheidung realisiere ich nicht, was vor dieser Unterscheidung liegt bzw. was vor allen Unterscheidungen liegt, was sozusagen ihr ununterscheidbarer Grund ist. Wenn ich meine Unterscheidungen loslasse, löse ich mich von dem woran ich hafte. Aber diese Unterscheidungen sind von mir selbst gesetzt. Ich bewirke selber, an was ich hafte und kann es damit eigentlich auch selber am leichtesten wieder lösen. Aber die Schwierigkeit liegt darin, dass mein Ego nur dieses Unterscheiden bzw. meine Welt ist, die ich mir mit meinen Unterscheidungen aufgebaut habe. Ich bin diese Unterscheidungen… und sonst Nichts! Gebe ich das Unterscheiden auf, gebe ich mich auf, dann gibt es auch mich nicht mehr. Deswegen schreibt Yuanwu auch, wer „zu sehen fähig ist, bevor es sich in äußeren Anzeichen kundgibt“, d.h. wenn ich nicht nur ein festes begriffliches Wissen durch Unterscheidungen habe (dies ist der Modus, indem wir von unserem banalsten Alltag bis in die höchste Wissenschaft leben), sondern gleichzeitig ganz dunkel ahnen, dass vor diesen Unterscheidungen dieses abgründige Nichts west, aus dem ich immer wieder mit meinen Unterscheidungen aufsteige. Wenn ich aber nur im Seienden nach dem Geist suche, werde ich niemals in dieses Ahnen hineinkommen. Unser selbstbewusstes Denken ist immer schon unterscheidendes Denken und damit immer zu spät. Hiermit kommen wir nicht weiter, sondern müssen in unseren Unterscheidungen (die für uns immer unvermeidlich bleiben) ahnen, dass ein ununterscheidbarer Grund dahinter liegt. 


In der abendländischen Denktradition konnte so etwas lange nicht verstanden werden. Mit dem deutschen Idealismus haben sich hier Brücken entwickelt, aber erst Nietzsche hat es geschafft zu einem solchen Verständnis des Menschen aufzubrechen, wie es im Chan gelebt wird. So beschreibt er was Erkenntnis für ihn ist: „nicht ‚erkennen‘, sondern schematisieren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut“ (Nietzsche 1988/13: 333) Auch hier gibt es also ein Schematisieren, d.h. ein Unterscheiden, wodurch das Seiende entsteht, womit wir in unserem täglichen Leben umgehen. Und darunter liegt ein Chaos, was wir aber durch die Schemata nicht mehr zu sehen bekommen. Nietzsche steht damit im radikalen Gegensatz zum abendländischen Wahrheitsbegriff, der davon ausgeht, dass Erkennen das Zugrundeliegende möglichst adäquat abbildet - bei Nietzsche jedoch wird dieses Zugrundeliegende verdeckt, durch unsere Bedürfnisse, die wir einfach darüberlegen. Gerade Heidegger hat deutlich gemacht, wie wir durch unser Schematisieren und unser Sich-Einrichten in der Welt, das Sein durch das Seiende verdecken. In dieser Hinsicht erläutert er auch die hier angeführte Stelle bei Nietzsche in einer seiner Vorlesung: „Die regelnden Formen werden in gewissem Maße dem auferlegt, was Nietzsche ‚Chaos‘ nennt. Was durch die Schematisierung die Auflage regelnder Formen erhält, ist das, worauf das Erkennen zunächst stößt und was ihm fürs erste zustößt, das, worauf das Erkennen auftrifft. Das Begegnende hat den Charakter des ‚Chaos‘. Wir stutzen, gesetzt daß wir bei dieser Erläuterung der Nietzscheschen Worte nicht gedankenlos Sätze anhören, sondern stets aus uns selbst, aus unserer erkennenden Haltung mitdenken und bedenken, was uns denn im zu Erken­nenden begegnet. Wenn wir uns - erkennend - geradehin um­ sehen, hier im Hörsaal, auf der Straße, im Wald und sonstwo, treffen wir da erkennend und Kenntnis-nehmend auf ‚Chaos‘? Finden wir nicht vielmehr einen geordneten, gegliederten Be­zirk, aus dem uns Gegenstände - die einen zu den anderen ge­hörig - übersehbar und handlich und verfügbar und durchmeß­bar entgegenstehen? All dies Gegenständliche begegnet um so reicher und geordneter - eingespielt aufeinander und sich zu­ geneigt -, je mehr wir in einem reinen Verweilen alles vor uns stehen lassen, d. h. die ‚Welt‘, wie wir das nennen, uns vorstel­len, auch wenn es nur eine kleine und enge ist. Aber doch nicht ‚Chaos‘!“ (Heidegger 6/1: 500f.) 


