Kapitel 8, 1-11

Jesus zog es dann zum Ölberg. 2 Am frühen Morgen kehrte er aber wieder in das Heiligtum zurück und alle Leute liefen zu ihm und er setzte sich und lehrte sie. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde und stellten sie in die Mitte. 4 Sie sagten zu ihm: Lehrer, diese Frau ist ertappt worden beim offensichtlichen Ehebruch. 5 Im Gesetz des Moses ist angewiesen diese zu steinigen.  Nun, was sagst du? 6 Dies sagten sie aber um ihn zu bedrängen, damit sie etwas haben,  um ihn anzuklagen. Aber Jesus beugte sich herunter, um mit dem Finger etwas in den Staub zu schreiben. 7 Da sie aber daran festhielten ihn zu befragen, richtet er sich auf und sprach zu ihnen: Der Sündlose von euch, sei erster und werfe einen Stein. 8 Dann beugte er sich wieder zurück und schrieb weiter in den Staub. 9 Als sie dies gehört hatten, verließen sie einer nach dem anderen, angefangen von den Ältesten, den Ort, so dass zurückblieben alleine er mit der Frau, die man in die Mitte gestellt hatte. 10 Da richtete sich Jesus wieder auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Keiner hat dich verurteilt? 11 So sprach sie: Niemand, Herr. Da sprach Jesus: Auch ich werde dich nicht verurteilen. Sondern schicke dich aus, von nun an nicht mehr zu sündigen. 

---

Das Kapitel beginnt damit, dass sich Jesus zunächst auf den Ölberg zurückzieht, um dann aber direkt am frühen Morgen in das Heiligtum zurückzukehren. Man hat etwas den Eindruck, dass er frustriert ist wegen seiner Lehrtätigkeit, denn entweder die Leute wollen sich von ihm faszinieren lassen als einem Magier und Zauberkünstler, der tolle Wunder macht oder sie sind schon so fest in ihren Meinungen, dass sie in seinen Lehren nur etwas suchen, um ihn etwa verurteilen zu können wie die Pharisäer. Aber Jesus zieht es unwiderstehlich wieder in die Lehre, denn dies ist sein Sendung, egal wie fruchtlos dies in den einzelnen Momenten auch aussehen mag. 


Aber Jesus kann im Heiligtum nicht nur Weisheiten von sich geben, sondern die Pharisäer kommen mit einem konkreten Fall, dem sie ihm zur Entscheidung buchstäblich vorlegen. Sie bringen eine Frau mit, die man beim Ehebruch ertappt hat, so dass die Tat nicht in Frage steht, sondern nur wie man sie nun bestrafen soll. Für die Pharisäer ist das Urteil klar, denn nach Moses schreibt das Gesetz die Steinigung in diesem Fall vor. Aber sie wollen eigentlich gar nicht Jesus Einschätzung hierzu hören, sie suchen nur etwas, um ihn zu verurteilen. Denn nach jüdischem Gesetz ist der Fall klar, so dass Jesus eigentlich nichts anderes sagen dürfte, denn dies wäre alles eine Abweichung vom Gesetz und damit sein Verurteilung. Deswegen geht Jesus auch mit keinem Wort auf den Fall selber ein. 


Aber warum gehen die Pharisäer eigentlich überhaupt davon aus, dass Jesus diesen Fall anders beurteilt? Denn es nicht so, dass Jesus per se jedes Gesetz der Juden ablehnt, denn er ist kein „Born against“, sondern ganz im Gegenteil. Der Evangelist lässt es hier offen, warum die Pharisäer davon ausgehen, dass Jesus hier nicht dieses eindeutige Urteil teilen würde. Vielleicht liegt es darin, dass das Urteil zu mechanisch und eindeutig ist, um einen individuellen Menschen gerecht zu werden, der hierdurch nur noch eindeutige Kategorie ist und nicht sonst. Vielleicht aber auch, dass Jesus sagt, dass er nicht gekommen ist, um zu verurteilen, sondern um zu befreien… dies bleibt hier offen.


Jesus reagiert indem er einfach etwas in den Sand schreibt. Der Evangelist verrät aber nicht, was Jesus genau aufschreibt und über die Jahrhundert ist hierüber viel spekuliert worden, ohne dass mir hier ein Vorschlag besonders plausibel erscheint. Vielleicht ist es auch einfach nur die Handlung als Symbol an sich, die fasziniert: Jesus soll sich festlegen und er tut dies, indem er nicht nur etwas dazu sagt, sondern sogar aufschreibt. Gleichzeitig meisselt er es nicht in Stein, wie bei Moses, sondern schreibt es in den irdischen Staub, so dass beim nächsten Windhauch oder Kindertoben alles wieder ausgelöscht ist, nur Fußspuren im Schnee. Somit hat Jesus eine Meinung zu der Frau und dem was sie getan hat, aber er lässt sich nicht darauf festnageln. Und vor allem, er nagelt auch die Frau nicht darauf fest. Denn sie hat zwar etwas getan, aber muss sie als ganze Person darauf festgelegt sein und dies auch für immer, weil man ihr dafür das Leben nehmen muss? Oder kann sie sich nicht vielmehr aus ändern? Jesus hat kein objektives Urteil, sondern nur eines was lebendig machen soll.



Aber die Pharisäer begreifen es nicht. Denn ihnen geht es nicht ums Lebendigmachen, sondern darum einen toten Gesetzesbuchstaben durchzusetzen: denn die Frau muss getötet werden und Jesus auch. Da sie also weiter Jesus auf eine Antwort drängen, zeigt Jesus ihnen, dass sie auch noch nicht ganz tot sind. Denn auch sie entsprechen nicht nur und immer dem Gesetz. Denn selbst keiner von Ihnen, die das Gesetz zu ihrem Lebensinhalt und Mittelpunkt gemacht haben, kann von sich sagen, dass er ohne Sünde ist. Und diese Gesetzesverstöße sind offensichtlich nicht nur Jugendsünden, denn die Ältesten verlassen als erste den Ort, weil ihnen am stärksten bewusst ist, wie oft sie gefehlt haben gegen das Gesetz.


Nachdem er sie aufgefordert hat, dass derjenige ohne Sünde mit dem Urteil gegen die Frau beginnen soll, schreibt er weiter in den Sand. Denn auch für sie alle gilt, dass ihre Verfehlungen zwar benannt und aufgeschrieben werden können, aber sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern können weggewischt werden. Verfehlungen können von Gott vergeben und aufgehoben werden und darin macht Gott lebendig - und Gott will eben nicht, dass Verfehlungen auf ewig festgeschrieben sind und die Menschen dadurch getötet werden. 


Die Pharisäer haben in diesem Moment auch einen lichten Moment, denn sie werden sich alle bewusst, dass sie Sünder sind und verlassen den Ort. Zurückbleiben nur die Frau und Jesus, der uns in allem gleich, außer der Sünde (Hebr 4, 14). Jesus wendet sich nun also an die Frau und lässt sie die Situation beurteilen, so dass sie bestätigt, dass es niemanden unter den Menschen gibt, die sie verurteilen kann. Und selbst Jesus, der ohne Sünde ist, verurteilt sie nicht, denn er ist nicht zu den Menschen gesandt, um zu verurteilen, sondern um zu retten und lebendig zu machen. 


Jesus sendet die Frau also wieder in die Welt und ihr Leben aus, aber gibt ihr nur mit, dass sie von nun an nicht mehr sündigen soll. Aber was fordert hier Jesus eigentlich? Und seine Forderung wird für die Frau sehr schwer wiegen und sie wird sie erfüllen wollen, weil er ihr gerade das Leben gerettet hat. Aber kann sie dies überhaupt erfüllen? Wurde nicht eben deutlich, dass es nicht nur Jugendsünden gibt, sondern dass gerade die Ältesten zuerst den Rückzug angetreten sind, weil sie ihre Sünden vor Augen hatten? Jesus fordert von der Frau etwas unmögliches. Aber warum?


Denn Jesus fordert dauernd Unmögliches (vgl. auch die Gelübde des Bodhisattvas): seht ihr nicht, dass ich vom Vater geschickt bin, aber den Vater seht ihr nur durch mich… liebt einander, aber folgt mir nach und lasst die Toten die Toten alleine begraben… folget mir nach, aber wohin ich gehe, könnt ihr nicht hinkommen… Dies kann man alles nicht aus eigener Kraft erreichen. Man kann es immer wieder versuchen, bestenfalls kann man sich dem annähern. Aber letztlich wird man in diesen Forderungen immer wieder die tiefste Ohnmacht in sich selber erleben.

Kapitel 8, 12

Wieder redete Jesus mit ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir folgt, wird nicht gehen in der Dunkelheit, sondern im Licht des Lebens sein.

---

Nun folgt mit Vers 12 ein sehr schönes Bild, indem sich Jesus als das Licht der Welt bezeichnet. Gleichwohl steht der Satz etwas erratisch da. Denn es fehlt die Hinleitung, denn weder wird erklärt ob Jesus wieder mit den weggegangenen Juden im Heiligtum spricht, noch wird inhaltlich auf diese Aussage danach eingegangen, denn im folgenden ist „nur“ davon die Rede, inwiefern Jesus die Legitimation hat, für sich beanspruchen zu können, die Wahrheit zu sagen.

Es steht einfach nur diese Aussage im Raum: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir folgt, wird nicht gehen in der Dunkelheit, sondern wird im Licht des Lebens sein.“ Wenn man es auf die vorangegangene Szene mit der angeklagten Frau bezieht, so zeigt sich dieses Bild schon als sehr passend. Er bringt Licht in die dunkle Situation der Frau, die sich in die Dunkelheit von Schuld und Schande verstrickt sieht, die in die Dunkelheit der Bedrohung durch den Tod und Qual gestoßen wird und Jesus bringt ihr wieder Licht in ihr Leben, so das er sie befreit wieder zurück ins Leben schickt, aber versehen mit einem eigenen Licht, nämlich dass sie ihr Leben daran ausrichten soll, nicht mehr zu sündigen. 

 

Aber hat er ihr tatsächlich das Licht gegeben, dass sie nicht mehr sündigt? Ist dies überhaupt möglich? Gerade noch hat man bei den ältesten Anklägern gesehen, dass sie als erste den Raum verlassen haben - und dies vermutlich nicht nur, weil sie sich am meisten ihrer Jugendsünden aus ausreichendem Abstand bewusst sind. Welches Licht meint also Jesus? Wenn man die andere Flanke diese Äußerung nimmt, so ist dies das Unverständnis der Pharisäer, dass er vom Vater kommt und in ihm der Vater erkannt werden kann - wozu sie aber nicht in der Lage sind. 

 

Der Evangelist gibt für die Interpretation der Licht-Worte also wenig an die Hand und auch die Exegese hat hier nicht so viel zu bieten. Deswegen soll  das Höhlengleichnis von Platon aufgegriffen werden und zwar in der Erläuterung von Heidegger (1996c: 203-238). Aus dem Text heraus ergibt sich dieser Bezug nicht und kann daraus nicht gerechtfertigt werden. Als Versuch inwiefern dieser Ansatz hilft, heute hilft Jesus zu verstehen, ist dies dagegen durchaus mehr als berechtigt. Und hier wird sich dann auch zeigen, dass das Konzept der Richtigkeit hier grundfalsch ist, aber auch das jedes Wort hier nicht mehr genügt und dass es seine Berechtigung und seinen Grund hat, dass das Wort vom „Licht der Welt“ hier so erratisch im Text steht. 

 

Exkurs: Das Höhlengleichnis als Wink auf den Weg für einzelnen Glaubenden 

Heidegger schreibt zur Einführung des Höhlengleichnisses: „Die Sonne gibt als die Quelle des Lichtes dem Gesichteten die Sichtbarkeit. Das Sehen aber sieht nur das Sichtbare, sofern das Auge ήλωειδές, ‚sonnenhaft‘ ist, indem es ein Vermögen der Zugehörigkeit zur Wesensart der Sonne, d.h. zu ihrem Scheinen hat. Das Auge selbst ‚leuchtet‘ und ergibt sich dem Scheinen und kann so das Erscheinende empfangen und vernehmen. In der Sache gedacht, bedeutet dies Bild einen Zusammenhang, den Platon (VI, 508 e, lsq.) so ausspricht: τοϋτο τοίνυν τό τήν àλήΰειαν παρέχον τοϊς γιγνωσκομένοις καϊ τω γιγνώσκονζι ζήν δύναμιν άποδιδόν τήν τον άγαθού ϊδέαν φάθι εϊναι. ‚Dieses also, was die Unverborgenheit gewährt dem Erkannten, aber auch dem Erkennenden das Vermögen abgibt (zu erkennen), das, sage, ist die Idee des Guten.’“ (Heidegger 1996c: 226) Wenn wir das Höhlengleichnis nun dafür gebrauchen, um Jesus Wort „Ich bin das Licht der Welt“ zu erschließen, so ist dies rein metaphorisch und als heuristisches Mittel. Hier besteht weder die Gefahr, dass Gott für die physischen Sonne gehalten wird (wie Augustinus warnt), noch bedeutet dies, dass der Evangelist dieses Gleichnis von Platon bewusst als Hintergrund verwendet hat. Wenn sich also Jesus als das Licht versteht, so macht er damit auch deutlich, dass er in sich selber nichts ist, sondern alles vom Vater (der Sonne) nimmt und von ihm geschickt ist (was in der folgenden Diskussion mit den Pharisäern wieder wichtig wird): So wie das Licht nichts aus sich selbst heraus ist, sondern all seine Wirkung von der Sonne nimmt. In einem ähnlichen Verhältnis stehen auch Vater (Sonne) und Sohn (Licht). Das Licht gibt die Sichtbarkeit, was aber nicht bedeutet, dass das Gesichtete ohne das Licht nicht da wäre. Die Welt ist auch in der Nacht da, aber man sieht sie nicht oder nur eingeschränkt und schattenhaft. Auch für uns ist die Welt vorhanden, wenn wir nicht aus dem Licht von Jesus leben. Wir leben und arbeiten jeden Tag in der Welt, gebrauchen sie zu unserem Nutzen. Aber vielleicht erkennen wir das Wesentliche der Welt tatsächlich meist nicht. Oft erkennen die Menschen angesichts der Erfahrung des Todes, dass die meisten Sachen, die sie in ihrem Leben machen, beschäftigen und wichtig sind, im Grunde ziemlich unsinnig sind: Geld, Auto, Karriere, Titel etc. sind alle wertlos. Nur manchmal scheint ein wenig Sinn dann doch durch, so der Besuch im Fußballstadion, aber nicht weil die Mannschaft gewinnt oder verliert, sondern weil man eine Ahnung erfährt von einer aufrichtigen Gemeinschaft und Verbundenheit. Große und sinnvolle Momente des Lebens sind eben eigentlich nur da, wo man wirklich geliebt hat… dies wird grundsätzlich immer noch gesellschaftlich hoch geschätzt, aber eher als Lippenbekenntnis. So sieht das Arbeitsgesetz vor, dass man beim Tod eines sehr nahstehenden Menschen wie dem eigenen Kind, Partner oder der Eltern einen (sic!) Tag Sonderurlaub erhält. Das ist nicht wertschätzend, sondern zynisch! 

 

Jesus ist das Licht, dass uns die Welt genau so sehen lässt: liebend! Und zwar liebend nicht als Ausnahme und kleine, seltenen Inseln in unserem Leben, sondern als Grundzug, der sich in jedem Moment und jeder noch so alltäglichen Verrichtung zeigt und diese durchstimmt. Das ist das Licht, wonach wir unser Leben ausrichten.…könnten, sollten, müssen?! „Nicht unterscheiden sich die Söhne Gottes von den Söhnen des Teufels wenn nicht durch die Liebe… Was immer du willst, habe, - Hast du dies [d.h. die Liebe] allein nicht, nützt es dir nichts: hast du das andere nicht, habe dies, und du hast erfüllt dass Gesetz. […] Hab die Liebe, und, was du willst, tu“ (Augustinus zit. nach Przywara 1934: 479f.) 

 

Das Sehen ist nach Platon und auch den meisten anderen antiken griechischen Philosophen nur möglich, sofern das Auge selbst sonnenhaft ist, d.h. Anteil an der Sonne hat, zu ihrem Wesen gehört. Dies mag für das physische Sehen heute sich eher amüsant anhören. Inwiefern dies heute noch vertretbar oder auch nur verstehbar ist, muss hier nicht diskutiert werden. Allerdings in der Übertragung auf Jesus ist es leicht nachvollziehbar. Denn wenn ich nicht selber liebend werde, kann ich nicht mit dem Licht von Jesus sehen. Ich kann Jesus liebende Worte und Handlungen in dogmatisch-abstrakte Aussagen transformieren und systematisieren (sozusagen eine römische triviale Maschine im Sinn von Heinz von Foerster), damit hat man aber das eigentliche Licht ausgetrieben, „löscht den Geist nicht aus“ (1 Thess 5, 19). Dieses Licht kann man sich nicht neutral als Wissen aneignen, Wissen kann nur eine Hinführung sein. Dies geht nur indem man es wirklich lebt, in diese Liebe und in Jesus hineinspringt und dann kann dies durchaus oft mit der kodifizierten Form des Gesetzes von Moses im Konflikt sein, aber auch mit der Moral der Kirche im Widerspruch stehen. Pharisäer und Kardinäle sind da nicht so weit auseinander. „Hab die Liebe, und, was du willst, tu“ wie Augustinus oben gesagt hat. Für Platon gewährt dies die Idee des Guten, christlich übertragen gründet dies dann in der αγάπη. Im Zen gibt es hierfür auch ein sehr prominentes Beispiel in dem Mönch Deshan Xuanjian (德山宣鑑, 780/2-865), der erst einer der geschicktesten Ausleger des Diamant-Sutra war, aber erst zur Erleuchtung kam, nachdem er Sutra und Kommentar verbrannte, um nur aus dem Geist des Sutras zu leben (vgl. Dogen 2013: 251ff.), dort ist dieser Grund dann nicht das Gute oder die Liebe, sondern die Leere. 

 

Heidegger fährt in seiner Auslegung des Höhlengleichnisses fort: „Das ‚Gleichnis‘ nennt die Sonne als das Bild für die Idee des Guten. Worin besteht das Wesen dieser Idee? Als Ιδέα ist das Gute ein Scheinendes, als dieses das Sichtgebende und als dieses selbst ein Sichtiges und daher Kennbares, und zwar εν τω γνωστώ τελενταία η τόυ άγα άγαθοϋ ίδέα καί μόγις όρασθαί (517b, 8). ‚Im Bereich des Kennbaren ist die Idee des Guten die alles Schemen vollendende und daher auch erst zuletzt eigentlich gesichtete Sichtsamkeit, so zwar, daß sie kaum (nur mit großer Mühe) eigens gesehen wird.‘“ (Heidegger 1996c: 226f.) Platon versteht hier das Licht als Idee des Guten, wobei diese nicht eine Idee unter vielen anderen ist, sondern die alles erst ermöglichende Idee, die erst alles sichtbar macht. Paradoxerweise ist diese Idee aber selber kaum sichtbar bzw. nur mit spezifischer Anstrengung. Auch hier lässt sich gut eine Parallele zu einem christlichen Gottesverständnis ziehen, allerdings vielleicht nicht nur in Bezug auf das Sehen (hier ist Platon als Philosoph dann doch sehr auf dass Wissen fixiert), sondern noch eine Stufe grundsätzlicher nämlich auf das Leben bezogen. So ist Gott der alles ermöglichende, wir leben in seiner Schöpfung, bekommen unser Leben und das Leben was uns umgibt durch ihn geschenkt. Aber genauso wie beim Sehen, wird das Ermöglichende selbst in der Regel nicht gesehen. Leben ist selbstverständlich und wird auch weitgehend bedenkenlos genommen (Tiere werden getötet, um sie zu essen, materielle Güter sind so ungleich verteilt, dass viele Menschen kaum ein Leben ermöglicht wird bis dazu hin, dass sie durch diese Ungleichheit verhungern, Kriege werden aus reinen Machtinteressen geführt etc.). Dass das Leben ein unverfügbares Geschenk ist und auch in diesem Sinne von den Menschen behütet werden muss, wird meist nur kurz sichtbar, wenn das eigene Leben oder von sehr nahestehenden Menschen bedroht ist. Und selbst da haben wir als Gesellschaft gute Verdrängungsmechanismen entwickelt. Das Größte was wir haben, nehmen wir leider kaum mehr als Geschenk wahr und verhalten uns auch nicht dazu als Geschenk, sondern meist als verfügbares Eigentum (bis zu dem Punkt, wo wir wirklich ohnmächtig sind und merken, dass unser Können an seine Grenzen stößt (etwa bei der Behandlung von schweren Krankheiten)). Bestenfalls wird Leben als schützenswert betrachtet und gebietet einen ethischen Umgang. 