Hier wird deutlich wie weit Nietzsche nicht nur von einem alt-europäischen Wahrheitskonzept (Luhmann) entfernt ist, sondern auch von unserem Alltagsverständnis. Deswegen fällt es uns so schwer, dies zu realisieren und es erklärt auch, warum Nietzsche weitgehend als „Lebensphilosoph“ wahrgenommen wird und Zen als Entspannungstechnik. Yuanwu würde hier sagen „Hat mit der Sache aber nichts zu tun!“. Aber die Welt nicht mehr als geordnete und weitgehend für uns eingerichtete Welt wahrzunehmen, ist gar nicht so einfach. Denn wir erleben die Welt und uns nur so. Nur manchmal bricht diese geordnete Welt zusammen und das Chaos kommt kurz zum Vorschein. Aber dann merken wir, wie unsere ganze Welt und wir selbst auch, dadurch verschlungen werden. Deswegen bemühen wir uns möglichst schnell wieder in die geordnete Welt zurückzukehren. Heidegger führt weiter aus, warum wir in der Regel kein Chaos wahrnehmen, sondern nur unsere geordnete Welt: „Weshalb begegnet zuerst ‚Chaos‘, inwiefern ist für das Erkennen das praktische Bedürf­nis maßgebend, und warum ist Erkennen ‚Schematisieren‘? Vermögen wir aber - in solcher Weise fragend - hinter den Zu­stand des erkennenden Verhaltens zurückzugehen in einen sol­chen, aus dem erst das Erkennen entspringt, welches Erkennen das kenntnislose und erkenntnislose Verhältnis zum Seienden überwindet, ja überhaupt erst ein Verhältnis zu ‚etwas‘, d. h. zu solchem, was irgendwie ‚ist‘, herstellt und aufnimmt?“ (Heidegger 6/1: 503) Wie kommen wir also dahin, zu realisieren, wo „erst das Erkennen entspringt“ und wir nicht nicht einfach nur beim schon Erkannten bleiben und daraus weitere Verweise herstellen? Es geht vielmehr darum, sich ganz grundsätzlich zu wundern oder vielleicht auch darüber zu erschrecken, dass es eine Welt für uns gibt, zu der wir in einer Beziehung stehen. 


Wir sind also meist damit beschäftigt, unsere Schemata zu ordnen, sie ständig zu justieren und zu differenzieren. Dass wir diese Schemata verwenden, um ein Chaos für uns nützlich zu machen, ist uns meist nicht bewusst. Aber in dieser vorgelagerten Verhältnisbestimmung, die vor jeder nützlichen Bildung von Schemata liegt, wird eine Grundentscheidung für unser Leben gelegt. Denn nicht nur die von uns verwendeten Schemata, mit denen wir unser Weltbild konstruieren, sind eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung und von uns auch kontingent gesetzt und nicht durch ein „Ding an sich“ vorbestimmt. Aber auch unsere Grunderfahrung zum Chaos kann unterschiedlich sein. So schreibt Heidegger zum Begriff des Chaos bei Nietzsche: „Erkennen heißt: dem Chaos regelnde Formen aufprägen. Was meint Nietzsche mit der Benennung ‚Chaos‘? Nietzsche ver­steht dieses Wort nicht im ursprünglich griechischen, sondern im späteren und vor allem neuzeitlichen Sinne. Aber zugleich hat das Wort Chaos noch eine eigene, aus der Grundstellung des Nietzscheschen Denkens entspringende Bedeutung. Χάοσ meint anfänglich das Aufgähnende und weist in die Richtung des unabmeßbaren, stütze- und grundlosen, aufklaf­fenden Offenen (vgl. Hesiod, ‚Theogonie', 116). Warum die Grunderfahrung, die das Wort nennt, nicht zur Herrschaft kam und nicht kommen konnte - das zu erörtern liegt außerhalb der jetzigen Aufgabe. Genug, wenn wir beachten, daß die seit lan­gem geläufige Bedeutung des Wortes ‚Chaos‘ - und d. h. im­mer die durch dieses Wort geleitete Sichtweise - keine ursprüngliche ist. Das Chaotische heißt uns das Durcheinander, das Wirre, das Sichübereinanderstürzende. Chaos meint nicht nur das Ungeordnete, sondern dieses: das Wirre in der Verwir­rung, das Durcheinander in der Überstürzung. Chaos in der späteren Bedeutung meint immer mit eine Art von ‚Bewe­gung‘.“ (Heidegger 6/1: 506)  Heidegger beschreibt hier zwei verschiedene Arten, dem Chaos zu begegnen: in der Regel meinen wir in der abendländischen Tradition damit die Bewegung eines ungeordneten Durcheinanders, dem wir durch Regeln und Naturgesetzen eine Ordnung auferlegen. Die frühen Griechen kannten das Chaos allerdings auch noch als das „aufgähnende Offene“, was weniger ein Tohuwabohu ausdrückt, sondern eine unendliche, klare Stille. So heißt es in der von Heidegger zitierten Stelle: „Zuerst nun war das Chaos (gähnende Leere des Raumes)“ (Hesiod 1999: 13; Hervorhebung im Original). Diese Wahrnehmung von Chaos haben wir seit der platonischen Philosophie im Abendland verloren. In der Denktradition von Indien und China ist dagegen das Chaos als „gähnende Leere“ die Grundlage geblieben. Und genau hierin liegt eine wesentliche Schwierigkeit, um den Buddhismus heute zu verstehen. Wenn in der Meditation die Schematisieren losgelassen wird, ist etwa der Tang-Buddhist dieser gähnenden Leere begegnet. Wenn wir heute unsere Schemata aufgeben, ist da nur Tohuwabohu. Mit etwas Glück und Übung sind unsere Autosuggestionen dann so gut, dass wir für einen Moment in der Lage sind, uns eine Stille einzubilden. Aber dies trägt in der Regel nur einen Moment, eine Grunderfahrung ist es nicht, weil diese erst auf der Ebene des Chaos erfahren werden muss, wo wir in der Regel noch nicht sind.