 

Heidegger schreibt weiter: „τό άγαθόν übersetzt man durch den scheinbar verständlichen Ausdruck ‚das Gute‘. Man denkt dabei meist auch noch an das ‚sittlich Gute‘, das so heißt, weil es dem Sittengesetz gemäß ist. Diese Deutung fällt aus dem griechischen Denken heraus, wenngleich Platons Auslegung des άγαθόν als Idee zum Anlaß wird, ‚das Gute‘ ‚moralisch‘ zu denken und schließlich als einen ‚Wert‘ zu verrechnen.“ (Heidegger 1996c: 227) Und dies kann sicherlich auf unser Verständnis von Gott übertragen werden. Glauben bedeutet oft ein Wertegerüst zu haben und damit in der Regel eigentlich auch konservative Werte. Kirche wird nur noch als Moralinstitution wahrgenommen - weil sie auch alles dafür macht, um so wahrgenommen zu werden. Denn wer hat die Messfeier denn tatsächlich mal als befreiende und freie Feier wahrgenommen? Oft sind Messen das absolute Gegenteil, nämlich furchtbar langweilig und triefend von Moral - und Saufen darf eh nur der Pfarrer und alle andere dürfen ihm dabei zuschauen. Aber warum geht man weiter dort hin? Vielleicht weil man hofft, die Wahrscheinlichkeit zu steigern, in den Himmel zu kommen? Vielleicht weil es in der Peer Group so erwartet wird? Oder ahnt man selbst in diesem Lackeimer (wie man im Zen sagen würde) und in dieser vertrockneten Form von Messe etwas, was da an Geheimnis durchscheint? (Dies wäre zum Beispiel ein Thema was sich im Synodalen Weg mal gelohnt hätte - aber vermutlich war man realistisch genug, um zu sehen, dass einem dafür die Idee fehlen - und vielleicht sogar die wirklich Glaubenden). Aber dieses Abgleiten in Werte ist nicht etwas, was nur die Kirche in die Dekadenz getrieben hat, sondern Heidegger zeigt auch für die Philosophie auf, dass es eine Neu-Besinnung geben muss, die einen anderen Anfang aus einem ursprünglichen Denken - und man mag ergänzen und Glauben - braucht. 

 

Heidegger fährt fort mit der Beschreibung der Idee des Guten im Verhältnis zu den Bewohnern in der Höhle, wobei wir hier weiter das Gute auch metaphorische als Gott lesen können und die Höhlenmenschen als die „Sünder“ bzw. die durch ihr eigenes Ego Verblendeten: „Das Gute darf die ‚höchste Idee‘ genannt werden in einem doppelten Sinne: Sie ist im Rang der Ermöglichung die oberste, und der Aufblick zu ihr ist der steilste und daher mühevollste. Trotz der Mühsamkeit der eigentlichen Erfassung steht die Idee, die dem Wesen der Idee zufolge, griechisch gedacht, ‚das Gute‘ heißen muß, in gewisser Weise doch überall und ständig im Blick, wo überhaupt irgendein Seiendes sich zeigt. Selbst dort, wo nur die in ihrem Wesen noch verborgenen Schatten erblickt werden, muß dazu doch schon ein Feuerschein leuchten, wenngleich dieser Schein nicht eigens erfaßt und als Gabe des Feuers erfahren wird, wenngleich hier vor allem noch unerkannt bleibt, daß dieses Feuer nur ein Sproß (έκγονον VI, 507 a, 3) der Sonne ist. Innerhalb der Höhle bleibt die Sonne unsichtbar, und doch zehren auch die Schatten noch von ihrem Licht. Das Höhlenfeuer aber, das die sich selbst im eigenen Wesen nicht kennende Vernehmung der Schatten ermöglicht, ist das Bild für den unbekannten Grund jener Erfahrung des Seienden, die zwar Seiendes meint, aber es nicht als ein solches kennt. Die Sonne jedoch schenkt durch ihr Scheinen nicht nur die Helle und damit die Sichtbarkeit und damit die ‚Unverborgenheit‘ allem Erscheinenden. Ihr Scheinen verstrahlt zugleich die Wärme und ermöglicht durch ihr Beglühen allem ‚Entstehenden‘ das Hervorgehen in das Sichtsame seines Bestandes (509b).“ (Heidegger 1996c: 228f.)  Versteht man parallel zur Idee des Guten nun Gott, so ist zunächst ausgesagt, dass er das Oberste ist, was uns gegeben ist und zu ihm nichts Vergleichbares besteht. Durch ihn ist alles erst ermöglicht, alles ist Schöpfung und geht auf ihn zurück und ist sein Geschenk. Aber der Aufblick zu Gott ist auch der steilste und mühevollste, somit passiert er nur selten. Meist bleiben wir bei dem was auf unserer Ebene ist und sehen nur uns selbst, bis dahin dass das neuzeitliche Ego im Ausgang von Descartes alles aus sich selber heraus begründet. Und auch wenn wir meist Gott nicht explizit wahrnehmen, ist er doch ständig im Blick. Denn es ist jederzeit möglich eine Umkehr im Blick zu machen (μετάνοια) und unsere Welt nicht als banalen Alltag oder unsere geniale Konstruktion und Ego-Feier zu sehen, sondern als geschenkte und unverdiente Schöpfung. Gleichwohl als übergebene Schöpfung, die zu verwenden und zu vollenden ist und damit doch wieder die menschliche Aktivität und auch Konstruktion gefordert ist. Aber eben nicht als letzte Grundlage, sondern als Mit- und Zuarbeit. Dies ist ein vorsichtigerer Zugang zur Welt. Es ist weniger die Verwendung von Glyphosat, womit die Erde eher gewaltsam zum selbstgesetzten Zweck geknechtet wird, sondern eher Ökolandbau chinesischer und kybernetischer Denkungsart, die das verstärkt oder dämpft, was ihr vorgegeben ist und damit viel stärker auf das Vorgegebene hört. 

 

In der Regel erblicken wir die Schatten an der Höhlenwand, die viel weniger eindeutig sind, als das, was sie abbilden. Hier besteht ein großer Spielraum die eigenen Konstruktionen anzuwenden und auch recht frei die eigenen Wünsche und Ziele hereinzulegen. Umso weniger differenziert die „Grundlage“ wahr und ernst genommen wird, umso freier kann die Konstruktion stattfinden (siehe z.B. den Amerikaner mit dem kleinen Zeigefinger). Es ist eher ein Wettkampf der Höhlenbewohner untereinander, wer am geschicktesten Regelmäßigkeit, Gesetze und Wiederholungen erkennen kann oder auch einfach die spannendsten Stories zu den Schatten erzählen kann oder auch die Stories, die am besten und einfachsten an die eigenen Werte anknüpft und diese bestätigt. Dabei sind sie vollkommen  gefesselt an ihr eigenes Tun und ihre eigenen Konstruktionen. Systemtheoretisch würde man sagen, dass sie gefesselt sind in einer Beobachtung erster Ordnung (Luhmann 1984), wodurch sie es nicht schaffen, die Schatten als Schatten zu sehen bzw. die eigenen Konstruktionen als eigene und damit aber auch kontingente Konstruktionen, die durchaus auch ganz anders gesetzt werden könnten. Heidegger legt neben dem bisher zitierten Aufsatz von 1940 das Höhlengleichnis bereits 1931/32 in einer Vorlesung aus und schreibt dort zur ersten Stufe: „Die Gefesselten sehen zwar die Schatten, aber nicht als Schatten von etwas. Wenn wir sagen: die Schatten sind ihnen das Un-verborgene, so ist das zweideutig und sagen wir im Grunde bereits zu viel. Was sie vor sich haben, bezeichnen nur wir, die wir die ganze Lage schon übersehen, als Schatten [d.h. eine Beobachtung zweiter Ordnung vornehmen]. Warum können das nicht auch die Gefesselten? Weil sie nichts wissen von einem Feuer, von etwas, was einen Schein, ein Licht gibt, in dessen Helle allererst so etwas wie Schatten geworfen werden, ein anderes sich abschatten kann, und weil sie nichts wissen von Dingen und Menschen, die im Licht einen Schatten werfen können. […] denn es liegt im Wesen ihres Daseins, daß ihnen gerade dieses Unverbor­gene, das sie vor sich haben, genügt, - so sehr, daß sie auch nicht wissen, daß ihnen das genügt. Sie sind dem hingegeben, was ihnen unmittelbar begegnet.“ (Heidegger 1988: 26) Die Fesseln sind deswegen gar nicht so sehr ein physischer Zwang, der sie hier ausrichtet, sondern sie binden sich selber durch ihre Konstruktionen und dem Wettbewerb um die besten Erzählungen und Konstruktionen der Schatten…. gefesselt von Likes, Impact Factor, Boni-Zahlungen, Ämter, Weihen etc., was für wertlose Schatten. „Nach all dem ist es nicht verwunderlich, daß Glaukon, dem dieses Bild dargestellt wird, es ατοπον findet: etwas, das keinen Ort und Platz hat, nirgends unterzubringen, aus-gefallen, d. h. was herausfällt aus dem Üblichen, Alltäglichen, Geläufigen (Augenschein, Hörensagen, Gerede). Und doch ist es, nach der Versicherung des Sokrates, nur ein Bild der alltäglichen Lage des Menschen, die dieser, eben weil er nur den Maßstab der Alltäglichkeit hat, in ihrer Befremdlichkeit gar nicht zu sehen vermag. […] Die Befangenheit zeigt sich darin, daß eben, wie wir jetzt sehen, ein so Gefangener seine Lage gar nie schildern könnte, wie sie im Bilde dargestellt wird. Ja er weiß noch nicht einmal, daß er in einer ‚Lage‘ ist. Auf Be­ fragen erzählt er immer nur von den Schatten, - die er zwar nicht als Schatten kennt. Er weiß sich an seinem, dem einzigen und rechten Orte und läßt sich von dem, was ihm das offenbar Seiende ist, nicht wegrücken. Er würde jede solche Zumutung für verrückt erklären“ (Heidegger 1988: 28) 

 

Auf der Ebene der Beobachtungen der Schatten realisieren die Höhlenbewohner deswegen nicht, dass sie dafür das Feuer und die Dinge hinter sich benötigen. Dieses Spektakel hinter ihnen sehen sie gar nicht, sondern sehen nur ihr eigenes Ich, was sich Regelmäßigkeiteen, Stories etc. ausdenkt und dies im Wettkampf mit den anderen Egos in der Höhle. Die Philosophen und später in der Geschichte dann auch die Soziologinnen drehen sich aber um, und erkennen, dass es sozusagen eine Folie gibt, auf der die Menschen sich ihre Konstrukte bilden. Diese sind dagegen keine direkten Konstrukte von einzelnen Menschen auf die beobachteten Schatten, sondern sind vorgegeben und geben einen Rahmen und Leitplanken in denen sich die einzelnen Konstrukte bewegen. Dies können Transzendentalien sein wie Raum und Zeit bei Kant oder die Welt als Wille zur Macht bei Nietzsche bis hin zu sich verändernden gesellschaftlichen Semantik und Systemlogiken wie bei Luhmann. Dies ist das Feuer, was der Mensch nicht selber angezündet hat und nach seiner eigenen Logik brennt (auch wenn Habermas meint, dass auch dies nach menschlichen Absichten gestaltet und korrigiert werden kann und absurderweise dies gerade in seinem Religionsbuch als Grundlage formuliert (Habermas 2019: 36f.)). 

 

Auf dieser zweiten Stufe taucht dann nach Heidegger der Begriff der Richtigkeit auf, so dass die Erzählungen der Höhlenbewohner nicht nur aus sich heraus beurteilt werden, wer also die spannendste Story zu erzählen hat (und diese Abkopplung kann man heute gut in den Blasen in sozialen Medien und im Populismus mit den alternative facts sehen). Sondern der Philosoph und Soziologe ordnet das Sensemaking der Höhlenbewohner vor seinem Hintergrund ein und gibt dann ein Urteil über die Richtigkeit der unterschiedlichen Stories ab. „Die Richtigkeit des Sehens und Besehens der Dinge, und damit des Bestimmens und Aussagens, gründet in der jeweiligen Weise der Zuwendung und Nähe zum Seienden, d. h. in der Art, wie jeweils das Seiende unverborgen ist. Die Wahrheit als Richtigkeit gründet in der Wahrheit als Unver­borgenheit. Wir sehen jetzt schon, wenngleich roh genug, erstmals einen Zusammenhang zwischen den beiden Wesensfor­men (Wahrheitsbegriffen) auftauchen, die wir anfangs nur nebeneinanderstellten und getrennt entfalteten. Wahrheit als Richtigkeit der Aussage ist gar nicht möglich ohne Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden. Denn das, wonach die Aus­sage sich richten muß, um richtig werden zu können, muß zu­ vor schon unverborgen sein. Das sagt: nimmt man das Wesen der Wahrheit ausschließlich als Richtigkeit der Aussage, so ver­rät man damit, daß man nicht einmal das versteht, was man da als Wesen der Wahrheit in Anspruch nimmt.“ (Heidegger 1988: 34) Heidegger verweist hier darauf, dass die beiden Ebenen sich nicht entkoppeln dürfen. Zwar erkennt der Philosoph erst die Bedingungen der Erkenntnis und kann auch erst Aussagen machen, die entsprechende Wahrheitskriterien in Anspruch nehmen, aber hier besteht die Gefahr des Glasperlenspiels. Wir haben auf der ersten Ebene die Höhlenbewohner, die sich rein praktisch in ihrer Welt orientieren, um darin leben zu können und auf der zweiten Ebene, die Philosophen, die die Bedingungen dieser Orientierungen reflektieren, die nicht notwendigerweise immer einen lebenspraktischen Nutzen haben müssen. Hier werden propositionale Ausssagewahrheiten getroffen, die zunächst aus der Lebenswelt abgeleitet werden, die aber auch logisch auseinander abgeleitet werden können. (Also Beispiel: Der Synodale Weg macht im Grunde nichts anderes, indem er die gesellschaftlichen Hintergründe und deren Veränderungen reflektiert und für die Konstruktion der Schatten berücksichtigen möchte und diese entsprechend anpassen möchte. Dabei gibt es dann Widerstand von denen, die weiterhin nur gefesselt auf die Schatten starren. Hier ist es sicher falsch nur an den überlieferten Interpretationen der Schatten festzuhalten - gleichwohl ahnt man, dass der Glaube nicht auf einer philosophisch-soziologischen Ebene allein reformiert werden kann. Denn dies hat die protestantische Kirche schon lange erreicht, was der synodale Weg versucht zu erreichen. Aber dies ist eben nicht das Licht, was dem Glauben heute weitgehend abhanden gekommen ist. Denn dies spielt sich nicht auf der Ebene ab, das Feuer zu beobachten, sondern noch deutlich mehr Mut aufzubringen und wirklich in die dritte Stufe zu springen, aber daran kann eine so vorsichtige und traditionsbewusste Kirche noch nicht einmal denken. Aber erstmal wieder zurück zur zweiten Stufe.) 

 

Entkoppelt sich dies allerdings von der Lebenswelt der Höhlenbewohner, kann dies sicher in manchen Fällen und Situationen Sinn machen, indem man Grundlagenforschung betreibt. Dies kann aber oft auch zu einer wissenschaftlichen Dekadenz führen. Hier hat man dann das Gegenstück zu den alternative facts des Populismus, indem kaum verstehbare selbstreferentielle Texte produziert werden. Gute Beispiele sind Derrida und Luhmann, die wirklich sehr kluge Sachen geschrieben haben, aber fast alle Schüler produzieren nur noch inhaltsfreien Jargon (klar gibt es Ausnahmen wie etwa Baecker, Nassehi oder Stichweh. Aber warum gibt es eigentlich kaum systemtheoretische oder dekonstruktive empirische Forschungsansätze und gute Arbeiten?) Deswegen bindet Heidegger die beiden Bereiche zusammen: „Wahrheit als Richtigkeit der Aussage ist gar nicht möglich ohne Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden.“ (Heidegger 1988: 34), obwohl man vorwegnehmen muss, dass die Unverborgenheit sich ebenfalls in einer noch viel tieferen Dimension auch auf der nächsten Ebene  erstreckt (allerdings hat Heidegger dies nie wirklich differenziert und sich in seinem Verständnis vom Sein eher immer auf dem Weg zum Ausgang der Höhle befunden, als dass er das Feuer untersucht hätte, wie dies der Soziologe tut). Aber Heidegger konstatiert, dass auch die Menschen, die sich nach den Schatten umgedreht haben, wieder zurück in das fesselnde Schattenspiel zurück wollen. „Wonach schätzt der Entfes­selte, wenn er zu den Schatten zurückwill und sie als das Un­verborgenere anspricht? Weil er sie für das Seiende hält. Und weshalb das? Dort, den Schatten zugewendet, hat er kein Ge­flimmer vor den Augen, was eintritt, wenn er ins Licht sehen muß; er hat keinen Schmerz in den Augen, und vor allem: dort bei den Schatten bewegt er sich in dem, α δυναται, was er vermag, was ihm keine Mühe macht, was gleichsam von selbst geht. Dort bei den Schatten, in den Fesseln, ist das Gang­bare und was sich von selbst gibt, das ‚Gang und Gäbe‘, was keine Anstrengung verlangt und keine Hemmung, keine Rück­schläge, keine Wirrung bringt und wo jedermann ihm zu­ stimmt.“ (Heidegger 1988: 35) Wenn man versucht sich Heideggers vermutete Aussage lebensweltlich zu plausibilisieren, so ist dies schon vorstellbar, denn viele junge Menschen beschäftigen sich in der Jugend und als junge Erwachsene mit Literatur und Philosophie - was dann in der Regel aber abnimmt, weil man eingenommen wird von Beruf und Familie und Ehrenämtern und Fußballclub… Und selbst die wissenschaftliche Philosophie kann genauso zu einem Geschäft werden, was mehr der sicheren Beobachtungen der Schatten gleicht, als ins Feuer zu schauen. Es ist die Rückkehr in das, was Heidegger in „Sein und Zeit“ das Man bezeichnet hat (Heidegger 1993: 114ff.). 

 

Aber muss man dies unbedingt als negativ ansehen? Denn wenn man das zweite Stadium systemtheoretisch bezeichnen wollte, würde man von Beobachtung zweiter Ordnung sprechen. D.h. der Beobachter reflektiert den Hintergrund seiner eigenen Konstruktionen und wird sich dem mehr oder weniger tief bewusst. Luhmann fasst dies allerdings deutlich basaler, da man hierfür nicht Philosophie studieren muss, sondern nur einen Schritt zurücktreten muss aus seinem alltäglichen Handlungsbezügen, um dies betrachten zu können. Was hier im kleinen vollzogen wird, macht die Philosophie einfach nur in Bezug auf die ganze Welt. Luhmann betont aber auch, dass man kein Leben in der Beobachtung zweiter Ordnung führen kann, weil man dann handlungsunfähig ist. Man muss einen Großteil unserer Welt als unreflektiert gegeben hinnehmen, um überhaupt eine entsprechen Komplexitätsreduktion vornehmen zu können, d.h. überhaupt in der Lage zu sein, handeln zu können. Es können immer nur Teile und für bestimmte Zeit reflektiert werden und in ihrer Konstitutionsweise als kontingent angesehen werden. Damit wäre es keine Entscheidung des Entweder-Oder zwischen Beobachtungen Beobachtung der Schatten oder dem Feuer, sondern ein zeitliches sich Hin und Her bewegen. Aber hier war das westliche Denken nie besonders geschickt: so gibt es die relativ starre Gegenüberstellung der Vita activa mit der Vita contemplativa. So bleibt der Mönch abgeschlossen in seinem Kloster mit seiner Visio beatifica alleine und pflegt diese und betet lediglich für die aktive, blinde Welt. Dagegen kannte der Osten immer die Rückkehr in den Alltag, so dass es nach der Erleuchtung zurück auf den Marktplatz geht, weil der Bodhisattva gelobt hat, alle lebenden Wesen ebenfalls zur Erleuchtung zu führen (eines der zentralen Bodhisattva-Gelübde). Gerade im chinesischen Denken ist dies sehr differenziert und feinfühlig gestaltet, weil als Grundlage hier immer das Verhältnis von Yin und Yang gedacht wird, dass immer auf wechselseitigen Ausgleich in einer sehr großen Vielfalt drängt. 

 

Die beiden Stufen sind damit sicher sehr essentielle Bezüge, in denen sich menschliches Leben vollzieht, indem zunächst Seiendes unverborgen zugänglich wird und dann dieses Seiende in der Art und Form seiner Unverborgenheit reflektiert wird, aber sie bringen „nicht vor das Unverborgene als Unverborgenes. Sie wissen nicht davon, daß und wie das Unverborgene, dem sie zugetan sind, ein solches ist, - daß da so etwas wie Unverborgenheit geschieht. Dieses Geschehen der Unverborgenheit ist auch für den Ent­fesselten nicht da. Woran zeigt sich das? Er kann nicht unter­scheiden zwischen den Schatten und den Dingen, Unverborge­nem und Unverborgenem hinsichtlich seiner jeweiligen Unver­borgenheit.  Allein, wir sagten doch, der Unterschied trete auseinander? Gewiß, der Unterschied zwischen Schatten und wirklichen Din­gen meldet sich; doch der Entfesselte vollzieht nicht die Unterscheidung, kann den auseinandertretenden und so nahegeleg­ten Unterschied als solchen nicht fassen und wirklich vollzie­hen, sich nicht dazu in ein Verhältnis bringen. Der Unterschied aber geschieht im Vollzug der Unterscheidung. Die Unterschei­dung vollziehen wäre Mensch-sein, Existieren. […] das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit gehört in den Zusammenhang zwischen Freiheit, Licht und Seiendem, genauer: dem Frei-sein des Menschen, dem Ins-Licht-sehen und dem Verhalten zu Seien­dem. Freiheit, Licht, Seiendes, Unverborgenheit sind nicht wie einzelne Dinge, Stücke und Momente aufeinander bezogen, - sondern? Ja, so fragen wir wieder: welches ist der Zusammen­hang, den wir suchen? Den uns das zweite Stadium noch nicht zeigt, der uns aber im dritten Stadium des Gleichnisses vor Augen tritt.“ (Heidegger 1988: 37f.) 

 

Die Philosophen erfahren also anders als die Höhlenbewohner, dass es eine Gabe des Feuers gibt, der die Grundlage der individuellen Konstrukte der Höhlenbewohner ist. Was er dagegen noch nicht erkennt, „daß dieses Feuer nur ein Sproß [.] der Sonne ist.“ (Heidegger 1996c: 228). Denn auch sie bleiben in der Höhle, nur dass sie sich umgedreht haben und sehen woher die Schatten kommen. Sie sind noch festverhaftet in der Gemeinschaft der Höhlenbewohner. Nur dass sie ein exklusives  Wissen reklamieren, was sie durch unzugängliche Sprache und eigene Begriffe vor dem Rest schützen, um so besser Klugscheißen zu können (eine Kunst, wie man hört, die insbesondere die Soziologen beherrschen - zumindest einige von ihnen). Und auch Kirche scheint machmal sogar mehr als der Rest der Gesellschaft so gefesselt zu sein, an konservative Schatten, die an Werte, Traditionen etc. festhält, ohne als erstes auf das Befreiende dahinter zu schauen, das Licht, die Sonne… hierauf macht Jesus aufmerksam, denn er sagt nicht, ich bin die Moral der Welt, sondern das unbegreifliche und nie festhaltbare und definierbare Licht! 

 

Zwar kommt der Mensch über sein unmittelbares Sensemaking im Alltag hinaus, indem er dies z.B. wissenschaftlich reflektiert und so etwa Kausalität und Korrelation unterscheiden kann oder durch eine theologische Reflexion einem Aberglauben entgegentreten kann - aber eine Befreiung ist damit noch nicht erreicht. Dies muss im folgenden gut begründet werden, weil es ja der Grundprämisse unserer heutigen Gesellschaft widerspricht, wenn die wissenschaftliche Reflexion nicht als die wesentliche Befreiung angesehen wird, sondern erst in einem „Sprung“, der nicht rational begründet werden kann, und dann wieder Religion ist, auch wenn er sich unterscheidet von dem, was heute als Kirche gelebt wird. Dieser Sprung ist nötig, weil „nicht ein Abnehmen der Fesseln innerhalb der Höhle, sondern das Hinaussteigen aus der Höhle ans Licht des Tages, weg überhaupt vom künstlichen Licht in der Höhle hin zur Sonne, ist echte Befreiung. Zunächst fällt, im Vergleich zum vorigen Stadium, auf: die mißlungene Befreiung kommt im dritten gar nicht mehr vor, wird nicht wieder versucht, und zwar nicht darum, weil sie un­vollkommen wäre, sondern weil sie überhaupt keine Befrei­ung ist. […] die eigentliche Be­freiung des Menschen zum ursprünglichen Licht.“ (Heidegger 1988: 41) Die zweite Stufe ist für eine eigentliche Befreiung noch viel zu stark mit der ersten verbunden. Und hier ist auch ein entsprechendes Hin und Her zwischen den beiden Bereichen dringend nötig, so dass sich Alltagspraxis wissenschaftlich reflektieren muss, aber auch die Reflexion ihren Alltagsbezug nicht verlieren darf. 

 

Um sich aus diesen Bezügen herauszulösen und tatsächlich die Höhle zum wahren Licht hin zu verlassen, ist sowohl Gewalt als auch eine tiefe Ruhe nötig. Und dies wird auch im Bild von Platon selbst abgebildet: „Der Übergang zu dem jetzt (außerhalb der Höhle, in der Freiheit) Unverborgenen geschieht βία (mit Gewalt). Die Be­freiung im Sinne der Herauskehrung ans Licht der Sonne ist eine gewaltsame. Zur Erreichung des jetzt Unverborgenen ge­hört Gewalttätigkeit, - daher das άγανακτείν, das Widerstreben, zumal der zu befreiende Mensch auf einem beschwerlichen, holprigen Weg hinaufgezwungen wird. Der Aufstieg verlangt Arbeit und Anstrengung und bereitet Mühe und Leiden.“ (Heidegger 1988: 42) Natürlich gehört auch zur Reflexion viel Anstrengung, als im bloßen Dahinleben, aber zumindest gibt es eine gesellschaftliche Gratifikation, wenn man eine fachliche Ausbildung hat und sein Handwerk versteht. Was hier allerdings auf der dritten Stufe gemeint ist, ist etwas vollkommen anderes. Dies ist eine Art Aussteigertum, was nichts mehr mit dem Werte- und Gratifikationssystem der Gesellschaft zu tun hat. Aber Aussteigen in einem zutiefst grundsätzlich Sinn, denn auch das Aussteigen eines Punks bleibt noch in diesem Wertesystem verhaftet, da ist heute vielleicht sogar der Ordenseintritt radikaler, obwohl auch hier genauso wie bei den Punks man wieder in einer interne Werteordnung eintritt. Wahre Aussteiger sind da oft eher die, die sich weitgehend unabhängig von der dogmatischen Kirche auf die Suche nach Gott gemacht haben. Schutzlos, ohne ein dogmatisches Geländer oder die Sicherheit der Mutter Kirche im Rücken zu haben, sondern offen, meist verzweifelnd suchend nach Gott sich auf den Weg gemacht haben. Und da ist vielleicht Christoph Schlingensief, der in das Schweigen hieinschreit, eher ein wahrer Heiliger, als die zahllosen Heiligen, die Johannes Paul II. sich so vorgestellt hat. Christoph ist da in einer Gemeinschaft, die so dermaßen unterschiedlich ist von den unterschiedlichen Charakteren, die sich dort wiederfinden, die aber eben alle ihren eigenen Sprung und ihren eigenen Weg gegangen sind, wie etwa Meister Eckhart, Niklaus von Kues, Ignatius von Loyola, Luther, Erich Przywara, Adrienne von Speyr aber wohl auch Zhuangzhi, Bodhidharma, Lindji, Dongshan Liangjie, Dogen, Ikkyu oder Nan Huai-Jin. 

 

Aber es braucht eben auch mehr, als nur ein bloßes Gegen. Es ist nie nur das Nein zur Kirche oder dem etablierten Buddhismus, sondern es ist ein „Aufbrechen“ in einem ganz buchstäblichen Sinne. Es ist der Sprung in eine Pilgerreise, die aber nicht auf den festen Pfade bleibt, sondern den eigenen Weg sucht und auf diesen hört. Und dies ist dann auch Aufbrechen, indem zwar schon die Tradition und Überlieferung genommen wird (alle oben genannten Personen waren sehr versiert in ihren jeweiligen dogmatischen Traditionen), aber diese von unten aus der jeweiligen Situation aufgebrochen werden, je auf die jeweils eigene Art und aus der jeweiligen Situation. Während die Dogmatik die Samenkörner sammelt und konserviert wie im Global Seed Vault in Spitzbergen, nur halt dann eben in Rom oder Chang’an, so werden diese Samen hier genommen und verschwendet. Jeder Dogmatiker ist schockiert, wie diese heiligen Schätze hier einfach in die dreckigen Erde gesteckt werden und verbuddelt werden. Die Samen werden sich selbst überlassen auch unter der Gefahr, dass sie nicht aufgehen oder von Unkraut überwuchert werden - aber dies ist das Leben und nur so kann neues Leben entstehen. Von diesem Geist und Mut ist die Kirche heute unendlich weit entfernt (nur so traurig weil das Bild vom Samenkorn ein zutiefst christliches Bild ist und auch im Buddhismus es im großen Tod entsprechende Parallelen gibt). 

 

„Die eigentliche Befreiung beruht nicht nur auf einer Ge­walttätigkeit [d.h. der Gewalttätigkeit auf den steinigen Weg nach oben aus der Höhle und der Gewalttätigkeit eines bloßen Gegens], sie erfordert zugleich eine Ausdauer und einen langen Mut, der ausreicht, um die einzelnen Stufen des Ver­trautwerdens mit dem Licht wirklich zu durchlaufen, - den ausgreifenden Mut, der warten kann, dem Rückschläge nichts anhaben, der weiß, daß in allem echten Werden und Wachsen keine Stufe übersprungen werden kann, daß leere Betriebsam­keit ebenso nichtig und verhängnisvoll ist wie blinde Begeiste­rung. Der so (in seinem eigenen Selbst) Umgewöhnte sichert sich, durch ein solches Frei-werden für das Licht, d. h. Vertraut­ werden mit und zum Licht, einen neuen Standort. Er will jetzt nicht mehr zurück, weil er jetzt das Schattenhafte des ganzen Höhlendaseins, den Schein der dort herrschenden Betriebsam­keit, des dort verteilten Ruhmes durchschaut.“ (Heidegger 1988: 43) Es ist damit ein paradoxe Situation aus der Höhle wirklich rauszukommen. Zum einen ist Gewalt notwendig, denn kein Mensch macht sich von selbst auf diesen Weg. Warum auch? Und es sind ja auch recht bequeme Fesseln und keine Folter. Warum sollte man den bequemen Kinosessel, mit Bier und Popcorn verlassen, an dem man durch den Hollywood-Blockbuster gefesselt ist, um draußen im hellen Foyer im Stehen und bei reinwehenden Winterwind mit Heidegger das Höhlengleichnis diskutieren oder bei einem Fall aus dem Hekiganroku anstehen? Man sollte dies mal versuchen, mitten in den Film in den Kinosaal reinzubrüllen, wer denn hierzu jetzt Lust hat und mitkommt. 

 

Was damit deutlich wird: es sind bequeme Fesseln und die Leute lieben diese Fesseln, weil sie sie gewöhnt sind und weil sie sich selbst und ihre Sorgen auf diese Weise vergessen können. Was ist dann diese Gewalttätigkeit? Auch Sudhanas Heilige (siehe oben) sind nicht von irgendjemanden den Weg gewalttätig hochgetrieben worden. Auch sie saßen bequem im Kinosessel, ohne dass sie jemand am Arm dort rausgerissen hat. Sondern sie konnten sich eher nicht auf den Film konzentrieren. Aber nicht weil sie, wie die klassische griechische Philosophie es als Ausgangspunkt nahm, neugierig waren, was es sonst noch gibt und dem Wesen der Dinge nachgehen wollten. Nein, der Film hat sie nicht gefesselt, weil sie etwas viel Stärkeres in sich gespürt haben: vielleicht konnten sie wegen Liebeskummer dem Film nicht folgen, vielleicht wegen Trauer um einen geliebten Menschen, der ihnen fehlte oder vielleicht ganz allgemein, weil sich ihnen die Welt langsam entzieht in ihren fesselnden Konstruktionen und nur noch als absurdes Theater empfunden wird. Das ist die Gewalt, die hier zwingt. Und diese Form von Gewalt hat dann eben auch einen langen Atem, so dass dies auch kein Widerspruch ist, den Heidegger dort beschreibt. Es ist eine Gewalt, die auch bei Rückschlägen nicht nachlässt, weil der trauernde Antrieb und die Leere da ist, aber eine Leere, die sich daraus nährt, dass sie um die Liebe weiß. Denn der Trauernde empfindet so, weil er wirkliche Liebe erfahren hat, die dann eben nicht vergeht, sondern bleibt - auch wenn die Person nicht mehr präsent ist. Er hat diese Liebe erfahren, die so etwas ganz anderes ist, als was ihm da auf der Leinwand vorgegaukelt wird. Und er oder sie kann versuchen dies wieder durch Betriebsamkeit zu verdrängen, bei vielen klappt die Verdrängung, aber auch etwas Verdrängtes bleibt da. Aber bei manchen funktioniert dies nicht, sie leben weiterhin aus dieser Liebe, auch wenn sie nicht mehr gelebt werden kann und nur noch eine Sehnsucht ist. Aber eine Sehnsucht nach Liebe, die einen langen Atem hat und die weiterhin trägt. Und die sich auf diesem steinigen Weg des Entzugs und der Trauer trotzdem und vielleicht gerade erst hier mit diesem Licht vertraut machen kann. Schritt für Schritt. Das ist die Gewalttätigkeit, die aus der Höhle treibt, und die durch einen Langmut und eine eigentümliche Form von Stille getragen wird. 

 

Diese Gewalttätigkeit, die einen Aufbrechen lässt aus dem Dunkel der Höhle, bezeichnet Heidegger im Ereignis-Denken seiner „Beiträge zur Philosophie“ als Sprung: „Zum Sprung kommen immer nur wenige und diese auf verschiedenen Pfaden. Immer sind es die des schaffend-opfernden Gründens des Da-seins, in dessen Zeit-Raum das Seiende als Seiendes verwahrt und damit die Wahrheit des Seyns geborgen wird. Dieses aber ist immer im äußersten Verbergung, die Entrückung in das Un-errechenbare und Einzige, an den schärfsten und höchsten Grat, der das Entlang dem Ab-grund des Nichts ausmacht und selbst den Abgrund gründet. Lichtung und Verbergung, die Wesung der Wahrheit ausmachend, dürfen daher nie als leerer Verlauf und als Gegenstand der ‚Erkenntnis‘, als eines Vorstellens, genommen werden. Lichtung und Verbergung sind entrückend-berückend das Ereignis selbst.“ (Heidegger 1989: 236) Dieser Absatz ist sehr dicht formuliert und hier sollen nur einige Facetten daraus aufgegriffen werden, die hier weiterhelfen. Zunächst ist zu sagen, dass der Sprung auch bei Kierkegaard ein zentrales Motiv ist, womit er den „garstigen Graben“ von Lessing überspringen möchte, dass der Glaube nicht durch den historischen Beweis der Existenz Jesus Christus zu erreichen ist. Kierkegaard versucht deswegen erst gar nicht ein solchen Beweisgang anzutreten, sondern er überspring diesen Graben in den Glauben hinein, mit einem rational nicht mehr beweisbaren Sprung. Heidegger knüpft nicht explizit daran an, aber es gibt durchaus verschiedene Parallelen. Aber es zeigt, dass Heideggers Denken, oft nicht weit weg vom christlichen Glauben ist oder auch vom Zen (wo es ähnliche Konstellationen gibt), nur dies auf sehr eigenen Art verwirklicht. 

 

Ähnlich wie Kierkegaard den rationalen Graben Lessings überspringt, ist es auch bei Heidegger ein Sprung, der aus den rechnend-rationalen Spielen der Höhle aussteigen lässt, sowohl der Schattenspiele als auch der wissenschaftlichen Spiele mit dem Feuer. Denn beide Bereiche in der Höhle verbindet das Errechenbare, der rationale Diskurs. Paradoxien oder Mehrdeutigkeiten können bestenfalls in der Kunst in der Schwebe gehalten werden, aber werden auf diese Weise auch gut domestiziert und auf diesen Bereich eingehegt. Für Heidegger macht aber gerade den Sprung bzw. der Aufbruch aus der Höhle gerade aus, dass es eine „Entrückung in das Unerrechenbare“ ist und immer nahe dem Nichts sich bewegt. Der Sprung ist kein Erkenntnis mehr. Es ist gar kein Vorstellen von Seiendem mehr, sondern der Sprung in die Verwahrung des Seyns. D.h. hier wird die Lichtung und Verbergung erst wirklich nachvollzogen von einem Einzelnen, also dem, was Erkenntnis überhaupt erst möglich macht bzw. noch deutlich über Erkenntnis hinausgeht, nämlich die Ermöglichung, dass überhaupt etwas ist und nicht viel mehr nichts, wie dies Leibniz formuliert hat, sich aber als Fragestellung durch dass Denken von Beginn an zieht (Schubbe et al. 2013; Heidegger 1997). 

 

Heidegger fragt dann weiter, wer denn dieses „Wesen“ Mensch ist, dem dieser Zugang zu Welt ermöglicht wird (oder der sich selbst dazu ermächtigt, wie etwa Rorty dies formulieren würde). „Wer ist nun dieser Mensch des Höhlengleichnisses? Nicht der Mensch überhaupt und im allgemeinen, sondern jener ganz bestimmte Seiende, der sich zum Seienden als einem Unverbor­genen verhält und in solchem Verhalten sich selbst unverbor­gen ist. Diese Unverborgenheit des Seienden aber, in der er steht und sich hält, geschieht im entwerfenden Erblicken des Seins, Platonisch gesprochen: der Ideen. Dieses entwerfende Erblicken aber geschieht als die Befreiung dieses Wesens zu sich selbst. Der Mensch ist derjenige Seiende, der das Sein ver­steht und auf dem Grunde dieses Sein-Verstehens existiert, d. h. unter anderem: zum Seienden als Unverborgenen sich verhält.“ (Heidegger 1988: 76f.) Der Mensch, der sich also zum Höhlenausgang bewegt, ist jemand, der diese Unverborgenheit wahrnimmt. Zwar liegt das Licht und die Unverborgenheit auch dem Erkennen in der Höhle zugrunde, aber immer nur indirekt und sie wird nicht als solche gesehen. Es wird hier nur das Seiende gesehen, was das Licht erhellt und nicht das Licht selbst wahrgenommen. Platon versteht diese als Ideen und Heidegger bezeichnet dies in den 1930er als das „entwerfende Erblicken“, was die Welt konstituiert und etwa in einen Zusammenhang der Zuhandenheit rückt, wie dies in „Sein und Zeit“ formuliert ist, und sich auf diese Weise in der Welt verhält. 

 

Heidegger bezeichnet dieses Selbstverhältnis hier auch als die Befreiung zu sich selbst. „Dieses eigentümliche Er-blicken der Idee, dieser Entwurf, ist entbergend. Das ist scheinbar zunächst nur ein anderes Wort. Dieses Erblicken als das vorbildende Sich-binden an das verstandene Sein, die rechtverstandene Be­freiung, ist entbergend nicht nur beiläufig, sondern dieses Ins­ Licht-sehen hat den Charakter des Entbergens, es ist von Hau­se aus nichts anderes als Entbergen. Entbergend zu sein ist die innerste Leistung der Befreiung. Sie ist die Sorge schlechthin: Frei-werden als Sich-binden an die Ideen, dem Sein die Füh­rung überlassen. Wir sagen daher: das Frei-werden, dieses Er­blicken der Ideen, dieses Im-vorhinein-verstehen des Seins und des Wesens der Dinge, ist entbergsam, d. h. es (das Entbergen) gehört zum inneren Streben dieses Sehens. Das Entbergen ist die innerste Natur des Ins-Licht-sehens.“ (Heidegger 1988: 73) Diese Entbergung von Welt im Ganzen versteht Heidegger als paradoxe Befreiung, denn sie ist „Frei-werden als Sich-binden“, und zwar das Sich-binden an das Sein (bei Platon an die Ideen). Damit ist das Entbergen nichts, was der Mensch sich selber als Plan zurechtlegt, um für sich so die Welt zu strukturieren. Vielmehr ist das Entbergen ihm gegeben, was aber gleichwohl nicht bedeutet, dass der Mensch damit bis ins letzte determiniert ist. Vielmehr denkt Heidegger dies als Dynamik einer Paradoxie, die das entwerfende Erblicken durch den wünschenden und planenden Menschen zusammen mit dem gegebenen Anblick durch das Sein bzw. den Ideen. Es ist dieses nie zu einem Stillstand kommende Spiel zwischen menschlicher Freiheit und einem transzendental oder auch göttlichen Licht. „Was wir kurz Entbergsamkeit nennen, ist das, was die oft besprochenen Phänomene, Er-blicken und Anblick (Idee), Licht und Freiheit, als das, was sich auf diese Grundleistung zusam­mendrängt, ursprünglich trägt und entfaltet.“ (Heidegger 1988: 73) Heidegger vermeidet mit dieser Paradoxie, dass das Denken einseitig entweder zu einer neoliberalen Freiheit degeneriert, der dem Menschen alle Freiheiten zubilligt, die in demokratischen Beschlüssen mehrheitsfähig sind, aber genauso auch einen Determinismus, der konkret um die Wahrheit weiß, indem diese für alle Zeit gültig offenbart wurde, und vor allem auch ausbuchstabiert und konkret in den Einzelheiten vorliegt oder herausgearbeitet werden kann, wie dies etwa bestimmte katholische Kreise zu „glauben“ scheinen. Für Heidegger bleibt dies ein paradoxes Spiel, was in seiner paradoxen Dynamik beibehalten werden muss. Denn nur in dieser Freiheit, die sich an das Sein bindet, in dem es auf dieses hört, kann ein befreiter Mensch sein. 