Wie kommen wir zu dieser Grundentscheidung dem Chaos gegenüber? Vielleicht liegt diese bereits schon in unserer Art Schemata zu bilden. Wenn Nietzsche sagt, dass wir Schemata auf das Chaos legen, welche aus unserem „praktischen Bedürfnis“ erwächst, so schaffen wir nicht nur die Schemata, sondern zugleich damit auch ein dazu passendes Chaos. Die Art der Formen produziert gleichzeitig auch das Medium, in das es sich einprägt (um eine Begrifflichkeit von Fritz Heiler in der Verwendung von Luhmann (1984) aufzugreifen). Deswegen muss man hier die Frage stellen, aus welchem „Grund“ beten wir? Meist wohl aus einem „praktischen Bedürfnis“ heraus! Etwa um einen Sinn, in meinem Leben zu finden, Halt durch letzte Werte zu bekommen, durch „magische“ Einflussnahme in den Fürbitten… oder will man tatsächlich im Glauben sterben? Und kein Sterben aus Überdruss oder Schmerz am Leben. Sondern einfach so zu sterben, ohne Grund. Ähnlich wie Kirilow in Dostojewskijs „Bösen Geistern“, aber eben nicht aus einem letzten Beweis des eigenen Willens, sondern gerade im Aufgeben dieses Willens. Chan will die Freiheit erreichen, indem es diesen eigenen Willen mit seinen praktischen Bedürfnissen aufgibt. So zitiert Yuanwu die „Meißelschrift“ vom Dritten Patriarchen: „Wer sich versteift, verliert das Maß, / kommt unvermeidlich auf den Irrweg. / Laß los, so gibt Es sich von selbst! / Nie geht Es weg, nie steht Es fest.“ (Gundert 1967: 85) D.h. wer sich zu sehr auf die eigene Bedürfnisse und sein Wunschdenken einlässt, der wird Scheitern. Die dingliche Welt und unsere Mitmenschen lassen sich zwar oft in unserem Sinne manipulieren, aber eben auch nicht beliebig. Irgendwann werden diese Manipulationen dann scheitern, aber meist kommt noch davor die Vereinsamung, wenn man nicht mehr in Interaktion mit der Welt steht, sondern nur noch seinen Willen ihr aufdrückt. Deswegen gibt der Dritte Patriarch den Rat, dass man nicht festhält, sondern loslässt und sich so die Welt sich entfalten lässt. Aber auch hier ist die Einseitigkeit zu vermeiden, denn wenn man gar keinen eigenen Willen mehr hat, findet auch keine Interaktion mit der Welt mehr statt und man ist nur noch ein nichtiger Beobachter (christlich gesprochen begeht man hier den Fehler, des Dieners der sein geliehenes Talent vergräbt und nicht einsetzt (vgl. Mt 25, 14-30; Lk 19,12-27)). Yuanwu geht auch darauf ein, dass der Befreite nicht einfach alles aufgeben kann: „Die Alten nannten es ‚die tiefe Fallgrube der Befreiten‘. Darum heißt es [und zwar in dem Traktat des Nâgârjuna von der Vollkommenen Erkenntnis, Prajnâ-pâramitâ-shâstra]: ‚Auch diejenigen, die an keinen Zweck und keine Sache mehr gebunden sind, haben noch die Not der goldenen Ketten zu bestehen‘ [auch das Gold der Freiheit kann zur Kette werden]. Es muß auch hier bis auf den untersten Grund hindurchgestoßen sein, dann erst erlangt man es.“ (Gundert 1967: 85f.) Auch die teilnahmslose Freiheit ist ein Irrweg, genauso wie blind alles nach seinem Willen zu manipulieren. Es geht eher darum sich einspannen zu lassen, von dem, was jeweils nötig ist - und dies unabhängig davon, ob ich da jetzt Bock zu habe oder mir  dies Prestige bringt oder mich sonst irgendwie persönlich weiterbringt. Dies ist keine kleine Herausforderung und Yuanwu spitzt dies auch noch weiter zu, indem er die Unmöglichkeit eines Chan-Menschen beschreibt: „Wenn dann einer [wie in diesem Falle Pan-schan] so weit kommt, daß er für das, wofür es keine Worte gibt, doch noch Worte findet und dort, wo man nichts tun kann, doch noch etwas tut, so ist er eben, was man einen aus dem Tod Zurückgekehrten nennt“ (Gundert 1967: 86)



Christliches Jakogu

„Diejenigen, die der Irre abgestorben sind, wie sollten sie leben noch darin? Denkt ihr nicht, dass die in den gesalbten Christus hineingetaufen, hineingetauft sind in seinen Tod? Mitbegraben wurden wir durch die Taufe in den Tod, und genau so wie der Gesalbte aufgeweckt wurde in seinem Tod durch die Herrlichkeit des Vaters, so werden auch wir in der Frische des Lebens den Weg gehen.“ Röm 6,2

Hinweis 38 

 