 

Auch wenn der befreiende Aufbruch, sich auf dem Höhlenausgang zum Licht zu bewegen, nur wenigen Menschen gelingt, indem sie sich hier auf den Weg machen, geht es dennoch um den basalsten Akt des Daseins: das Entbergen von Welt. „Denn es ist gar nicht selbstverständlich, daß ein Seiendes, ein Ding selbst, sichtbar ist. Aber diese beiden, das Sehen-könnende und das Sichtbare, können nicht einfach nur nebeneinander vor­kommen, sondern es muß etwas sein, was das Sehen auf der einen Seite und das Gesehenwerden auf der anderen ermög­licht. Das Ermöglichende muß ein- und dasselbe sein, muß Grund sein für beide, oder wie Platon das ausdrückt: das Sehen-können und das Gesehen-werden-können müssen hierzu beide unter ein Joch (ζυγόν) zusammengespannt werden. Dieses Joch, das erst die gegenseitige Bezogenheit beider aufeinander er­möglicht, ist φώς, die Helle, das Licht.“ (Heidegger 1988: 101f.) Heidegger und Platon machen hier noch einmal deutlich, wie wenig selbstverständlich es ist, dass überhaupt etwas ist, d.h. dass uns eine Welt gegeben ist und begegnet. Und diese Entbergung ist weder allein durch ein Ego möglich, noch liegt es selbstverständlich in den Dingen oder einem zugrundeliegenden Substrat eines „Ding an sich“, sondern im Licht, was die beiden erst aufeinander bezieht und dieses zusammenspannt. Aber gerade dieses ermöglichende Licht wird von den Höhlenbewohnern, zwar immer vorausgesetzt, aber nie als solches wahrgenommen. 

 

Aber wenn es um Wahrheit geht, geht es in der Regel nicht um dieses Entbergen, sondern ob etwas richtig ist. Auf dieser Ebene bewegen sich dann epistemologische Fragen wie Korrespondenz-, Kohärenz- oder Konsens-Theorien von Wahrheit (vgl. Davidson/Rorty 2005; Rorty 1981; Künne 2005). Heidegger setzt bei der Wahrheit allerdings noch diese Dimension der Entborgenheit voraus, die er bei den antiken Griechen noch implizit mitgedacht sieht, die sich aber dann im Verlaufe der abendländischen Philosophie verliert und in Vergessenheit gerät: „das antike Wort für Wahrheit ist privativ; es drückt ein Beseitigen aus, ein Entreißen, ein Angehen gegen . . ., mithin einen Angriff. Wo steht der Feind? Welcher Art ist der Kampf? Nur wenn wir dieses beides wirklich begrei­fen, ahnen wir etwas vom Wesen der αλήθεια, d.h. vom Ur­sprung dessen, was den innersten Grund der Möglichkeit unse­res Daseins als eines existierenden ausmacht. Wenn die Wahr­heit Angriff ist, dann muß der Feind die Un-wahrheit sein. Wenn aber Wahrheit besagt: Un-verborgenheit, dann muß der Feind die Verborgenheit sein. Wenn aber Verborgenheit, dann ist der Feind der Wahrheit nicht nur die Falschheit und die Unrichtigkeit. Steht es aber so, dann ist die Un-wahrheit selbst zweideutig, und gerade diese Zweideutigkeit der Unwahrheit birgt am Ende in sich die ganze Gefährlichkeit des Feindes der Wahrheit und demzufolge die Gefährdung jeder Wesensbestimmung der Wahrheit.“ (Heidegger 1988: 126) Heidegger weist hier auf ganz wesentlichen Aspekte von Wahrheit hin. Zunächst ist da der Begriff der Wahrheit, der zum einen von der griechischen Bedeutung der αλήθεια, als Un-Verborgenheit, verstanden wird. Dabei zeigt sich in αλήθεια, anders als im Deutschen oder Englischen, dass Wahrheit etwas Privatives ist, durch das α oder dann in der wörtlichen Übersetzung durch das Un-. Der Vorteil eines privativen Wahrheitsbegriffs besteht darin, dass er deutlich stärker auf die Gegenseite verweist, dem die Wahrheit abgerungen werden muss (mit Spencer Brown würde man allerdings heute sagen, dass dies für alle Begriffe gilt, dass man sie durch ihre Gegenseite, also dem von ihnen ausgeschlossenen bzw. negierten und privativen zu verstehen hat). Und über die Gegenseite des Wahrheitsbegriffs zeigt sich, dass der Begriff der Wahrheit zweideutig ist, weil die Gegenseite die Falschheit/Unrichtigkeit sein kann oder auch die Unverborgenheit - abhängig davon, ob man sich in der Höhle befindet oder sich auf dem Weg zum Höhlenausgang gemacht hat. 

 

Dabei stellt der erste Begriff der Wahrheit, als Richtigkeit/Unrichtigkeit, unseren westlich geläufigen Wahrheitsbegriff dar, den wir weitgehend als wissenschaftliche Einstellung abbilden und der tief unser westliches Grundverständnis prägt. Heidegger währt sich allerdings dagegen, dass Philosophie auf diesen Wahrheitsbegriff eingeschränkt wird. Zwar ist seit Platon die westliche Philosophie weitgehend diesem Wahrheitsbegriff gefolgt bzw. hat diesen zugrunde gelegt. Aber sie ist nicht notwendig darauf festgelegt, sondern es ist auch ein „anderer Anfang“ möglich (vgl. etwa Heidegger 1989; 2005), wie Heidegger ihn bei den Vorsokratikern, Hölderlin oder auch bei sich selbst erkennt. Für diese Richtungsentscheidung, welche Form der Wahrheit als Grundlage vorausgesetzt wird, spielt Platon eine entscheidende Rolle, die Heidegger 10 Jahr nach der Vorlesung über das Höhlengleichnis mit aller Deutlichkeit formuliert: „Schon der innerhalb der Höhle Befreite richtet, wenn er sich von den Schatten weg und zu den Dingen hinwendet, den Blick auf solches, was ‚seiender‘ ist als die bloßen Schatten:  πρός μαλλον όντα τετραμμένος ορθότερον βλέποι (515d, 3/4), ‚also dem Seienderen zugewendet, dürfte er wohl richtiger blicken‘. Der Übergang von einer Lage in die andere besteht in dem Richtiger- werden des Blickens. An der ορθότης, der Richtigkeit des Blickens, liegt alles. Durch diese Richtigkeit wird das Sehen und Erkennen ein rechtes, so daß es zuletzt geradeaus auf die höchste Idee geht und in dieser ‚Ausrichtung‘ sich festmacht. In diesem Sichrichten gleicht sich das Vernehmen dem an, was gesichtet sein soll. Das ist das ‚Aussehen‘ des Seienden. Zufolge dieser Angleichung des Vernehmens als eines ίδεϊν an die Ιδέα besteht eine όμοίωσις, eine Übereinstimmung des Erkennens mit der Sache selbst. So entspringt aus dem Vorrang der ϊδέα und des ΐδεϊν vor der άλήθεια eine Wandlung des Wesens der Wahrheit. Wahrheit wird zur όρθότης, zur Richtigkeit des Vernehmens und Aussagens. In diesem Wandel des Wesens der Wahrheit vollzieht sich zugleich ein Wechsel des Ortes der Wahrheit. Als Unverborgenheit ist sie noch ein Grundzug des Seienden selbst. Als Richtigkeit des ‚Blickens' aber wird sie zur Auszeichnung des menschlichen Verhaltens zum Seienden.“ (Heidegger 1997: 230f.) Diese Rückgewinnung eines anderen Ortes von Wahrheit, vollzieht oder besser bereitet Heidegger in seinem Denken vor. Damit wird der Richtigkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnisweise keine grundsätzlich Absage erteilt, sie wir nur in ihrer Funktion auf das beschränkt, was sie leisten kann. Erst wenn wir uns diesem anderen Ort der Wahrheit wieder nähern, „ahnen wir etwas vom Wesen der αλήθεια, d.h. vom Ur­sprung dessen, was den innersten Grund der Möglichkeit unse­res Daseins als eines existierenden ausmacht“, wie Heidegger bereits weiter oben geschrieben hat (Heidegger 1988: 126). 

 

Bei Platon gibt es noch diesen unterschiedlichen Bezug zur Wahrheit, indem auf der einen Seite, zwar die Ideen die Richtigkeit der Vorstellungen gewähren, aber auf der anderen Seite die Idee des Guten, die nicht eine Idee unter vielen anderen ist, sondern deutlich mehr meint als eine moralisch-ethische Richtigkeit, nämlich die Zugänglichkeit von Welt insgesamt darstellt und somit das Licht selbst ist, so „daß die höchste Idee am ursprünglichsten und eigentlichsten dessen waltet, was ohnehin schon das Amt der Idee ist: mit-entspringen lassen Unverbor­genheit von Seiendem und, als das Erblickte, das Sein des Sei­enden zu verstehen geben (keines ohne das andere). Die höch­ste Idee ist jenes kaum noch Erblickbare, das überhaupt so et­was wie Sein und Unverborgenheit mit ermöglicht, d.h. Sein und Unverborgenheit als solche zu dem ermächtigt, was sie sind. Die höchste Idee ist also dieses Ermächtigende, die Er­mächtigung für das Sein, daß es sich als solches gibt, und in eins damit die Ermächtigung der Unverborgenheit, daß sie als sol­che geschieht. Sie ist so Vorzeichnung der αϊτία (der ‚Macht‘, ‚Machenschaft‘).“ (Heidegger 1988: 99)  Damit gibt es zwar auf der einen Seite eine Vielzahl an Ideen, die für Platon die Richtigkeit unserer Vorstellungen bestimmen. Auf der anderen Seite hebt Platon die Idee des Guten hervor, die allen anderen zugrunde liegt und erst die „Ermächtigung der Unverborgenheit“ gibt. Erst hierdurch kann es erst das unterschiedlichen Seiende geben. 

 

Diese grundlegendere Form von Wahrheit als Unverborgenheit ist damit etwas anderes als das, was allgemein als Wahrheit verstanden wird. Wahrheit ist damit nicht nur beispielsweise für wahrgehaltene Sätze, die (in welcher Form auch immer) mit der Welt übereinstimmen, sondern die Griechen denken in der αλήθεια noch den vorausliegenden Zug mit, dass die Wahrheit auch erst Unverborgenheit ermöglicht und aufscheinen lässt. αλήθεια ist das Licht, was dann in einem nächsten Schritt einzelne Dinge erkennen lässt, über die sich dann allerdings auch einzelne Wahrheiten aussagen lassen. „Wahrheit als αλήθεια ist demnach nichts, was der Mensch so haben kann oder nicht haben kann in gewissen Sätzen und Formeln, die er lernt und nachspricht und die am Ende sogar mit den Dingen übereinstimmen, sondern etwas, was sein ei­genstes Wesen überhaupt zu dem ermächtigt, was es ist, sofern es zum Seienden als solchen sich verhält und der Mensch in­ mitten des Seienden, selbst ein Seiendes, existiert.“ (Heidegger 1988: 113) Wahrheit als αλήθεια unterscheidet sich von Wahrheit als Richtigkeit und Wissenschaft auch weiterhin dadurch, dass sie eben nicht neutral ist. Objektivität, Validität und Reliabilität sind kein Kategorien, die hier relevant sind, denn αλήθεια ist durch einen jeweiligen Menschen zu realisieren - und dies auf je immer neue und eigene Weise. Sie kann nicht übernommen werden, als fertiges Gedankenkonstrukt oder Wertesystem, sondern muss durch einen existenziellen Sprung verwirklicht werden und verändert so diesen Menschen. αλήθεια ist damit „ein Fragen, das das Dasein, den Menschen, das Seinsverständnis von Grund aus verwandelt.“ (Heidegger 1988: 116) Und genau dies ist der Moment wo der Höhlenbewohner realisiert, dass es nicht nur die Schatten an der Höhlenwand gibt und auch, dass es sogar noch mehr gibt als das Feuer in der Höhle - sondern dass es ein gleißendes Licht gibt, was einen zunächst blind macht und man nur noch tastend vorankommt. Aber man merkt auch die Wärme, die davon ausgeht und man riecht und hört das Leben draußen vor der Höhle, was durch die Sonne ermöglicht wird - was oft so viel schöner ist, als das viele Geschwätz unten in der Höhle. 

 

Die Erfahrung der Wahrheit im Licht der Sonne ist damit eine andere, viel grundsätzlichere Wahrheit, als die sich unten in der Höhle abspielenden Wahrheitsdiskurse. „Sie ist älter auch als das Seinlassen selbst, das entbergend schon verborgen hält und zur Verbergung sich verhält. Was verwahrt das Seinlassen in diesem Bezug zur Verbergung? Nichts Geringeres als die Ver-bergung des Verborgenen im Ganzen, des Seienden als eines solchen, d,h. das Geheimnis. Nicht ein vereinzeltes Geheimnis über dieses und jenes, sondern nur das Eine, daß überhaupt das Geheimnis (die Verbergung des Verborgenen) als ein solches das Da-sein des Menschen durchwaltet. Im entbergenden und zugleich verbergenden Seinlassen des Seienden im Ganzen geschieht es, daß die Verbergung als das erstlich Verborgene erscheint. Das Da-sein verwahrt, sofern es ek-sistiert, die erste und weiteste Un-entborgenheit, die eigentliche Un-wahrheit. Das eigentliche Un-wesen der Wahrheit ist das Geheimnis. Un-wesen bedeutet hier noch nicht abgefallen zum Wesen im Sinne des Algemeinen (κοινον, γένος), seiner possibilitas (Ermöglichung) und ihres Grundes. Un-wesen ist hier das in solchem Sinne vor-wesende Wesen. ‚Unwesen‘ besagt aber zunächst und zumeist die Verunstaltung jenes bereits ab-gefallenen Wesens. Das Un-wesen bleibt allerdings in jeder dieser Bedeutungen je in seiner Weise dem Wesen wesentlich und wird niemals unwesentlich im Sinne des Gleichgültigen.“ (Heidegger 1997: 194) So zeigt auch erst die Sonne ihr Gegenteil: die Dunkelheit und die Unverborgenheit, die die Grundlage ist, von jedem Leben. Leben ist immer aus dieser Dunkelheit ans Licht gerissen, dieser Dunkelheit abgerungen und aus dieser Dunkelheit liebend herausgenommen ins Licht. Diese Lichtung aus der Verborgenheit ist damit das tiefe Geheimnis, was unserem Dasein zugrunde liegt. Dabei kann dieses Geheimnis nicht gelöst werden, aber es kann wahrgenommen werden, in seiner Tiefe stehengelassen werden und in das Dasein auf seine Weise wirken lassen, d.h. es gibt ein tiefes Seinlassen, was sich hier entfalten kann. Die Herausforderung liegt erstmal gar nicht so sehr darin, dass dieses Geheimnis im herkömmlichen Sinne nicht bewusst-rational gelöst werden kann, sondern in seinem Seinlassen ausgehalten werden muss. Das Problem liegt darin, dass von den Höhlenbewohnern das Geheimnis noch nicht einmal im Ansatz wahrgenommen und erfahren wird. Wahrheit wird immer nur als die Richtigkeit einer Aussage oder Meinung verstanden, ohne dabei wahrzunehmen, dass diese nicht nur einer falschen Aussage abgerungen ist, sondern viel wesentlicher abgerungenen ist dem eigentlich Gegenteil bzw. Unwesen der Wahrheit: dem Geheimnis der Verborgenheit… der Dunkelheit, in die Licht gebracht wird… dem Geheimnis aus dem unser Dasein aufsteigt. Damit ist aber das Gegenteil der Wahrheit nicht einfach zu vermeiden, wie etwa die Falschheit, sondern Wahrheit als Entbergung und Lichtung ist immer als Differenz und Unterscheidung zum Geheimnis der Verborgenheit zu denken. Das Geheimnis bleibt, es wird nicht ausgeschlossen, sondern wie in einem Re-Entry von Spencer Brown integriert und wirkt so weiter. Das Geheimnis der Verborgenheit wird damit nie gleichgültig, sondern wirkt stetig, wenn auch meist nur sehr leise, in seinem Seinlassen. 

 

Die Schwierigkeit liegt darin, dass dieses Geheimnis kaum fassbar ist und uns immer wieder entgleitet. Manchmal drängt dieses Geheimnis sich aber dann doch auf, etwa wenn jemand stirbt und man fassungslos davor steht, dass jemand vom Dasein ins Geheimnis zurückkehrt. Oder in tiefer Liebe, die sich nicht an Eigenschaften des anderen erfreut, sondern den Anderen dafür liebt, dass er ist und dass er nur existiert. Oder in den Koans der alten Zen-Meister, die den Schüler unvermittelt ins Geheimnis hineinstoßen. Oder auch in Kunst- oder  Naturerfahrungen, wie der Sonnenaufgang in den Bergen. So erscheinen in der ersten Dämmerung wieder die Berge aus der Dunkelheit der Nacht auf. Ganz wuchtig erst in ihren Spitzen, dann immer mehr mit der ganzen Massigkeit tauchen sie immer mehr vor uns auf (falls man dies nicht als normaler Höhlenbewohner eh verschläft). Der Sonnenaufgang ist ähnlich wie unser Erwachen, wo sich Welt wieder konstituiert nach dem Schlaf und Träumen. Nur anders als unser kurzes Leben lassen die Berge etwas stärker diese Ewigkeit des Geheimnisses erahnen, auch wenn auch sie vergänglich sind. Und die Berge zeigen ein nacktes Dasein, dass nicht verzweckt ist durch eine To-Do-Liste und Kalender für den Tag, sondern einfach nur das Geheimnis seinlassen können. Und der Berg zeigt, wie zerbrechlich Leben ist, indem er den Menschen zwar an seinem Fuß leben lässt, aber immer spürbar ist, dass die Mächte und Gewalten, die hier herrschen nur begrenzt die schützenden Behausungen abhält. Hybris gegenüber dem Berg ist immer schädlich für einen selbst. Aber genau deswegen kann es hier auch eine intensive menschliche Beziehung und ein Wohnen geben (vgl. Heidegger 1983a: passim; Okumura 2018). 

 

Die Gefährlichkeit des Berges zeigt sich aber erst wirklich, da sich hier nicht nur die Entbergung im Sonnenaufgang zeigt, sondern auch jeden Abend die Sonnen wieder untergeht. Die Nacht bricht herein und es wird unheimlich. Zwar ist alles noch genauso da, wie am Tag, aber die Welt als Ganzes entzieht sich. Für Heidegger ist dieses sich entziehen die wesentliche andere Seite der Wahrheit und so wie zum Sonnenaufgang auch der Untergang gehört, muss neben der Lichtung der Welt auch deren Entzug wahrgenommen werden. Wahrheit ist damit ganz wesentlich gedacht und erfahren als Wechselspiel von αλήθεια (Entbergung) und λήθη (Verbergung). „λήθη ist, echt griechisch, kein Erlebnis (das haben die Grie­chen gottseidank nicht gekannt), sondern ein schicksalhaftes Geschehen, das da über die Menschen hereinbricht, - ein Ge­schehen aber, das mit allem Seienden vor sich geht: es gerät in die Verborgenheit, es entzieht sich, das Seiende ist einfach weg.“ (Heidegger 1988: 140) Der Vergleich mit den Bergen passt hier sehr gut, weil der Sonnenuntergang auch ein „schicksalhaftes Geschehen“ ist, was, wenn man sich nicht in seinem „Zuhause“ verbarrikadiert und abgeschirmt hat, sondern ungeschützt am Berg ist, auch nicht unbeteiligt lässt, sondern einen als Ganze Person angeht und die Welt unheimlich werden lässt. Dann ist es eben kein Erlebnis, womit wir uns normalerweise alles Wesentliche verdecken, indem eine sichere Distanz gewahrt wird (so wird gestorben nur im fernen, sterilen Krankenhaus, im Krimi oder in der Zeitung, und auch unser eigener Tod und der unserer Lieben ist ganz weit weg). 

 

Nun ereignet sich Entbergung und Entzug aber nicht wie der Sonnenauf- und -untergang gleichzeitig für alle Menschen, sondern ist jedem individuell gegeben. Meist versuchen die Menschen sich nur im Tag aufzuhalten und man schleppt sich dann übermüdet durchs Leben, wie der Techno-Gänger durch sein ganzes Wochenende ohne Schlaf. Denn der Mensch in der Verborgenheit und im Entzug tappt durch die Nacht und alle Menschen, die sich in der gleichen Welt im Licht des Höhlenfeuers bewegen (um wieder Bezug zum Gleichnis hier zu nehmen) wundern sich, wie man so ungeschickt durch die Welt sich tasten kann. Denn „der von nichts mehr wissende Mensch ist ‚weg‘, ‚ver-rückt‘. Es ist also ganz schief, wenn man λήθη mit Vergessen übersetzt und das Vergessen wie natürlich als ein subjektives, seelisches Ereignis nimmt.“ (Heidegger 1988: 141) Es ist nur in dem Sinne subjektiv, indem es sich für jeden Einzelnen individuell ereignet und als schicksalhaftes Geschehen über einen hereinbricht. Gänzlich falsch ist allerdings darunter einen kultivierten Spleen oder coole Attitüden zu verstehen. Und es geht auch nicht darum, das bestimmte Dinge vergessen wären oder nicht mehr zuhanden sind, wie Heidegger in „Sein und Zeit“ dies mit dem Entzug der Zuhandenheit einführt. Zwar zeigt der kaputte Hammer den ansonsten verborgenen oder als selbstverständlich vorausgesetzen Zusammenhang des Einen-Nagel-in-die-Wand-schlagens erst auf, aber es ist bestenfalls ein Hinweis, dass sich auch Welt als Ganzes entziehen kann und wieder in die Verborgenheit zurückziehen kann. Hier mehr Klarheit zu gewinnen, ist der Schritt, den Heidegger von „Sein und Zeit“ hin ins Ereignis-Denken vollzogen hat (den aber die amerikanischen Heideggerianer wie z.B. Dreyfus, Wrathhall und Withy, bei allen Verdiensten, die sie hier haben, nie wirklich vollzogen haben). 

 

Für Heidegger liegt die wesentliche Wahrheit darin, sich auf das Wechselspiel von Ver- und Entbergung einzulassen. Dies auch unter der Gefahr sich immer wieder auf die Unheimlichkeit der Nacht einzulassen und damit seine sichere Welt, in der man sich bequem eingerichtet hat, zu verlassen und sich daraus fortnehmen zu lassen. Die Wahrheitsuchenden sind damit die  wahrhaft Liebenden, deren Liebe sie aus dem langweiligen Alltag entrückt und denen es egal ist, ob man nun eine eins oder fünf in einer Klassenarbeit geschrieben hat, solange man diese Liebe spürt und dadurch getragen ist. Aber die auch erwachsen werden und sich auf dieses Spiel weiter einlassen, weil sie wissen, dass es auch den Entzug gibt, der umso tiefer ist, desto intensiver geliebt wurde. Die Wahrheitssuchenden sind damit auch die Trauernden, denen diese Welt genommen wurde in einem „schicksalhaften Geschehen“ (was sich durch keine Theodizee auflösen lässt). Die wahrhaft Liebenden sind die, die wie verrückt durch die Nacht irren und sich immer wieder auf den Sonnenaufgang freuen - aber auch um den Sonnenuntergang am Abend wissen und dennoch nie diese Sonnenaufgänge vergessen und hiervon tief geprägt bleiben, die alle geschäftigen Tagesmenschen immer verschlafen: „Ein Liebespaar nimmt Abschied, da es Tag wird.“ (Schneider 1959: 7). Es ist aber eine eigentümliche Verrücktheit, wie man sie bei den alten Zen-Meistern findet und die man auch bei Jesus findet, wie er die Menschen vor den Kopf stößt in ihrer vermeintlich sicheren Welt. Und das Christentum hat über die Jahrhunderte auch immer geahnt, dass Christ-sein auch Verrückt- und Törricht-sein bedeutet, weil man aus dieser unbedingten Liebe Gottes lebt, die man in ihrer Unbedingtheit eben nur als töricht verstehen kann (vgl. etwa Balthasar 1963; 1983). Allerdings wurde dies deutlich weniger häufig und offen gelebt, als dies im Zen passiert ist. Dieses Verrücktsein hat aber so gar nichts gemein damit, dass heute jeder etwas „verrückt“ ist, weil er ein abgedrehtes Hobby oder Gewohnheiten hat und sich dementsprechend in Szene setzt, sondern es geschieht ganz leise, indem der Zen-Meister sich in der Meditation entrücken und sich die Welt entziehen lässt. Dort erkennt er die wesentliche Wahrheit, aber nicht in der Form, dass es um die Richtigkeit von Aussagen geht. Hat man in der Meditation einen wichtigen Einfall, ist dies zwar schön, aber sicher nicht dass Ziel der Meditation oder des Gebetes - denn es geht darum das Licht selbst wahrzunehmen und nicht was man durch dieses Licht erst sehen kann. 

 

Heidegger unterscheidet damit zwischen Wahrheit, die als Richtigkeit/Falschheit gebraucht wird und Wahrheit, die sich in Lichtung/Entzug ereignet: „Der Mensch denkt im Sinne des Wesens der Wahrheit als der Richtigkeit des Vorstellens alles Seienden nach ‚Ideen‘ und schätzt alles Wirkliche nach ‚Werten‘. Nicht welche Ideen und welche Werte gesetzt sind, ist das allein und erstlich Entscheidende, sondern daß überhaupt nach ‚Ideen‘ das Wirkliche ausgelegt, daß überhaupt nach ‚Werten‘ die ‚Welt‘ gewogen wird. Inzwischen ist an das anfängliche Wesen der Wahrheit erinnert worden. Die Unverborgenheit enthüllt sich dieser Erinnerung als der Grundzug des Seienden selbst. Die Erinnerung an das anfängliche Wesen der Wahrheit muß jedoch dieses Wesen anfänglicher denken. Sie kann daher die Unverborgenheit niemals nur im Sinne Platons, d. h. in der Unterjochung unter die ίδέα, übernehmen. […] Zuvor bedarf es der Würdigung des ‚Positiven‘ im ‚privativen‘ Wesen der αλήθεια. Zuvor ist dieses Positive als der Grundzug des Seins selbst zu erfahren. Erst muß die Not einbrechen, in der nicht immer nur das Seiende in seinem Sein, sondern einstmals das Sein selbst (d.h. der Unterschied) fragwürdig wird. Weil damit diese Not bevorsteht, deshalb ruht das anfängliche Wesen der Wahrheit noch in seinem verborgenen Anfang.“  (Heidegger 1997: 237f.) Dieser verborgene, andere Anfang ist das, auf das sich die Pilgerschaft von Heidegger in den Abgrund des Seins aufmacht. 

 

Diese Pilgerschaft hat sich sehr deutlich an Platons Aufgang aus der Höhle hin zum Licht und zur Idee des Guten deutlich gemacht, auch wenn Heidegger hier genau den Punkt in der westlichen Philosophie sieht, wo diese Grunddynamik verlassen wird und man in ein Konzept der Richtigkeit (als einzelne ίδέα und nicht als die grundlegende Lichtung in der der ίδέα des Guten) gerät und damit das ursprüngliche Verständnis für die αλήθεια vergisst. „Das Gute ist die Ermächtigung, die δύναμις, die Ermögli­chung von Sein und Unverborgenheit in ihrem Wesen. Anders gewendet: das, worauf es beim Fragen nach Sein und Unver­borgenheit ankommt, ist die Ermächtigung dieser zu ihrem Wesen. Was diese Ermächtigung sei und wie sie geschieht, das ist bis heute nicht beantwortet; nicht nur nicht beantwortet, sondern nicht einmal mehr im ursprünglichen Platonschen Sinne gefragt.“ (Heidegger 1988: 111) Während Heidegger versucht diesen ursprünglichen Anfang wieder aufzugreifen und sich mit Ausnahme von wenigen Gestalten (etwa  Hölderlin) mit den Vorsokratikern alleine hier sieht, kann etwa die chinesische Geistesgeschichte hier ebenfalls Hinweise geben, weil sie einen anderen Verlauf als der Westen genommen hat. Heidegger ist dem Durchaus aufgeschlossen gegenüber (etwa in seinem „Gespräch mit einem Japaner“  (Heidegger 1985: 79ff.) und auch viele Studierenden insbesondere aus Japan scheinen diese Anschlussfähigkeit zu bestätigen), allerdings ist dies nie wirklich von ihm ausgearbeitet worden. 

 

So erkennt der Sinologe Thomas Cleary (der übrigens nicht beim wissenschaftlichen Feuer in der Höhle geblieben ist, sondern immer wieder den Sprung gewagt hat und hierin dann buchstäblich ein wahrer Übersetzer war) in der Grunddynamik des Höhlengleichnis eine Parallele zum Taoismus und zum Chan-Buddhismus: „As in the expression ‚essence and sense,‘ in this case essence also means the basic nature of consciousness, so it may be called mind or spirit. The special study of the science of essence deals with realization of this basic nature. In terms of Plato's metaphor of the cave, the study of essence is commonly practiced by turning the attention from the shadows on the wall [und dem Feuer] to the source of the light itself. Done not by discursive thought but by a direct inner sense, this is what is known in Ch'an Buddhism as ‚seeing essence' (chien-hsing), and Complete Reality Taoist texts often use the Ch'an expression ‚turning the attention around to look inward‘ to describe a basic practice used in both schools for this purpose.“ (Cleary 2003a: 23) So zeigt sich hier der Grundzug des chinesischen Denkens, wobei unter consciousness nicht das rationale Selbstbewusstsein der westlichen Philosophie verstanden werden darf, sondern schon eher das, was Heidegger als Denken versteht. Der Vorteil auf China zu schauen, besteht nun darin, dass hier eine lange Tradition und breite Erfahrungen vorhanden sind, wie man in dieses ursprüngliche Denken ganz praktisch hineinkommen kann. Während sich die westliche Philosophie und damit auch die Theologie auf einen rationalen Diskurs über die Richtigkeit von Aussagen konzentriert hat, (so haben wir ganze Bibliotheken voll mit Glasperlenspielen zur Trinität, aber kaum etwas zum christlichen Gebet (Ignatius von Loyola als rühmliche Ausnahme)), steht der praktische Weg über Meditation und Handeln im Alltag bei den Chinesen im Mittelpunkt. Dies soll hier genutzt werden, um Jesus Aussage, dass er das Licht der Welt ist, tiefer zu verstehen. 

 

Ein guter erster Zugang zu dieser sehr umfangreichen chinesischen Kultur kann das Buch „The secret of the golden flower“ (太乙金華宗旨) sein, was dem Daoisten Lü Dongbin (吕洞宾, 796-1016, er zählt als legendärer Unsterblicher, deswegen die lange Lebensspanne) zugeschrieben wird, aber nicht nur daoistisches Gedankengut verarbeitet, sondern genauso tief im Chan-Buddhismus wurzelt. Dass dies auch für ein westliches Denken anschlussfähig ist, zeigt die Faszination, die die erste Übersetzung ins Deutsche auf C. G. Jung gehabt hat, der sein Denken darin sehr gut wiedererkannt hat (unabhängig davon, dass dies nicht immer durch eine nicht adäquate Übersetzung verzerrt gewesen ist (vgl. hierfür Cleary 2003b: 322ff.)). Außerdem bestehen Verbindungen des Buches bereits in der Tang-Zeit zu den christlichen Nestorianern, die sich bereits nach dem Konzil von Ephesos eigenständig von der restlichen Kirche gemacht haben. In der Diskussion des Konzils war hier die entscheidende Differenz, dass Jesus Christus eine göttlich und eine menschliche Natur habe, die recht klar voneinander unterschieden werden können, aber durch die Liebe miteinander verbunden sind (inwiefern dies tatsächlich häretisch gewesen ist oder in Chalcedon dann gelöst worden ist, tut hier erstmal nichts zur Sache). 

 

Gerade an diesem Punkt zeigt sich dann auch die Verbindung und Parallele von einem christlichen Verständnis zur Goldenen Blume, da hier zwischen dem ursprünglichen Geist (der göttlichen Natur Jesus) und dem bewusst-konzeptionellen Geist (der menschlichen Natur Jesus) unterschieden wird, mit dem Ziel diese wieder zu vereinen (d.h. in der Form der Liebe). Cleary erläutert dies folgendermaßen: „For practical purposes, a distinction is made in the golden flower teaching between the ‚original spirit‘ and the ‚conscious spirit.‘ The original spirit is the formless essence of awareness; it is unconditioned and transcends culture and history. The conscious spirit is the mind-set of feelings, thoughts, and attitudes, conditioned by personal and cultural history, bound by habit to specific forms. These terms are employed in both Chan and Taoist traditions. Intuition belongs to the original spirit; intellect belongs to the conscious spirit. The essence of Taoism is to refine the conscious spirit to reunite it with the original spirit.“  (Cleary 2003b: 365) Hier wird davon ausgegangen, dass die Menschen sich weitgehend in ihrem konzeptionellen Bewusstsein bewegen, d.h. sie verwenden Konzepte auf die Schatten an der Höhlenwand an, aber genauso, wenn sie das Feuer betrachten und diese Konstrukte in einer Beobachtung zweiter Ordnung durchschauen und relativieren. Beide habe noch nicht den Sprung geschafft in den ursprünglichen Geist. Aber an der Wahrnehmung der Goldenen Blume erkennt man auch, dass die Menschen an diesen konzeptionellen Geist gebunden sind und nur schwer davon loskommen und eigentlich der konzeptionelle Geist die alles dominierende Haltung ist und der ursprüngliche Geist bestenfalls geahnt wird. „The conscious mind is like a violent general of a strong fiefdom controlling things from a distance, until the sword is turned around. Now steadily keep to the chamber of the origin, turning the light around to look back, and this is like having a heroic leader on top with great ministers helping. Once the inner government is orderly, the strong and violent naturally become tame“ (Cleary 2003b: 281), so die sehr poetisch-blumige Sprache, um dieses Verhältnis umzukehren. Und dass diese Umkehr (μετανοια) nicht leicht ist, macht hier dieses martial-militärische Bild noch einmal deutlich und auch wie fest die konzeptionell-menschliche Natur uns im Griff hat und uns in der Höhle gefangen und gebannt hält. Nur mit Mühe bzw. Gewalt (wie Platon sagte) können wir zur göttlichen Natur in uns und zum Licht gelangen. 

 

Im Chan wird dieses Verhältnis oft als die Pervertierung des Verhältnisses von Meister und Diener bzw. von Gastgeber und Gast beschrieben (vgl. Lu 1970: 36f.; Lindj 1993). Dementsprechend schreibt auch Cleary in seinem Kommentar: „Intuition belongs to the original spirit, intellect belongs to the conscious spirit. The essence of Taoism is to refine the conscious spirit to reunite it with the original spirit. In Chan Buddhism, the primal original spirit is also known as the host, while the conditioned conscious spirit is known as the guest, the original spirit is the master, and the conscious spirit is the servant. In these terms, self-delusion occurs when the servant has taken over from the master, self-enlightenment takes place when the master is restored to autonomy in the center.“ (Cleary 2003b: 365, vgl. auch 326)) Im Rahmen des Höhlengleichnisses bedeutet dies, dass die Menschen in der Höhle bleiben und dies als die einzig richtige und alles bestimmende Haltung im Leben betrachten. Der Wettkampf um die besten oder besser gesagt die durchsetzungsfähigsten Konstruktionen werden als das einzig sinnvoll im Leben angesehen. Dabei sind diese zwar wichtig und notwendig, aber sie sind eben eigentlich nur ein Mittel und noch nicht Zweck in sich selbst. Hier hat der Gast die Rolle das Hausherren übernommen. Der Gast ist der gewaltsame General, der nur sein Ego kennt und die Welt danach dirigiert und unterwirft. Der eigentliche Herr im Hause delegiert dagegen die Aufgaben in die Verantwortung von den einzelnen Bediensteten im Hause, die an ihrer jeweiligen Stelle am besten wissen, was angebracht ist oder nicht. Während der Gast-General ein relativ langweiliges Leben schafft, wo alles in seine Vorstellung gezwungen wird, ist die Haltung es eigentlichen Gastgebers, dass er alles sich nach seinem eigenen Charisma entwickeln lässt. Um ein Bild zu verwenden: der Gast-General bestellt sein Feld mit Weizen und verwendet rücksichtslos Glyphosat, um ein Feld nur mit Weizen und ohne Unkraut zu haben. Dies macht auf den ersten Blick Sinn, da man mehr Ertrag dadurch hat, den man größtenteils als Tierfutter dann verwendet, um dann nicht den Weizen, sondern das Fleisch zu essen. Der eigentlich Gastgeber würde dagegen wohl eher Einkorn anbauen, wodurch zwar der Ertrag deutlich sinkt, aber das Feld auch vielen anderen Pflanzen und Tieren Lebensraum bietet. Nur leider kann man diese Tiere nicht essen, sondern sie sind einfach nur da - und das ist gut so! Denn satt wird man auch mit Humus auf einem Einkornbrot, da braucht es kein weißes Hamburgerbrötchen mit Frikadelle. Und das man auch in diesen Dingen dem Gast viel zu lange alle Freiheiten gewährt hat, wird immer deutlicher im Rahmen des Klimawandels. 

 

Der Hausherr verwendet zwar auch Konstruktionen auf die Schatten in der Höhle, aber er lässt sich dabei viel stärker auch auf die Konstruktionen von anderen ein (konstruktivistisch würde man sagen, er lässt sich hierdurch viel leichter irritieren (in einem positiven Sinne)), denn er weiß gleichzeitig um die Quelle aller Konstruktionen, weil er sich schon einmal auf den Weg aus der Höhle gemacht hat. Um dies weiter zu erhellen, soll hier ein Vers von Lü Dongin aus einem anderen Werk von ihm aufgegriffen werden, nämlich aus seiner Hundert Zeichen „Zusammenfassung“ des Daoismus und zur Erläuterung die Kommentare von dem ebenfalls genauso legendären Zhang Sanfeng (ohne verlässliche Geburtsdaten, aber in etwa am Ende der Song-Dynastie im 12. Jhd., 张三丰) und Liu Yiming (1734-1821, 刘一明). So ist der Hausherr dadurch geprägt, dass er nicht nur die „Dinge“, also die Konstruktionen an der Höhlenwand kennt, sondern auch die Quelle. So schreibt Lü: „In activity or quietude, know the source progenitor. / There is no thing; whom else do you seek?“ (Cleary 2003b: 85) 

 

Liu kommentiert diesen Vers folgendermaßen: „The primal true one energy is the generative energy that gives birth to heaven, earth, and human beings. lt contains all patterns, and is present at all times. This is what is called the source progenitor of essence and life. Those who keep aware of this are sages, those who ignore it are ordinary people.“ (Cleary 2003b: 239) Liu sieht in dem source progenitor, also eine Art Ur-Grund, den Ursprung von allem. Hieraus entstehen Himmel und Erde und auch die Welt der Menschen. Dies ist ganz ähnlich gebaut, wie die Sonne bei Platon, das Sein bei Heidegger oder auch der Gott-Vater, als der Schöpfer und Erhalter der Welt (auch wenn natürlich Unterschiede bei der weiteren Ausgestaltung bestehen, diese Grundfunktion ist gleich, die aber etwa ein atheistisch-materialistisches Weltbild ausklammert). Aber auch wenn dies immer präsent bleibt, wird es von den meisten Menschen nicht wahrgenommen, so dass die Menschen nicht aus der Höhle zur Sonne kommen, oder auch im „Man“ des Seienden und der Metaphysik bleiben und nicht einen Sprung in einen anderen Anfang schaffen, um auf das Sein zu hören, oder auch keine μετάνοια von der Welt der Sünde zu Gott schaffen (wobei bisher schon deutlich geworden sein dürfte, dass Sünde hier nicht moralisch gemeint sein dürfte, sondern wie in der Geschichte von der Frau, die wegen Ehebruch angeklagt ist, gerade die Pharisäer weit von der Befreiung entfernt sind und noch tief in der Höhle sitzen (genauso wie heute die dogmatisch-katholische Kirche)). 