Fengxue war in der Stadt Ying beim Gouverneur und sprach in einer Lektion: „Die Patriarchen haben direkt das Herz geprägt, dies erscheint wie der Antrieb beim Eisernen Ochsen. Loslassen muss man diese Prägung danach und nicht daran festhalten. Hältst du aber daran fest, zerbricht die Prägung. Es ist genauso, du darfst sie nicht verlieren, aber auch nicht darin verweilen. Was ist also sich prägen lassen? Was ist sich nicht prägen lassen?“ 

In diesem Moment stand der alte Lubei auf, um eine Frage zu stellen: „Jemand hat den Antrieb des  Eisernen Ochsen, der Lehrer sollte diesen nicht prägen.“ 

Xue sagt: „Ich bin es gewohnt Wale zu jagen, tauchend in großer Klarheit. Aber nicht einem quakenden Frosch im Matsch nachzustapfen.“ 

Bei stand da und überlegte. 

Xue raunzte ihm zu: „Warum fährt der Älteste mit seiner Rede nicht fort?“ 

Bei sammelte sich. Xue schlug mit seinem Yack-Schweif. Xue sagt: „Erinnerst du dich nicht mehr an das Huatou [die Meditationsphrase]? Versuche sie zu betrachten.“ 

Bei hat sich etwas gesammelt und öffnet den Mund. Da schlägt Xue wieder mit dem Yack-Schweif. 

Der Gastgeber sagt: „Das Gesetz des Buddha und das Gesetz des Staates sind von der selben Art.“ 

Xue sagt: „Was siehst du hier als den einen Grundsatz?“ 

Der Gastgeber sagt: „Unentschieden sein, wenn Entscheidung gefordert ist, dadurch entsteht nur Chaos.“ 

Xue verlässt daraufhin den Lehrstuhl.

Fengxue Yanzhao (風穴延沼, jap. Fuketsu Enshō, 896-973)  hat als junger Mann zunächst den Konfuzianismus studiert, allerdings ist er beim ersten Versuch, die Beamtenprüfung Keyu (科举) zu bestehen, durchgefallen. Anschließend studierte er aus Enttäuschung bei einem Vinaya-Meister und danach in der Tiantai-Schule. Erst dann wurde er ein Schüler von Nanyuan Huiyong und damit ein Teil der Schule von Linji. Hier hat er sein Erwachen gefunden, aber eben erst nachdem er eine lange Suche hinter sich hatte in den verschiedenen geistigen Ausrichtungen des damaligen China. Erst mit 35 Jahren hat er sich als selbständiger Meister auf den Weg gemacht und sein eigenes Kloster bezogen. 


In vielen Übersetzungen wird in diesem Gong’an von einem Siegel gesprochen, was man zwar in das Wachs eindrücken muss, aber genauso auch wieder herausziehen muss. Man kann nicht den Brief mit Siegelring verschicken, sondern nur mit dem eingeprägten Siegelabdruck. Yamada Koun gibt hierzu die folgende Erklärung: „‚Wird es [das Sigel] weggenommen, bleibt der Abdruck bestehen.‘ Wird das Siegel beiseite genommen, bleibt der Abdruck des Siegels doch gut sichtbar. ‚Bleibt es am Platz’ bedeutet: ‚Belässt man das Siegel auf dem Papier‘. Dann ‚wird der Abdruck zu nichts‘ bedeutet: Der Abdruck des Siegels bleibt auf dem Papier, weil aber das Siegel dort auf dem Papier stehen bleibt, kann der Abdruck darunter nicht gesehen werden. Nichts ist sichtbar. So wird der Abdruck praktisch zu nichts.“ (Koun 2002: 413) Ehrlich gesagt ist diese Erklärung totaler Unfug! Denn wer verschickt schon den Brief oder das Dokument mit dem eigenen Siegelring darauf? Allerdings übersetzt auch Gundert ähnlich (Gundert 1967:98). Koun ahnt die Unzulänglichkeit seiner eigenen Erklärung und zitiert seinen Lehrer Yasutani Roshi, der da schon viel mehr verstanden hat. So fährt er folgendermaßen fort: „Jetzt entsteht natürlich die Frage, was das alles mit Zen zu tun hat. Yasutani Roshi gibt folgende Interpretation: ‚Wird das Siegel weggenommen, bleibt der Abdruck bestehen‘ [dies ist natürlich weiterhin die seltsame deutsche Übersetzung] - dies bedeutet: ‚Auch wenn ihr euch von allen unterscheidenden und dualistischen Gedanken befreit habt, bleibt doch etwas genauso, wie es vorher war. Es gibt etwas, was nie weggenommen werden kann, sondern immer da bleibt, wo es vorher war. Das ist die Wesenswelt.’ Und der folgende Satz ‚Bleibt es am Platz, wird der Abdruck zu nichts‘ bedeutet dann auf der anderen Seite: ‚Wenn ihr Kensho erlangt habt und werdet stolz auf diese Erfahrung und bleibt darin hängen, dann wird alles zunichte, alles wird zerstört.‘“ (Koun 2002: 413) Yasutani ist hier deutlich mehr nachzuvollziehen, auch wenn er sich recht stark von dem eigentlichen Bild entfernt. Aber ihm geht es darum, dass wenn man Kensho erlangt hat, in diesem ersten Eindruck, Prägung oder Sigel nicht stehen bleiben darf. Dieser Eindruck darf nicht alles überdecken, sondern es muss eine „Rückkehr“ ins eigene, alltägliche Leben geben. So wie bei den Ochsenbildern das letzte Bild nicht der Kreis, sondern der umtriebige Markt ist (vgl. Ueda 2011). 