 

Und weiter schreibt Liu: „But this energy becomes concealed when it is submerged under aquired conditioning. It may appear every now and then, but people are so preoccupied with getting something, if only respect, and they are so agog with personal whims, that they miss it even when it is right in front of their faces - now it's there, now it's gone.“ (Cleary 2003b: 239) Liu schreibt, dass man diesen Ur-Grund und dieses Licht nicht erfährt, wenn man an den eigenen Konstruktionen hängt oder noch mehr, wenn man mit den Konstruktionen der anderen Gefesselten in der Höhle in einem Wettkampf steht. Aber trotzdem ist dieses ursprüngliche Licht ist immer da, aber wird in der Regel immer übersehen, weil man den eigenen Konstruktionen unablässig hinterherjagt - ohne Ziel, aber mit umso mehr Hetze und Eile. „If you want to look for this energy, first you need to recognize the Tao mind, because the primal energy is stored in the Tao mind. The Tao mind is the substance, the primal energy is the function. They have different names, but their source is the same. The Tao mind is the source progenitor of cultivation of the Tao. The Tao mind is the master, the human mind is the servant. To know the source progenitor is to have the master employ the servant. The servant listens to the directions of the master and is docile without being forcibly overcome. Each action, each rest, is all the operation of the Tao mind. The human mind itself turns into the Tao mind. Inwardly there are no errant thoughts, outwardly no arbitrary concerns. Inside and outside are peaceful and quiet. External energies cannot penetrate. This is the realm of nothing. If you can reach the realm of no-thing, you find it empty and clear. There is nothing but the Tao mind. Whom else do you seek?“ (Cleary 2003b: 239f.) Dabei ist es nicht weit weg, dieses Licht, es wird nur ein Umdrehen (μετάνοια) zum Höhlenausgang benötigt. Das Licht ist immer da und lässt die Dinge sein, nur das die Höhlenmenschen die Dinge und damit die eigenen Konstruktionen als den Hausherrn nehmen, aber das Licht als reinen Diener. Hier sind in der Regel die Verhältnisse immer verkehrt und auf den Kopf gestellt. Dies muss wieder auf die Füße gestellt werden und der Hausherr wieder die Orientierung bieten, die das Ganze sieht und nicht nur einen willkürlichen Ausschnitt von einem kleinen menschlichen Ego. Diese Orientierung hat etwas ruhiges, was nicht gezwungen und gehetzt ist und das Verhältnis darf nicht als Gegeneinander von Herr und Knecht verstanden werden, sondern als harmonisches Zusammenspiel, weil es aus dem gleichen Grund schöpft und lebt. Dieser Gedanke findet sich auch bei im Evangelium nach Johannes: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (Joh 15, 15) Dieses „Tao mind“, wie Liu dies nennt, ist dann eben nicht mehr durch die eigenen Konstruktionen gehetzt, sondern hört ruhig in den Grund hinein und lässt sich vom Licht leiten. Dieses Hören und sich leiten lassen, ist aber eben kein äußerer Zwang, sondern paradoxerweise ein tiefe Freiheit. Letztlich lösen sich die Konstruktionen immer wieder aufs neue in diesem Licht auf, taucht erneut auf und verschwinden wieder im Licht… was gilt es da noch an Konstruktionen festzuhalten, man kann sie nicht besitzen, denn sie kommen und gehen. Was gilt es also noch zu suchen? Sicher keine Dinge und menschlichen Konstrukte… eher die Wärme zu spüren, die einen von der Sonne geschenkt wird. Aber diese Wärme ist eben so gar nicht greifbar, nicht festhaltbar, wir können sie nicht herbeizwingen, sie ist da und dann ist sie ein Geschenk. Oder sie ist nicht da. Dies können wir nicht verfügen. Was wir dagegen selbst tun können ist, dass wir diese Wärme wahrnehmen können und uns dafür öffnen - oder eben uns auch nicht dafür öffnen, weil wir zu gehetzt und verschwitzt durch unsere Jagd durch Konstruktionen sind. 

 

Um dies weiter zu erläutern, soll dem gleichen Vers von Lü Dongbin auch noch mal mit dem Kommentar von Zhang Sanfeng nachgegangen werden. Genauso wie Liu I-Ming gehören beide im Anschluss an Lü der Quanzhen-Schule (全真) des Daoismus an (vgl. Wong 1990; Cleary 2003a; 2003b: 117ff.), die sich vor allem mit Neidan (內丹术) also der inneren Alchemie beschäftigt (vgl. Needham 1983; Wong 2004; 2005). Anders als Liu ist Zhang allerdings eine eher legendäre Gestalt, die historisch nicht richtig fassbar ist und deren Lebensdaten als nicht nur innerlich, sondern, auch weil er ein äußerlich-physisch Unsterblicher ist, sehr stark auseinandergehen und er gilt als der Begründer des Taijiquan (太极拳, auch als Tai Chi bekannt). Trotz dieses legendären Status werden ihm eine Reihe von Texten von sehr hoher Qualität zugeschrieben. 

Liu und Zhang heranzuziehen ist interessant, denn beide betonen unterschiedliche Aspekte in ihrer Praxis. So gehört Liu der Südschule des Quanzhen an, der Nanzong (南宗), in der eher die Kultivierung von Energie und Geist im Mittelpunkt steht. Zhang wird eher der Nordschule zugerechnet, dem Drachen Tor (Longmen, 龙门), die den Fokus eher auf die Verbindung von Lebenskraft und Energie legen. Gleichwohl widersprechen sich die beiden Schulen nicht darin, da beide Bereiche als notwendig angesehen werden und diese in einen Gegensatz zu stellen, ist eher eine Form der Dekadenz dieser Schulen, ähnlich wie wenn man im Chan-Buddhismus die Lindji-Schule (臨濟宗) und die Caodong-Schule (曹洞宗) in einen Widerspruch stellt (vgl. Nan 1995; und im Japanisch die Gegenüberstellung von Rinzai und Soto). Die Einbeziehung der Leiblichkeit in die geistige Entwicklung  ist im Westen bestenfalls sehr rudimentär vorhanden, wenn man dies damit vergleicht, was im Buddhismus und Daoismus hier gemacht wurde (und am wenigsten gehört dazu, dass körperliche Ertüchtigung zu einem guten Geist gehört (klar sind einem vollgefressenen und betrunkenen Bischof oder Philosophieprofessor viele geistigen Bereichen versperrt), sondern eher so etwas wie die Liebesmystik einer Mechthild von Magdeburg (2003). 

 

Auch Zhang kommentiert Lüs Hundert-Zeichen-Gedicht, wo wir den gleichen Vers wie bei Liu aufgreifen: „In activity and quietude, know the source progenitor.“ Dies kommentiert Zhang: „Activity and quietude are yin and yang; the Source Progenitor is the place where the body is born. Practitioners should know that prior to Birth is the Mysterious Female. This is the place where the upper and lower parts of the body, the celestial and earthly parts of being, and all the psychological elements of human nature are all gathered together. This is made of the point of spiritual light that is prior to the separation of Heaven and Earth, and is what is called the Absolute, or the Great Ultimate.“ (Cleary 2003b: 188) Zhang legt hier den Fokus darauf, wie sich im Urgrund die Gegensätze miteinander verbinden. Aktivität und Stille verallgemeinert er direkt auf die Prinzipien Yin und Yang und treibt dies weiter ins Grundsätzliche, indem die Gegensätze nicht nur geistliche Konstrukte sind, sondern  auch Prinzipien des Körperlichen und sogar noch vor der Entstehung des Körperlichen liegen in einem „weiblichen Geheimnis“.  Dabei liegt das Geheimnis in der Verbindung der Gegensätze, die nicht mehr gegeneinander stehen, sondern sich ergänzen und damit aufheben. Das Aufheben hat gerade Hegel gut verstanden, allerdings kann ihm hier nur mit starken Einschränkung, weil es ein vollkommen anderer Kontext ist, zugestimmt werden: „Das Aufheben stell seine wahrhafte gedoppelte Bedeutung dar, welche wir an dem Negativen gesehen haben; es ist ein Negieren und ein Aufbewahren zugleich; das Nichts, als Nichts des Diesen, bewahrt die Unmittelbarkeit auf und ist selbst sinnlich, aber eine allgemeine Unmittelbarkeit.“ (Hegel 1989: 94) An diesem Ort kommen die Gegensätze zusammen, treffen Himmel und Erde aufeinander, negieren sich dadurch selbst, weil sich diese gegensätzlich Sphären auf einmal berühren (was immer auch gefährlich und geheimnisvoll ist). Aber diese Berührung lässt sie nicht Nichts werden, sondern heben sich auf in einem Bewahren (Heidegger würde vielleicht hier vom Wächtertum sprechen). Dies ist das ursprüngliche Licht, zu dem auch Platon uns aufbrechen lässt im Höhlengleichnis und worauf Jesus uns in Joh 9 hinweist: in ihm sind die Gegensätze von Himmel und Erde, d.h. göttlicher und menschlicher Natur aufgehoben. Und christliche Nachfolge bedeutet dann, dieses Aufheben der Gegensätze in sich selbst ebenfalls zu realisieren. 

 

Auch das Christentum hat diese Diskussion am Anfang sehr intensiv geführt und dann im Konzil von Chalcedon (451) begrifflich fixiert. Man hat allerdings den Eindruck, dass durch diese begriffliche Fixierung die ganze paradoxe Dynamik die hierin steckt getötet und stillgestellt worden ist: man betet seither das Glaubensbekenntnis nach, aber man betet nicht mehr eigentlich selbst. Der Daoismus und  auch der Buddhismus haben sich immer diese paradoxe Dynamik erhalten bzw. sie haben diese kultiviert und entfaltet, so dass diese Aufhebung von jedem Einzelnen immer wieder von neuem erkämpft und erlitten werden muss. Und nicht von der Kirchenvätern irgendwann mal für alle anderen erledigt worden ist. Dies ist ein wesentlicher Punkt, warum das Christentum heute so unglaublich langweilig, belanglos und erstarrt ist. Dagegen ist es für Zhang selbstverständlich bei dieser begrifflichen Diskussion nicht stehenzubleiben, sondern weiterzugehen und zu thematisieren wie diese Verbindung der Gegensätze im Licht für jeden einzelnen gelingen kann oder besser wie man sich hier auf den Weg machen kann. Dieser Urgrund an Licht „is the vague area below the heart and above the genitals where thoughts ceaselessly arise. This is the Source Progenitor, or Progenitor of the Clan. In this context, activity and quietude mean tuning and harmonizing of the true breath, or true energy, and securely aligning the truly fundamental in its proper position in your life. It is said that when you breathe out you contact the Root of Heaven and experience a sense of openness, and when you breathe in you contact the Root of Earth and experience a sense of solidity. Breathing out is associated with the fluidity of the dragon, breathing in is associated with the strength of the tiger. As you go on breathing in this frame of mind, with these associations, alternating between movement and stillness, it is important that the focus of your mind does not shift. Let the true breath come and go, a subtle continuum on the brink of existence. Tune the breathing until you get breath without breathing; become one with it, and then the spirit can be solidified and the elixir can be made.“ (Cleary 2003b: 189) Zu diesen Ausführungen kann man nichts weiter schreiben, man muss dies einfach selber machen. Sowenig Sinn es macht den Geschmack des Tees zu beschreiben, den ich gerade trinke (weil Worte hierfür immer unzureichend bleiben und nie den Genuss ersetzen, des realen Trinkens), so wenig Sinn macht es diese praktische Gebrauchsanleitung intellektuell weiter zu unterfüttern: sondern werde ruhig und atme. Sei es atmend auf dem Kissen oder auch ruhig atmend beim Aufstieg aus der Höhle zum Licht. Jeder der dies mit ganzen Herzen in seinem Leben macht, weiß wovon Zhang spricht, alle anderen haben noch nicht einmal eine blasse Ahnung davon - deswegen reiche ich nun die chawan (茶碗) einfach an den nächsten weiter (vgl. Ehmcke 1991). 

 

Zhang macht hier deutlich, dass es um so viel mehr, als was mit Worte beschreibbar wäre, geht. Auch Platon gebraucht für den Ausgang der Höhle nur sehr wenige Worte in seinem längsten Dialog der Πολιτεια und noch mehr im Johannesevangelium, wo das Wort vom „Licht der Welt“ fast erratisch und verloren steht. Es wird deswegen meist vorschnell überlesen, weil es sich dem kognitiv-rationalen Verstand entzieht und man hier nur anknüpfen kann, wenn man sich zumindest ein wenig auf den Weg gemacht hat und auch nur eine sehr vage Ahnung vom Licht hat, eher eine leise, aber beständige Sehnsucht, eine Art Liebeskummer. Aber hier gibt es nichts mehr zu greifen, denn jedes Wort, sogar jedes Ding zerfällt im gleißenden Licht der Sonne. Genau hier setzt dann auch Heidegger mit der Herausarbeitung der Grundfrage der abendländischen Philosophie: hier tritt das Seiende zurück und man wendet sich dem Sein zu. Lü Dongbin schreibt im nächsten Vers: „‚There is no thing; whom else do you seek?‘ Und Zhang kommentiert dies, „if you can nurture energy, forget words, and conquer body and mind, spirit returns to the lair of energy, the attention focuses on the center of the Compass, merged with unified energy, like a hen siting on her eggs, like a dragon nurturing a pearl. Keep your mind on this all the time, without a moment's distraction, and after a long time, when the work becomes deep, there naturally appears a tiny pearl that shines like the sun, silently turning into the light of awareness of the original spirit, beyond conceptual measurement.“ (Cleary 2003b: 189) 

————————————————————————— 

 

Vor diesem Verständnis des Lichtes als Aufgang und Befreiung aus der Höhle, d.h. den scheinbaren weltlichen Verpflichtungen, soll nun noch durchgeschaut werden, was die Exegese zu Joh 8,12 beizutragen hat. Dieses „Glanzlicht“ unter den Erzählungen von Jesus (Söding 2011: 391) greift zum Ratzinger in seinen Jesus-Büchern kein einziges Mal auf, was durchaus dafür spricht, dass er hiermit nichts anfangen kann, weil er noch ganz tief in der Höhle von dogmatisch-begrifflichen Verstrickungen sitzt. Schnackenburg erkennt hierin zunächst eine Anspielungen an das jüdische Laubhüttenfest, wo allerdings Jesus mit seinem Wort vom Licht der Welt den jüdische Horizont überschreitet (Schnackenburg 1971: 240). Aber das Jesus mit diesem starken Bild vom Licht der Welt nur die jüdische Tradition für alle Menschen öffnen möchte, erscheint doch recht dünn. Aber Schnackenburg begreift dies weiter als Aufforderung in die Nachfolge, d.h. dem Licht zu folgen, um die Finsternis des Todes zu überwinden, um so ins ewige Leben befreit zu werden. Es bleibt aber unklar, wie dies gemeint ist, d.h. ist das ewige Leben etwas was nach meinem physischen Tod folgt und traditionell im Paradies stattfindet oder ereignet sich dieses ewige Leben im Hier und Jetzt, indem es von den egobezogenen Konstruktionen in der Höhle befreit? Aber eigentlich hält Schnackenburg diese Aussage nicht wirklich für erläuterungsbedürftig, da „dieser Offenbarerspruch seine bildstarke und unmittelbar verständliche Aussagekraft“ aus sich selber hat (Schnackenburg 1971: 243). „Das Wort Jesu ist Anruf für jeden Menschen, den Weg aus menschlicher Existenznot in der Nachfolge Jesu zu finden. Es ist aber nicht der zeitlose Ruf zur Selbstbesinnung auf das eigentliche und erfüllte Menschsein wie in der Gnosis, sondern Ruf und Verheißung des geschichtlich gekommenen Erlösers, der als der Erhöhte die Macht hat, die Seinigen dorthin zu führen, wo er selbst ist.“ (Schnackenburg 1971: 243) Leider bleibt hier auch offen, inwiefern Aktivität (Selbstbesinnung) und Passivität (Herausgeführt werden) zusammenspielen und wohin geführt wird. Die wesentlichen im Exkurs diskutierten Fragen werden hier nicht aufgegriffen. Adrienne von Speyr dagegen sieht im Licht vor allem die Befreiung aus der Sünde (von Speyr 1949: 178ff.) und hat zumindest erkannt, dass es sich hier um einen zentralen Begriff handelt, den Jesus einführt, so dass auch von Speyr ihren eigenen zentralen Begriff der Sünde dort hineinlegt. 

 

Auch Luther behandelt dieses so starke Bild erstaunlicherweise nur einmal in seinen Predigten: „Die erste Lehre oder das Licht ist der Mond und lehrt die Früchte eines guten Baums, die wir tun sollen. Das andere Licht ist die Sonne; sie lehrt vom neuen Menschen, von einem anderen Baum, daß man von Christus das Evangelium empfange. Hier hören wir, von Wannen und wie der Mensch gut wird. Das geschieht durch den Glauben. Also ist das Evangelium eine Predigt nicht von unseren Werken, sondern von Gottes Gnaden und Gaben,  was Gott durch Christus uns Gutes tut und schenkt. Die Zehn Gebote sagen, was wir Gott tun sollen. Nun scheint der Mond wohl des Nachts, aber er macht darum keinen Tag. Es bleibt Nacht. Aber Christus ist die wahrhaftige Sonne und lehrt uns, wie wir zur Seligkeit kommen sollen und von Sünde und Tod erlöst werden. Darum sagt er auch: Ich bin das Licht, dass in die ganze Welt leuchtet.“ (Luther 1977: 263ff.) Luther trifft hier schon einen ganz wesentlichen Aspekt, indem es nicht darum geht, bestimmte Dinge zu tun und bestimmte Lehrsätze für wahr zu halten, denn dies befreit noch nicht aus der Höhle, man bleibt so weiterhin in der Nacht. Sondern es geht um eine Umwandlung in einen neuen Menschen, der zur Sonne gelangt, indem durch Gnade die Sünde und der Tod überwunden werden. Einen praktischen Weg zeigt Luther allerdings kaum auf, es geht ganz evangelisch darum seinen Glauben zu stärken und nicht darum bestimmte Sachen zu tun, um dann schließlich allein aus Gnade befreit zu werden. Luther hat zu seiner Zeit hier eine ganz wesentliche Kritikpunkt an seiner Zeit getroffen. Aber reicht dies heute immer noch aus? Können wir erwarten, dass wenn wir in der Höhle ganz fest an die Sonne glauben und das alle Deutungen der Schatten nur kontingente Konstruktionen sind, allein dadurch zur Sonne gelangen? Luther zeigt hier einen ersten, notwendigen Schritt auf, nämlich, dass man sich nicht mehr so von den Konstruktionen bannen lassen darf (und hierin ist Luther tatsächlich aktueller denn je - und dies nicht nur bezogen auf den Katholizismus). Aber man kann nicht auf die Gnade hier passiv warten, sondern muss aufbrechen und dafür benötigt es meist sogar noch Gewalt (βίας). 

 

Und Klaus Berger schreibt zu diesem Vers: "Er ist das Licht für die Welt. Er ist wie die Sonne; er garantiert jede Erkenntnis, die wichtig ist. Wo er ist, wo man auf ihn hört, dort bestehen keine Unklarheit, keine Finsternis. Finsternis aber sind das Böse, die Verstrickung, das Lebensfeindliche, die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit. - Das hört sich alles ganz gut an.“ (Berger 2011: 362) Man könnte auch sagen, hört sich alles ganz nett an. Aber Jesus sagt nie irgendetwas, was lauwarm „ganz nett“ ist. Und es beschleicht die Ahnung, dass hier der wesentliche Punkt total verfehlt wird, wenn man das Licht dahin versteht, dass man es als die Möglichkeit der „Richtigkeit“ von Wahrheitsaussagen und moralischen Verhalten versteht. Dies ist die Irrung der nahezu gesamten abendländischen Philosophie, die Heidegger oben im Höhlengleichnis aufgezeigt hat, dass es hier nicht um Richtigkeit von Aussagen über Seiendes geht, sondern um die Wahrheit als Unverborgenheit in das Offene hinein (αλήθεια). 

 

Die Exegese verbindet mit dem Wort vom „Licht der Welt“ schon sehr wesentliche Punkt, so dass es um die Befreiung von Sünde und Tod geht, um durch Gnade, zum ewigen Leben zu gelangen. Aber im Ganzen bleibt sie doch hier recht zurückhaltend. Und vor allem wird überhaupt nicht die Aussage aufgegriffen, worauf das „Licht der Welt“ die Antwort ist. Denn im direkten Vers vorher sagt Jesus zu der Frau, deren Leben er gerade gerettet hat: Ich „schicke dich aus, von nun an nicht mehr zu sündigen.“ (Joh 8,11) Haben die Exeget:innen ihr nun erklärt, wie sie dies schafft? Es bleibt eine Diskussion in der Höhle und damit in der guten Gesellschaft der Rechtgläubigen Pharisäer, wo Jesus sicher sein konnte, dass von ihnen niemand befreit und ohne Sünde ist. 

 

Dabei wird dies in dem weiteren Absatz von Jesus selbst erläutert, aber dies wird leider viel zu wenig im Zusammenhang mit dem Wort vom Licht der Welt gelesen. „Die Frage, die an Jesus gerichtet wird, lautet, ob ein Mensch Gottes eingeborener Sohn sein kann. Die Antwort, die Jesus gibt, dass er nicht ein Mensch ist, der sich anmaßt, Gott zu sein, sonder Gottes Wort, das Mensch geworden ist. […] Sie ist eines der ‚Ich-bin-Worte‘, die für das Johannesevangelium typisch sind (Joh 8,12): ‚Ich bin das Licht der Welt. / Wer mir folgt, wandelt nicht in Finsternis, / sondern wird das Licht des Lebens haben.’ Wie dieser Weg beginnen kann, konkretisiert Jesus im Blick auf seine Ankläger: dass sie nicht widerrechtlich gegen ihn vorgehen, sonder Recht und Gerechtigkeit wahren. Dies geschieht, indem nicht - wie nach den Synoptikern - mit falschen Zeugen operiert wird, sondern indem glaubwürdige Zeugen, die für Jesus sprechen, gehört werden (Joh 8,17). Davon, dass im Grunde Jesus nur für sich selbst sprechen und dass Gott das einzig wahre Zeugnis für Jesus ablegen kann, dürfen sie sich nicht abschrecken lassen, weil sie der Fairness halber einkalkulieren müssten, dass richtig sein könnte, was Jesus über sich und über Gott sagt. Deshalb fordert Jesus seine Gegner nicht nur zu einem unparteiischen Urteil auf, sondern dazu, ihm genau zuzuhören und zuzuschauen, weil an seinen Worten und Taten abgelesen werden kann, wofür er eintritt. (Söding 2011: 36) Somit geht es nicht um menschliche Anmaßung, dass Jesus behauptet Gott zu sein, sondern darum wie sich Gott in einem Menschen ereignet. Hierbei kann man zwei Pole sehen, während der anmaßende Mensch sich größer darstellt als er ist, sein Ego in den Mittelpunkt stellt und diesem möglichst großartige Attribute anhängt, die es gar nicht hat oder die besonders betont werden, tritt der Mensch Jesus in seinem Ego zurück und ist als Christus nur noch sich ereignender Vater. Dabei ist das „Ich-bin-Wort“ besonders bezeichnend, weil es zum einen Bezug zu Gottes Selbstaussage am Dornbusch verweist (Ex 3,1ff.). Und zum anderen darauf, dass es eigentlich nur um das Sein geht, denn hier steht eigentlich nur ein „Ich bin“, wo das was er ist, eigentlich recht egal ist, eher einen didaktischen Zweck hat und sicher nicht aus Jesus selbst kommt, sondern eher in ihn vom Vater hineingelegt wird. Wogegen der anmaßende Mensch nur noch seine Attribute ist, die er oft noch nicht mal hat, sondern sich nur anmaßt. Damit ist dieser Mensch, der meint alles zu haben, letztlich auf eine sehr flache Weise leer, denn er hat nur Seiendes, aber kein Sein. Jesus maßt sich nichts Seiendes an, sondern ist als „Ich bin“ nur noch Sein - und gerade in dieser Leere hat er das Leben in Fülle (Joh 10,10). 

 

Aber wie kommt man da hin, dass man nicht mehr Jesus von Nazareth sieht, der sich in ihren Augen anmaßt Gott zu sein, sondern Jesus den Christus, der ganz zurücktritt und Gott in sich wirken lässt und so den Gott Jesus Christi sich ereignen lässt (in der Formulierung von Kasper 1982). Söding fragt genau danach, wie man diesen Weg beginnen kann, in Jesus den legitimen Christus zu sehen. Söding sieht dies darin, dass seine Ankläger keine vorgefertigten Urteile über ihn sprechen, sondern Recht und Gerechtigkeit walten lassen. Damit dürfen keine falschen Zeugen herangezogen werden, auch wenn als einziger wahrer Zeuge dann nur noch Gott übrig bleibt, weil nur Gott Jesus wirklich kennt. Sie dürfen, nach Söding, dieses Zeugnis dann nicht verwerfen, weil es wahr sein könnte und dies an seinen Worten und Taten abgelesen werden kann… Podolski wahrer Fußball-Gott! Und dann doch wieder nicht, weil Abstieg in die zweite Liga. Und ist Jesus Gott bei der Brotvermehrung, aber nicht am Kreuz, weil er keine Engel zur Hilfe anruft? Wirklich glaubhaft ist die Argumentation von Söding nicht, zumal ich heute noch nicht mal unabhängig überprüfen kann, ob die Brotvermehrung stattgefunden hat. Allerdings haben wir Worte im Evangelium, die von einer unvergleichlichen Tiefe sind! Und dies auch heute noch, wenn man zu hören weiß. Aber sind die Worte in Joh 8,13ff. das, was Söding da beschreibt? 

8, 13-20

Da sprachen zu ihm die Pharisäer: Du zeugst für dich selbst! Dein eigenes Zeugnis bekundet aber keine Wahrheit. 14 Jesus erwidert und sprach zu ihnen: Auch wenn ich mich selbst bezeuge, ist mein Zeugnis wahr, denn ich weiß woher ich komme und wohin ich gehe. Ihr aber wißt nicht woher ich komme und wohin ich gehe. 15 Ihr urteilt nur auf menschliche (leibliche) Art, ich selber urteile dagegen gar nicht. 16 Deswegen ist ein Urteil von mir, ein wahres Urteil, weil ich nicht allein bin, sondern mit dem Vater bin, der mich geschickt hat. 17 Und in eurem Gesetz steht auch geschrieben, dass das Zeugnis von zwei Menschen die Wahrheit bekundet. 18  Ich bin das Zeugnis für mich selbst, weil ich mit dem Vater bezeuge, der mich geschickt hat. 19 Darauf sagten sie: Wo ist dein Vater? Jesus antwortet: Weder kennt ihr mich, noch meinen Vater. Würdet ihr mich kennen, würdet ihr auch den Vater erkennen. 20 Diese Worte redete er am Opferstock und lehrte damit im Heiligtum. Aber Niemand ergriff ihn, denn seine Stunde war noch nicht angebrochen.

———————-


Jesus argumentiert gegen die Pharisäer, dass er weiß woher er kommt und wohin er geht. Dies können die Juden weder über Jesus sagen noch über sich selbst. Sie sind aber auch gar nicht in der Lage, dies zu beurteilen und werden auch nicht dadurch in diese Lage versetzt, wenn sie beobachten was Jesus tut. „Ihr urteilt nur auf menschliche (leibliche) Art, ich selber urteile dagegen gar nicht“ (Joh, 8,15) Die Juden werden Jesus als Christus nicht zu sehen bekommen, solange sie auf menschlicher Art urteilen. Der zweiten Teil des Verses ist hier anders übersetzt, als dies in der Regel gemacht wird. So übersetzt Schnackenburg: „ich urteile über niemanden“ und erläutert dies dementsprechend, „Jesus richtet niemand, er verzichtet darauf, obwohl er Grund dazu hätte (vgl. 8,26) und überläßt das Gericht Gott (8,50).“ (Schnackenburg 1971: 245). Aber ob Jesus jemand nun verurteilt oder nicht, ist etwas vollkommen anderes als im ersten Teil des Verses, wo es um die Art des Urteils geht. Wenn man die Art des Urteils gegenüberstellt, kann man dies auch anders übersetzen, nämlich dass Jesus grundsätzlich nicht urteilt. So hat Fridolin Stier hierfür deutlich mehr Gefühl wenn er übersetzt: „ich richte nicht - keinen“. Stier hat diesen Aspekt des jemanden verurteilen nur im Nachschub. Aber es geht hier gar nicht um Milde und Gnade gegenüber Personen, die es eigentlich verdient hätte, abgeurteilt zu werden. Auch hier geht es nicht um Moral, sondern ums Sein. So seltsam dies hier erstmal klingen mag, und so stiefmütterlich dies in der christlichen Theologie behandelt wurde, so vertraut ist dies aber in anderen Kontexte. So kann man im Taoismus genau dies als höchstes Ziel wiederfinden. Auch hier hinterlässt man das körperliche Urteilen (wie bei den Pharisäern) hin zu einer höheren Stufe außerhalb des eigenen leiblichen Körpers. Dies läuft dann nicht auf eine billige Gnosis hinaus, sondern kann von der Komplexität sicher mit der christlichen Theologie mithalten und kann mit diesem Argument nicht beiseite gewischt werden (eher hat die Theologie sich Potential verschenkt, indem sie die Gnosis rundweg abgelehnt hat und diese nicht aufgegriffen und weiterentwickelt hat). So schreibt z.B. Pregadio, ein zeitgenössischer Forscher zum Taoismus, in der Einleitung zum Wuzhen pian (悟真篇), einem der wichtigsten Werke zur inneren Alchemie des Daoismus (Neidan) aus dem 10 Jhd.: „At the end of the process, the child is described as exiting the individual from the top of his head. Neidan texts refer to this event as the birth of a shen wai zhi shen, an expression that can be understood as ‚a body outside one’s body,‘ or as ‚a self outside one’s self.‘“ (Pregadio 2009; vgl. Cleary 2003b) Dem Hinweis soll an dieser Stelle zunächst nicht weiter nachgegangen werden, aber er deutet die Richtung an, in der auch das Weitere zielt.


Jesus sagt, dass er selber gar nicht urteilt, was er bereits schon unter Joh 3,17 gesagt hat: er ist nicht geschickt worden, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten. Aber wie rettet er sie denn nun konkret? Und warum sagt er hier im Kapitel direkt im nächsten Vers: „Deswegen ist ein Urteil von mir, ein wahres Urteil“ (Joh 8, 16)? Also urteilt er ja doch und auch der „Ehebrecherin“ hat er nicht einfach gesagt, mach wie es dir gefällt, sondern auch sie aufgefordert, ihr Leben zu ändern, d.h. er hat ein Urteil gehabt. Und was macht Jesus Urteil denn nun genau zu einem „wahren“ Urteil? Zunächst einmal muss hier geklärt werden, was denn wahr in diesem Zusammenhang bedeutet. Denn Wahrheit spielt im Johannesevangelium eine bedeutende Rolle, bei den Synoptikern dagegen kaum (vgl. Schnackenburg 1971: 266). Aber das Johannesevangelium will keine philosophische Abhandlung sein, so dass hier Wahrheit als Richtigkeit von Aussagen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Wahrheit ist dagegen eher das Öffnen auf die göttliche Wirklichkeit hin (wie Bultmann dies versteht), die sonst von der weltlichen Wirklichkeit (wozu auch richtige Urteile gehören), verdeckt wird. „Die göttliche Wahrheit ist in Jesus präsent; darum ist das von Jesus gebrachte Wort Gottes ‚Wahrheit‘ (17, 17b) in einem wirklichkeitsgefüllten Sinn. Jesu Worte enthüllen nicht Geheimnisse apokalyptischer Art (αποκαλύπτειν als Offenbarungsterminus fehlt bei Joh) und lehren keine inhaltlichen ‚Wahrheiten‘ (der Plural kommt nicht vor), sondern sind als Worte des göttlichen Gesandten und Offenbarers ‚Geist und Leben‘ (6, 63. 68). Die diese Wahrheit in sich aufnehmenden Menschen erhalten dadurch nicht eine rationale Belehrung oder Aufklärung, sondern werden in der Wahrheit ‚geheiligt‘ (17, 17 a. 19), mit dem Leben Gottes erfüllt. Die Wahrheit wird eine Wirklichkeit und Kraft in ihnen (vgl. 1 Joh 1, 8; 2, 4), die sie von ihrer Unfreiheit erlöst und zur wahren Freiheit führt (8, 32-36).“ (Schnackenburg 1971: 270) Jesus will gar keine proposotionalen Aussagen vermitteln - und dies weder in einem philosophischen Wissen über die Welt noch über göttliche Wahrheiten, sondern er ist geschickt, um Zugang zu einer ganz anderen Wahrheit anzustoßen, die nicht belehrt und urteilt, sondern befreit und rettet. Aber diese Rettung und Freiheit ist radikal paradox: denn der Mensch ist nicht dadurch frei, dass er nichts und niemanden mehr Rechenschaft pflichtig ist und alles was sich dieses Ego ausdenkt als Entfaltung seiner Persönlichkeit gerechtfertigt ist. Nein, Freiheit besteht darin, sich eben nichts mehr als Ego ausdenken zu müssen, sich nicht mehr profilieren und abgrenzen zu müssen in der Welt und frei von allen Dingen dieser Welt zu sein. Aber nur um sich dann, mit allem was man hat, an Gott zu binden. Und diese Bindung ist die wahre Freiheit.


Aber wie binde ich mich an Gott? Indem ich dem Katholizismus befolge und alle Äußerungen aus Rom  umsetze und mich an Kardinal Müller in allen restlichen Dingen halte? Und ist dies dann Befreiung? Der Herausgeber des Katholizismus oder Müller sehen nicht so befreit aus, bestenfalls frei von Selbstzweifel. Aber es ist vor allem ein unerträgliches Ausbuchstabieren von göttlichen Wahrheiten und damit genau das, was hier nicht mit Wahrheit gemeint ist. Und Jesus zeigt dies auch, indem er selber keine proposotionalen Abhandlungen geschrieben hat, sondern seine Beziehung in Gott lebt und vorlebt. Das würden Ratzinger und Müller vermutlich auch von sich selbst sagen und ich würde ihnen dies sogar abnehmen, dass sie dies von sich selber glauben (genauso wie die Pharisäer dies auch von sich glauben). Aber die Frage ist wie? Ist dies oft nicht wieder so wie bei den Pharisäern, die eine lebendige Beziehung zu Gott etwa bei Moses oder den Propheten kodifiziert haben? Und gerade bei denen, die sich besonders gläubig wähnen und deswegen konservativ sind, dominiert da nicht viel zu häufig das Wissen um die Schätze der Tradition anstatt einer individuellen und jetzt gelebten Glaubensbeziehung, die eben nicht so grade ist wie ein Ideal, sondern klein, gebrochen, schräg und dumm, aber dafür authentisch? Es erscheint deswegen absurd, dass man eine „Aggiornamento“ institutionell einfordern muss, sondern dies sollte die Basis sein - und zwar immer und immer wieder. (Aber auch heute wäre dies nötig, wenn man als Laie die Dokumente des 2. Vaticanum mit dem heutigen Synodalen Weg vergleicht, so möchte man paradoxer Weise lieber in diesem Geist der frühen 1960er Jahre leben, weil dann auf einmal wirklich die Beziehung zu Gott im Heute gelebt wurde).


Jesus begründet seine Haltung und seine Überlegenheit gegenüber den Pharisäern dadurch, dass er vom Vater geschickt ist und weiß, dass er vom Vater kommt. Aber dies ist eine ganz andere Gottesbeziehung als die der Pharisäer, denn die Pharisäer sind Schriftgelehrte. Jesus ist zwar noch viel ausgeprägter ein Schriftgelehrter und zwar schon als 12jähriger (Lk 2,41ff.), dies ist aber nicht seine eigentliche Quelle. Die Schriften sind ein Mittel zu einem Zweck, so wie auch der Buddha seine Reden und alle Schriften nur als Floß verstanden hat, die helfen über den Fluß zu kommen - aber wenn man auf der anderen Seite angekommen ist, sollte man das Floß am Ufer liegen lassen und nicht weiter an Land mit sich rumschleppen. Dieses Gleichnis aus dem Majjhima Nikaya 22 stellt einen guten Schlüssel dafür da, wo sich die Pharisäer von damals und heute von Jesus unterscheiden: „‚Ihr Bhikkhus, ich werde euch zeigen, wie das Dhamma einen Floß ähnlich ist, indem es zur Überfahrt da ist, nicht zum Festhalten. Hört zu und verfolgt aufmerksam, was ich sagen werde.’ ‚Ja, ehrwürdiger Herr‘, erwiderten die Bhikkhus. Der Erhabene sagte dieses: ‚Ihr Bhikkhus, angenommen ein Mann sähe im Verlauf einer Reise eine große Wasserfläche, deren hiesiges Ufer gefährlich und voller furchterregender Dinge war und deren jenseitiges Ufer sicher und frei von furchterregenden Dingen war, aber es gab keine Fähre oder Brücke, um zum anderen Ufer zu gelangen. Dann dachte er: ,Da ist diese große Wasserfläche, deren hiesiges Ufer gefährlich und voller furchterregender Dinge ist und deren jenseitiges Ufer sicher und frei von furchterregenden Dingen ist, aber es gibt keine Fähre oder Brücke, um zum anderen Ufer zu gelangen. Angenommen, ich sammle Gras, Zweige, Äste und Blätter und binde sie zu einem Floß zusammen, und mit Hilfe des Floßes, und indem ich mich mit Händen und Füßen abmühe, gelange ich sicher ans andere Ufer: Und der Mann sammelte Gras, Zweige, Äste und Blätter und band sie zu einem Floß zusammen, und mit Hilfe des Floßes, und indem er sich mit Händen und Füßen abmühte, gelangte er sicher ans andere Ufer. Dann, nachdem er übergesetzt hatte und auf der anderen Seite angelangt war, dachte er möglicherweise: Dieses Floß war mir sehr nützlich, da ich mit seiner Hilfe, und indem ich mich mit Händen und Füßen abmühte, sicher ans andere Ufer gelangte. Angenommen, ich würde es mir auf den Kopf hieven oder auf die Schulter laden und dann gehen, wohin ich wollte.’ Nun, ihr Bhikkhus, was meint ihr? Würde jener Mann bei solcher Vorgehensweise das tun, was er mit jenem Floß tun sollte?’ ‚Nein, ehrwürdiger Herr.‘ ‚Mit welcher Vorgehensweise würde jener Mann das tun, was er mit jenem Floß tun sollte? Ihr Bhikkhus, nachdem jener Mann übergesetzt hatte und auf der anderen Seite angelangt war, dachte er möglicherweise: ‚Dieses Floß war mir sehr nützlich, da ich mit seiner Hilfe, und indem ich mich mit Händen und Füßen abmühte, sicher ans andere Ufer gelangte. Angenommen, ich würde es ans trockene Land ziehen oder es auf dem Wasser treiben lassen und dann gehen, wohin ich wollte.’ Nun, ihr Bhikkhus, mit solcher Vorgehensweise würde jener Mann das tun, was er mit jenem Floß tun sollte. Also, ihr Bhikkhus, habe ich euch gezeigt, wie das Dhamma einem Floß ähnlich ist, indem es der Überfahrt dient, nicht dem Festhalten.’ ‚Ihr Bhikkhus, wenn ihr das Gleichnis vom Floß versteht, solltet ihr sogar gute Zustände aufgeben, um wieviel mehr schlechte Zustände.‘“ (Zumwinkel 2001: 276f.) Der Mann in dem Gleichnis hat dem Floß viel zu verdanken, weil er anders gar nicht von dem bedrohlichen auf das friedliche Ufer übersetzen hätte können. Und es hat ihn auch viel Mühe gekostet, so dass er sich mit Händen und Füßen abmühen musste überzusetzen. Aber sollte er deshalb sich das Floß auf den Rücken schnallen und damit am anderen Ufer umherlaufen? Er würde darunter zerbrechen auf Dauer und vor allem er könnte auf gar keinen Fall mittanzen am anderen Ufer. Man hat den Eindruck, dass die Pharisäer aber genau das gemacht haben und auch das der Katholizismus mit seiner Tradition, an der festgehalten werden muss, genau dies macht - und wenn man sich die bildlich vorstellt sieht es lächerlich und traurig zu gleich aus… und erinnert genau darin der Kirche von heute. Jesus sagt jetzt nicht, dass die Schriften alle unnütz sind, nein, denn nur so kommst du überhaupt ans andere Ufer. Aber irgendwann muss du vom Floß abspringen, um frei am anderen Ufer zu sein. 


Diese Freiheit besteht dann nicht darin, dass man durch Gewohnheit, Erziehung oder Zucht, dem Moralkatalog oder dem Denzinger folgt, sondern indem man sich für eine Beziehung zum Vater öffnet - und genau dies ist es, was Jesus vorlebt und was ihm auch die Macht gibt, die Schriften der Juden zu lesen und auszudeuten. Dies ist aber nicht so, dass der Sohn die Venia Legendi vom Vater oder wem auch immer erhalten hat, sondern stetig im Vater ist. Es gibt keinen Sohn für sich: „Man kann nur beides zusammen begreifen, den Vater und den Sohn.“ (Berger 2011: 362) Und genau deswegen urteilt Jesus selbst auch gar nicht (Joh 8, 15), sondern urteilt nur in der Beziehung mit dem Vater. Jesus bleibt in dieser Beziehung und erneuert diese immer wieder aufs neue, sucht diese immer wieder neu zu stärken, indem er sich im Gebet zurückzieht. Jesus wird von den Pharisäern (und nicht nur von ihnen) falsch verstanden, wenn man ihn nur als Prof. Dr. Jesus von Nazareth sieht, sondern er ist nur zu erkennen, wenn dieser Jesus von Nazareth gestorben ist und dies nicht erst am Kreuz (sondern dort wird es nur in letzter Konsequenz sichtbar). Jesus wird der Christus nur weil er sich immer wieder aufgibt in diese Beziehung zum Vater hinein. So schreibt Adrienne von Speyr hierzu: „Würden sie den Sohn kennen, so würden sie vielleicht auch den Vater kennen. Denn der Sohn wäre ihnen unvorstellbar ohne den Vater, der in ihm wohnt. Hätten sie sich dem Sohn geöffnet, sich liebend vertieft in dieses Wesen, das vor ihnen steht, dann hätten sie gesehen, daß es als ein einzelnes Wesen gar nicht bestehen könnte, daß er dieses Eine nur darum sein kann, weil ein Zweites in ihm ist. Die Einheit in ihm: Gottessohn und Menschensohn zugleich zu sein, das zu tun, was vor ihm der Vater tut, das auszusprechen, was in ihm der Vater ausspricht, die zu lieben, die ihm der Vater zu lieben aufgetragen hat, die aber lieben zu dürfen er selber sich sehnt, auch wenn der Weg dieser Liebe alle Verachtung, Verschmähung, Passion und Kreuz und Grab in sich schließen sollte: diese Einheit in ihm aus Zweien ist sein innerstes Wesen und verläßt ihn auch in der letzten Verlassenheit keinen Augenblick. Denn wenn Vater und Sohn im Himmel eine Einheit waren, die der Sohn den Menschen zwar immer wieder zu erklären sucht, die ihnen aber nie durchschaubar werden kann, so sind beide notwendig auch auf dem irdischen Weg des Sohnes eine Einheit, die er bezeugen und zeigen kann, ohne sie im geringsten für eine Erklärung auseinandernehmen zu können. Wurzel und Frucht dieser Einheit sind unzertrennlich verbunden: die Wurzel des Sohnes im Vater und die Sendung des Sohnes im Namen des Vaters sind beide eins; die Gerechtigkeit, die er in der Wurzel des Vaters übernimmt, und die Frucht der Liebe, mit der er seinen Auftrag zu Ende führt, sind unzertrennlich, weil sie im Sohne eins werden und im Sohne das Eigentum des Vaters sind: ausgehend vom Vater, rückkehrend zum Vater. Was hier Zwei ist, kann nur in der Einheit gezeigt werden; was hier Eins ist, nur in der Zweiheit. Es gibt keine Möglichkeit, den Sohn ohne den Vater zu sehen oder den Vater ohne den Sohn. Denn sie bilden zusammen die Liebe. Jene, die lieben (und das heißt zugleich jene, die glauben), wissen, was schon unter Menschen die Liebe vermag, wie stark sie zu einer Einheit in Gott führen kann; sie können, indem sie diese Liebe, vielleicht nur die Liebe, deren sie fähig sind, Gott ganz übergehen, eine schwache Ahnung davon erhalten, was die Einheit von Vater und Sohn bedeutet und wie diese Einheit der Liebe während des ganzen Weges des Sohnes zum Vater sich steigert. Außerhalb der Liebe aber bleibt dieses Geheimnis völlig verschlossen. Durch die Menschwerdung des Sohnes wird es dem Liebenden möglich, zwischen Vater und Sohn zu unterscheiden. Gott ist nicht mehr die ununterscheidbare Einheit, die er vorher für die Menschen war. Während der Sohn in seinem Gang ins Leiden hinein immer mehr vom Vater getrennt ist, wird er zugleich in dieser Trennung immer mehr mit dem Vater vereinigt, bis er am Kreuz nichts mehr anderes ist als die Offenbarung des Willens des Vaters, und bei der Himmelfahrt in eine neue, so vollkommene Einheit mit dem Vater eingeht, daß beide jetzt in der Einheit des Heiligen Geistes wie ein Meer ohne Strömung eins sind.“ (von Speyr 1949: 196f.) Jesus lebt als Christus ganz aus der Liebe, in der er sich aufgeben kann. Er ist kein Ego mehr, sondern nur noch dieser liebenden Bezug, den er zum Vater hat und darüber auch zu allem anderen. 