Aber Kensho ereignet sich nicht einfach so, sondern wird meist lange vorbereitet (auch wenn man es letztlich nicht selber machen kann, aber die Vorbereitung auf dieses Ereignis ist eben doch die eigene Leistung). So dass man nicht nur durch das Kensho selbst geprägt ist, sondern auch durch die Methode und den Meister, wodurch man dazu gekommen ist. Zwar hat mich eine bestimmte Methode eines Meisters dafür aufgeschlossen, aber dadurch ist es nicht meine Methode. Ich kann diese nicht einfach kopieren und fortführen, sondern muss dies als Ausgangspunkt nehmen, um meinen eigenen Weg zu gehen. Jeder der über seinen eigenen Meister nicht hinausgeht, ehrt seinen Meister schlecht und fällt weit hinter ihn zurück. So kommentiert Yuanwu: „‚Geht es ab, so bleibt das Siegel.‘- So, wie es rechtmäßig verordnet ist, so soll man es halten. - Nein, so ist es falsch.“ (Gundert 1967: 99) Nur indem ich mich von der Methode des Meisters löse, ehre ich ihn als Meister. Und nicht indem ich ihn konserviere. 


Zum anderen ist ein Meister auch kein starres Sigel, sondern führt eingehend auf die Individualität jedes Schülers seine Prägung aus. Es ist wie im 16. Hinweis, wo Meister und Schüler an der gleichen Stelle des Eis picken müssen, um das Kücken aus dem Ei zu befreien. Gundert schreibt selber in seinen Erläuterungen dazu: „Wird damit aber nicht das Siegel selbst, das überzeitliche und transzendente, der Zeitlichkeit und ihren Wechselfällen ausgeliefert: Wohl hat Nan-yüan einst dem Fëng-hsüä das Geistessiegel aufgedrückt. Aber er ist nachher nicht mehr da, das Siegel blieb auf Fëng-hsüä. Dieser aber ist ein anderer als Nan-yüan, und wenn er nun sein Siegel andern aufzudrücken sich bemüht, muß er von Fall zu Fall sich nach der Eigenart der weiteren Empfänger richten. Sein Siegel, das doch ewig eines und dasselbe ist, bricht, wie es scheint, in Stücke.“ (Gundert 1967: 125) Hier zeigt sich, dass die Übersetzung als Sigel ganz irreführend ist, sondern Prägung viel besser passt. Denn geprägt wird jeder Schüler auf seine eigene Art und zwar durch die große Freiheit des Meisters, der nicht nur ein festes Sigel für alle hat, sondern die Individualität des Schülers in seiner schon eingeschlagenen Richtung weiter prägt, so dass er zur Freiheit gelangt. Denn der Schüler ist kein blankes Wachs für ein Sigel, sondern hat seine eigenen Unebenheiten, so dass der Meister nie einfach sein Bild in den Schüler reproduzieren kann, sondern dem Schüler nur auf seinem Weg korrigieren oder bestärken kann. Dies hat Sokrates im antiken Griechenland genauso verstanden, denn auch er wollte seinem Gegenüber nicht einfach die Wahrheit „übergeben“, sondern hat sich und seine Wahrheitsfindung als Hebammenkunst verstanden (μαιευτική τέχνη), so dass alle ihre eigenen „Kinder“ bekommen haben und nicht nur Klone des Sokrates.


Dies ist die Haltung, die Fengxue in seiner Lektion mitteilen wollte. Der alte Mönch Lubei möchte sich auch zu Wort melden und behauptet, dass jemand (vermutlich meint er sich selbst) den Antrieb des Eisernen Ochsen hat. Unabhängig davon, was der „Eiserne Ochse“ eigentlich ist, vermutlich so eine Art große Klamm, die einen reißenden Fluß in seiner Bahn lenkt. Woran Fengxue eigentlich Anstoß nimmt, dass jemand nach all dem Gesagten einfach behauptet, dass man eine Grundlage des Chan einfach so haben kann und keinerlei weitere Prägung braucht. Denn Chan ist nicht ein einmal erworbener Titel wie ein Doktorgrad. Es ist eher ein Prozess, der immer weiter in die Freiheit führt. Deswegen ist es auch kein Wissensbestand, den man einmal erwerben kann. So schreibt Tenkei dazu: „When you try to head for it, you stumble past; when you try to pin it down, there is no way to get a grip on it. Ultimately it cannot be grasped or abandoned, this mind seal that fundamentally neither goes nor stays.“ (Cleary 2000: 124) Es ist diese Unbegreiflichkeit des Chan-Geistes, die man nie einfach haben kann im Sinne eines Besitzes. Eher dass man diesem Geist Raum in einem geben und bereiten kann, wo er sich dann immer wieder aufs Neue ereignen kann. 


Für Fengxue ist der alte Lubei mit einer Behauptung eher ein langweiliger Gegner, deswegen vergleicht er ihn mit einem Frosch im Matsch, wo er normalerweise lieber Wale im offenen Meer jagt. Nun gut, aber selbst Frösche im Matsch bekommt man nicht so einfach zu greifen! Aber hier zeigt sich Fengxues Meisterschaft: denn er hat Lubei ganz schnell festgenagelt. Denn außer seiner selbstbewussten Anfangsphrase hat er nichts zu sagen. Yuanwu schreibt dazu: „Darum heißt es: Mag einer über alle tausend Sutren und Traktate predigen können, so wird es ihm doch schwer sein, im entscheidenden Augenblick [wo es ums Eigentliche, Wesentliche, um ihn selbst und um das Höchste geht] auch nur ein Wort herauszubringen. Tatsächlich sucht Lu Be geflissentlich nach einem guten Wort, das er Fëng-hsüä entgegenhalten könnte“ (Gundert 1967: 109) Hier zeigt sich, dass Lubei keinerlei Chan-Freiheit in sich hat, aus der er lebt und atmet, sondern nur aufgeschnappte Phrasen. Fengxue bohrt nach, aber Lubei steht nur da und überlegt sich, was er Kluges antworten könnte. Aber eine solche Antwort will Fengxue nicht, er will eine Antwort direkt und unmittelbar aus der Freiheit heraus. Aber Lubei sitzt eben im trüben Matsch und schwimmt nicht im weiten, klaren Ozean. Von Lubei ist hier nichts zu holen.


In der Sammlung Cong Rong Lu ist die gleiche Auseinandersetzung enthalten. Hier gibt es den schönen Vers: „Fengxue is in charge of the scales, Lu Pi sustained a fall.“ (Cleary 1998: 128) Während Fengxue gut die Waage hält, zwischen Prägen und sich in der Freiheit zu bewegen, kommt Lubei keinen Schritt weiter und sitzt immer tiefer im Matsch fest. Interessanterweise weiß der Gouverneur nun aber hier etwas Passenderes beizutragen und zwar nicht, dass er sich anmaßt etwas über Chan zu wissen, sondern er vergleicht es mit seinem eigenem „Kompetenzbereich“, indem er eine Parallele zur Regierungskunst zieht: das Gesetz des Buddha und des Staates sind von der selben Art. Yuanwu bemerkt zu dieser Anmerkung nur: „Clearly. After all, they've been seen through by a bystander.“ (Cleary 1977: 232) Hier wird Fengxue dann tatsächlich neugierig, ob er sich nicht doch noch auf Waljagd begeben kann und er fragt nach, was denn das gemeinsame der beiden Gesetze wäre. Auch Yuanwu gefällt dies: „He too gives a good thrust; he has turned the spearpoint around and come back with it.“ (Cleary 1977: 232) Für den Regierungsbeamten liegt es darin, dass man in beiden zum richtigen Zeitpunkt Entscheidungen treffen muss. Aber eben „wirkliche“ Entscheidungen. Keine Entscheidung, die wie Lubei durch grübeln oder nachdenken entstehen. Dies muss als Grundlage alles schon geschehen sein: der Regierungsbeamte muss die Argumente der Sachlage kennen und auch das unterschiedliche Für und Wider. Genauso auch der Chan-Meister, der die Sutren und Traktate studiert haben muss. Aber aus beiden ergibt sich die Entscheidung nicht logisch heraus, sie ist nicht direkt daraus ableitbar. Politik gibt es, weil hier Fragen entschieden werden müssen, die grundsätzlich auf einer Sachebene unentscheidbar sind (Luhmann 2002). Hierzu gehört etwa das Abwiegen von unterschiedlichen Interessengruppen, wo dem einen was nützt, was dem anderen schadet oder auch das grundsätzlich Ungewissheit darüber besteht, was eine bestimmte Intervention bewirkt. Deswegen agieren beide Gesetze in ihrer Anwendung sozusagen aus dem Bauch heraus. 


Damit hat der Regierungsbeamte schon sehr viel verstanden, aber dennoch ist politische Macht und die Freiheit des Chan noch einmal im Letzen unterschiedlich. So schreibt Yuanwu: „He seems to be right, but he's not really right. (Still,) you must realize that the bystander has eyes. When someone of the eastern house dies, someone of the western house helps in the mourning.“ (Cleary 1977: 232) Der Regierungsbeamte lindert mit seiner Bemerkung bestenfalls das Trauerspiel mit Lubei, aber es bleibt ein Spiel im menschlichen Matsch und nicht im freien Ozean. Heute ist für Fengxue keine Jagd zu machen, was er einsieht und den Lehrstuhl schweigend verlässt: „He adds error to error. Seeing the situation, he adjusts. Now the task of study is completed.“ (Cleary 1977: 232)

Christliches Jakogu

„Er wies sie an nichts auf ihrem Weg mitzunehmen […] Und so zogen sie hinaus und verkündeten die Umkehr.“ Mk 6,8 12

Jesus hat seine Jünger auch geprägt, durch Reden, aber vor allem durch seine Person. Nun sendet er sie aus und gibt ihnen nichts mit, außer den Eindruck, den sie von ihm empfangen haben und die Lebenswende, die sich damit für sie ereignet hat. Und genau diese Erfahrung geben sie an die Menschen weiter: die Umkehr. Jesus gibt ihnen keine Bekehrungspredigt mit, so wie Luther mit seiner Hauspostille. Sie sollen als geprägte Personen überzeugen und jeder muss seine eigene Umkehr vollziehen, dafür gibt es keinen Standard, sondern jeder muss da selber durch und seinen Weg finden.