Aber die Pharisäer verstehen nicht ansatzweise, was Jesus meint und Jesus sagt ihnen dies sehr harsch ins Gesicht: „Weder kennt ihr mich, noch meinen Vater. Würdet ihr mich kennen, würdet ihr auch auch den Vater erkennen.“ (Joh 8,19) Und man kann die Ratlosigkeit der Pharisäer durchaus nachvollziehen, denn was Jesus hier sehr kurz in Vers 16f. sagt, ist eigentlich auch kaum zu verstehen und man kann durchaus daran zweifeln, dass dies oft verstanden wurde und das die meisten Gläubigen hier ähnlich ratlos sind wie die Pharisäer damals. Denn Jesus Gehorsam gegenüber dem Vater bedeutet nicht, dass er ein Tugendbold ist, der bestimmten Regeln folgt, wie dies wohl oft verstanden werden mag - denn die Tugendbolde sind eher die Pharisäer selber. Wer sehr gut verstanden hat, aus was Jesus lebt und wie eine authentische Nachfolge aussehen kann, ist Ignatius von Loyola. So kann man für Joh 8, 1-20 gut seine drei Weisen der Demut im Exerzitienbuch Nr. 164-168 heranziehen, um zu verstehen worum es hier geht. 


Allerdings ist „Demut“ heute kein besonders gängiger Begriff mehr und wird wohl kaum noch verwendet. Rahner bevorzugt daher anstatt von Demut von den drei Graden der Gottesliebe zu sprechen (1965: 197). Köster und Andriessen sprechen von Formen der Entschiedenheit für Gott (1991: 172). Dabei trifft Rahner mit der Liebe schon den Angelpunkt, aus dem die Demut erwächst, Entschiedenheit dagegen nur einen Randaspekt, weil es hier letztlich nicht um ein entscheidendes Ich geht, sondern um ein selbstloses sich verschenkendes Ich geht.  Und Entschiedenheit trifft es auch in einer weiteren Hinsicht nicht, da es hier nicht um eine vernünftige Entscheidung geht, die für klare Verhältnisse sorgt, sondern Demut, die aus Leidenschaft geschieht, die eine Dynamik entwickelt, die ich mir selber gar nicht geben könnte und die immer wieder alle Verhältnisse auf den Kopf stellt und die Sachen in ihr Gegenteil verkehrt (mit Spencer Brown (1969) können man dies als eine exzessive re-entry-Feier verstehen). Dabei liegt das Grundparadox der Demut darin, dass sie Gott und Mensch in ein Verhältnis zueinandersetzen und hierdurch gleichzeitig beide immer wieder ineinanderfallen und trotzdem dabei immer getrennt bleiben. Hier ereignet sich ein paradoxes Spiel von Gott oben und Mensch unten, vom je immer größeren Gott, zum immer je kleineren Menschen, oder wie das 4. Laterankonzil 1215 feststellt: „Denn zwischen Schöpfer und Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.“ (DH 806)


Przywara beschreibt in diesem Sinne die Demut auch als natürliches Paradox: „Was das natürliche Paradox der Demut ausmacht, daß Abstieg Aufstieg sei, eben dies gründet in der wahren Stellung des Geschöpfes zum ‚je immer größeren Gott‘: wie ja doch das Christliche in Christus überhaupt die ,’Darstellung des Gottes ist, den niemand je sah’ (Jo 1, 18). Gott allein ist das ,je Höhere’, und darum bedeutet Demut, die ‚untertan zu Gott macht‘, das wahre ,Erhöhen’, während Hochmut, der ,das Untertansein verschmäht’ eben dadurch ein ,Fallen ist, von Ihm weg, über den hinaus nichts Höheres ist’. So geht ,Überhebung ins Unten und Demut ins Oben’. Also erfüllt sich das ‚hohe Herz‘ allein in der Demut: weil sie allein zum Allerhöchsten hin ist (De civ. Dei XIV 13, 1). Also besteht ein inneres Sich-bedingen zwischen dem Je-immer-größer Gottes und dem Klein der Demut: ‚immer doch ist er der je Größere, wie sehr wir auch wuchsen... Dann (also) werden wir in ihm groß sein können, wenn wir immer unter ihm die Kleinen sind’ (In Ps 62, 16).“ (Przywara 1960: 18f.) Przywara macht hier auf ein „natürliches Paradox“ aufmerksam, das im Kern des Glaubens liegt: vor Gott können wir nur in unserer totalen Nichtigkeit zu ihm treten. Aber gerade indem wir vor ihn treten, werden wir gleichzeitig unendlich groß, weil wir uns dadurch von ihm geliebt erleben. Bin ich dagegen selbständig in meinem Ego, bleibe ich einsam in diesem Ego gefangen und werde niemals Gott begegnen können (und auch keinem Menschen, weil sie immer mehr oder weniger Bestätigung des eigenen Egos sind). Und ohne die Begegnung mit Gott, gibt es keine wahre Größe, sondern nur eine menschliche Größe, die immer relativ bleibt und so vergänglich wie die Schatten an der Höhlenwand (um auf Platons Gleichnis Bezug zu nehmen).


Eine ähnliche paradoxe Erfahrung macht man auch in Naturerlebnissen. So kann ich etwa in der Betrachtung einer Berglandschaft oder des Sternenhimmels, mich als gänzlich klein und nichtig im Vergleich dazu empfinden - und gleichzeitig angesichts dieser Nichtigkeit auch total geborgen in dieses Ganze hinein. Und dies auch wenn ich wahrnehme, wie „lebensfeindlich“ der Berg oder das Weltall gegenüber mir sind: am Berg überlebe ich nur, wenn ich mich gut schütze und die Erde existiert nur durch einen großen Zufall von passenden Bedingungen (wie dem Vorhandensein der Sonne und dem Abstand der Erde dazu etc.). Eigentlich nehme ich in dieser Situation nur ein großes Kommen und Vergehen war, wo ich selber mit meinem ganzen Leben nur ein kleiner Augenblick bin - und trotzdem ist dies tröstlich und geborgen. Diese Erfahrung eines natürlichen Paradoxes im Glauben und in der Natur kann man auch noch einmal in ein Verhältnis zueinander setzen, indem man mit Przywara zwei unterschiedlichen griechischen Bezeichnungen für Liebe unterscheidet: ¨Ερος und Αγάπη (die Φιλία als dritte Form wird hier nicht aufgegriffen). Wobei Eros eine mystische Naturerfahrung bedeutet und Agape die christliche Erfahrung eines personalen Gottes und damit auch zu allen Menschen als Kinder Gottes und Geschwister. „Liebe in ihrem Gegensatz zwischen Eros als eshaft kosmisch-mystischer Kraft des sehnenden Drängens und Flutens ins Unendliche und Agape als personaler Begegnung und schließlich als Austausch zwischen dem ‚ganz andern‘ Gott und dem ‚ganz andern‘  Menschen und vollends zwischen Mensch und Mensch in ihrem gegenseitigen Anderssein - dieser Gegensatz zwischen Eros und Agape spielt sich aus in der klassischen Tradition über die Liebe.“ (Przywara 1960: 56) Zwar werden diese beiden Begriffe oft gleichgesetzt und dies nicht nur im Deutschen oder auch Englischen wo uns einfach die Begriffe fehlen „Liebe“ in dieser Weise zu unterscheiden. Przywara geht es darum, diese beiden Formen der Liebe zunächst auseinander zu halten und zu differenzieren, aber sie dann wieder als Paradoxie aufeinander zu beziehen. „Diese merkwürdige Verschlingung, ja Identsetzung zwischen Eros und Agape ist so das Ur-Zeichen der klassischen Tradition über die Liebe. Einerseits, unter dem Zeichen eines Vorrangs der Agape, erscheint, für eine mögliche Synthesis zwischen beiden, die spezifisch personale und distant-dynamische Agape als die Humanisierung eines Es-haft kosmischen Eros, der als eine linear strömende Kraft Urkraft des gesamten Kosmos ist: Feuer der Materie, wie Feuer des Lebens, wie Feuer des Geistes. Anderseits, unter dem Zeichen des Vorrangs des Eros, gibt sich, für eine mögliche Synthesis zwischen beiden, die Agape als etwas rein Menschliches, und dazu als ein solches, das die Spannung der Distanz zwischen Mensch und Mensch akzentuiert, während demgegenüber der Eros nicht nur zum betonten Einssein feurig drängt, sondern auch solches Einssein auf- und ausflammen läßt ins ,immer lebendige Feuer’, das nach Heraklit der Kosmos ist, Eins-sein, das gemäß dem Areopagiten ein ‚kyklos theios‘ ein göttlicher Kreisumschwung, ist, in dem Gott und Mensch, Mensch und Mensch, Mensch und All ineinanderschwingen. So sehr Eros als kosmische Urkraft und Ur-Leidenschaft erst in der Agape der Begegnung menschliches Begebnis wird, so sehr zielt die menschliche Agape der Begegnung unaufhaltsam in die Weite des Kosmos: wie sich das im echten Liebeslied symbolhaft darspielt, für das in die personale Liebe die ganze Natur mit einspielt, während umgekehrt diese personale Liebe notwendig in diese ganze Natur sich ausspielt (wie es das Hohelied und die Liebesmystik des Hafis am deutlichsten erzeigen).“ (Przywara 1960: 58f.)


Dieser Gegensatz findet sich nach Przywara aber auch im christlichen Glauben, so dass die Vita Contemplativa und Activa als natürliche Paradoxie gelesen werden können. So erblickt das kontemplative Leben in stiller Schau den Ordo der Welt als „amor intellectualis Dei“, im Gegensatz zu einer „passio Amors“, die sich gerade in ihrem Glauben zur Welt und den Mitmenschen wendet und sich hier verschwendet aus einer „Flamme der Liebe“ (Juan de la Cruz). „‚Ordo amoris‘, lichte Ordnung der Liebe, und ,töricht verschwenderische’ Liebe als ‚scandalum amoris‘, (irrationales) Ärgernis der Liebe, sind der letzte Gegensatz-Abgrund zwischen kontemplativer und dynamischer Liebe, und damit jener Abgrund Liebe, in dem die ,Ungründe Gottes’ (βάθη τού θεού) in der ‚Weisheit‘ und im ,freien Wehen’ des Heiligen Geistes sich öffnen, der - gemäß den Paulinen - die ‚Liebe‘ zu seinem Eigennamen hat.“ (Przywara 1960: 61). In diesem letzten Gegensatzabgrund verbinden sich die beiden Seiten des Glaubens und diese Konstellation findet sich auch wieder in Joh 8, 1-20: so verschwendet sich die Frau auf törichte Weise an die Welt. Sie macht dies zwar nicht immer richtig, aber sie gibt sich hin. Zwar gibt der Evangelist nicht an, aus welchem Grund sie dies macht. Aber wir gehen hier einmal davon aus, dass sie dies nicht aus Eitelkeit macht und sich einfach nur in ihrem Ego von allen begehrt wissen möchte, sondern aus einem tief Drang von Lust und Sehnsucht, die in ihr aufsteigen. Die Pharisäer dagegen leben fest in einem Ordo, und diese Ordnung haben sie genau in den Schriften studiert haben - aber eben weitgehend nicht im Leben. Dies zeigt sich auch darin, dass die Pharisäer meist mit dem Wort ακρίβεια bezeichnet werden (insbesondere Apg 22,3; 26,5 oder auch bei Josephus BJ 1,110 und AJ 17,41, vgl. Stemberger 2013: 79f.). Die Pharisäer tendieren deswegen dazu, dass sie sich vor allem sehr genau auf die Schrift und dem darin ausgedrückten Ordo verpflichtet fühlen und das direkte Leben vor ihnen zur Not an diesen abstrakt-allgemeingültigen Ordo angepasst werden muss, und nicht umgekehrt. Dagegen ist Jesus die Integration dieser beiden Gegensätze, aber dies schafft er nicht durch eigenen Leistung, sondern allein dadurch, dass er sich ganz zurücknimmt und nur aus dem Willen des Vaters lebt und handelt und richtet. Jesus lebt ganz aus der βάθη τού θεού, diesem Abgrund, der ihn nichts planen lässt, der ihm aber auch absolute Freiheit gibt, indem er sich ganz dort hineinfallen lässt und vergeht. Aber ganz so starr kann man diese Aufteilung auch nicht sehen, da auch die Frau und die Pharisäer auf diesem Weg hin zu Jesus sind. So ist die Frau keine radikale Sünderin, denn sie liebt (zwar illegitim), aber eine Mörderin ist sie nicht, denn sie feiert eher das Leben - und weiterhin ist sie offen für Jesus Hinweis, nicht mehr zu sündigen (Joh 8, 11).


Przywara erkennt die Kontemplation des ordo amoris christlich vor allem bei Thomas von Aquin, der sogar die Dämonen dort einordnen konnte, wenn sie in ihrem Rahmen blieben (Przywara 1960: 61f.). Das Gegenstück sieht Przywara dagegen bei Ignatius von Loyola und der kleinen Therese (und vielleicht ist Thomas von Aquin ja selber am Ende seines Lebens dort hin gekommen, dass er selbst ins Gegenteil gekippt ist. So wird berichtet, dass er in einer Messe ein sehr starkes Erlebnis hatte und danach sagte: „Everything I have written seems to me as straw.“ Sein Biograph und Mitbruder Jean-Pierre Torrell OP schreibt dazu: „x c; the words are not the reality, but they designate it and they lead to it. Having arrived at reality itself, Thomas had a certain right to feel himself detached with respect to the words, but this does not at all signify that he considers his work as without value. Simply put, he had gone beyond it.“ (Torrell 2005: 293; vgl. auch Kerr 2002)) Für Przywara findet die Form der Liebe bei Ignatius ihre letzte Ausprägung in der dritten Form der Demut, weil sie eine Liebe ist, die nicht nur betrachtet, sondern mit Gott im Austausch steht und sich aus diesem Austausch heraus in der Welt abmüht und trotz aller betrachtenden Reinheit in Gott, sich immer wieder und kontinuierlich in die Niedrigkeiten dieser Welt hinabneigt. „Damit weist diese sich austauschende, sich mühende und absteigende Liebe zurück auf die sogenannte ‚Dritte Weise der Demut‘, die für Ignatius genauso ‚Höhepunkt‘ ist wie die vierte und höchste Art der Liebe. Diese ‚Dritte Weise der Demut‘ aber betont das Je-immer-mehr von ‚Armut mit Christus dem Armen‘, ‚Schmach mit Christus dem Schmachüberfüllten‘ und ‚eitles Narrentum für Christus, der vorher als solcher gehalten ward‘. Liebe, die Gott ist und im Menschen weiterströmt, ist damit - von diesen Zusammenhängen her wesentlich ,Abstieg’ aus einer gloriosen Liebe in das tiefste Unten von ‚Armut, Schmach, Narrheit‘. Liebe trägt die äußerste Demut als ihre Erscheinung, wie äußerste Demut (als Erniedrigung) die Liebe zu ihrem treibenden Geiste hat.“ (Przywara 1960: 64) Diese treibende Kraft, die die Gegensätze ineinanderkippen lässt, findet ihre Vollendung in der dritten Form der Demut bei Ignatius. Und diese Dynamik eines natürlichen Paradoxes kann auch die Folie darstellen, auf der Joh 8, 1-20 verstanden werden kann. 


Henri de Lubac hat die Bedeutung von Paradoxien für den Glauben sehr treffend beschrieben und dies kann hier gut als Ausrichtung der weiteren Interpretation dienen: „Das Evangelium ist voller Paradoxe, die den Geist erst einmal richtig schütteln. Zwar ist der Herr ein freundlicher Erzieher, er sagt aber nicht minder: ‚Selig, wer sich an mir nicht ärgert.‘ Es fragt sich überhaupt, ob nicht jede halbwegs kräftige Geisteslehre notwendig paradox formuliert werden muß. Es gibt, sagt der Weise, eine Zeit zum Reden und eine Zeit zum Schweigen. Zeit, eine Ansicht zu vertreten, und Zeit, die ergänzende geltend zu machen. Mehr noch: man müßte beide oft nebeneinander, gleichzeitig vertreten. Geistliche Wahrheit ist in ihrer Substanz paradox, aber nicht minder in ihrem Rhythmus. Eben hat man sie entdeckt, man hält sie gleichsam in der Hand: aber kaum senkt man einen ersten befriedigten Blick auf sie, ist sie weg. Die ewige Geschichte vom Pharisäer beginnt in jedem von uns neu. Um die entflohene Wahrheit wiederzufinden, wird man sie vielleicht in ihrem Gegenteil suchen müssen, denn sie winkt unter anderen Zeichen. Oft aber zieht man es vor, ihren verwesenen Leichnam umschlungen zu halten, und verwest mit ihr. […] Wir möchten immer beruhigt sein und fürchten jedes Befremden. Darum bauen wir uns eine kleinliche Religion nach unserem kleinlichen Format. Die Paradoxe des Evangeliums sind uns ein zu starker Wein; wir verstopfen die Ohren vor dem großen befreienden Anruf. Entmutigt bleiben wir vor den Todespforten stehen, die der einzige Zugang zum Leben sind. In unserer Verzagtheit überlassen wir das Neue und Freie im Christlichen denen, die es verdrehen, und selbst das wird uns zum Vorwand, uns noch mehr zu entfremden. Wie Parasiten darin eingebohrt, aber ohne seinen verwandelnden Saft in uns überströmen zu lassen, fälschen wir das Christentum in den Augen derer, für die wir es repräsentieren. Indem wir es in den Dienst des weltlichsten Menschen stellen, berauben wir es seiner höchsten Bezauberungsmacht und sind schuld an seiner Verhöhnung. Das ist die Kirchengeschichte aller Jahrhunderte. Das ist, o Gott, wir geben's zu, unsere Alltags-Geschichte. Wie kommt es nur, daß trotz allem, o Wunder, ein paar Strahlen Lichtes durchsickern?“ (Lubac 2005: 9f.) Hier hat Lubac eine Geisteshaltung, die ganz Jesus und dem Evangelium entspricht, die man aber so selten findet - in der Theologie nicht, in der Kirche nicht… und meist bei einem selber nicht. Wenn im Glauben ein festes Wertegerüste oder die Ruhe vor der allgemeinen Betriebsamkeit gesucht wird, dann hat dies wenig mit der Haltung zu tun, die Lubac hier beschreibt. Und man mag sich immer wieder wundern, wie ein so unvergleichlich starker Text wie das Evangelium, meist so radikal langweilig gepredigt werden kann und dies dann auch noch eine Feier genannt wird! Dies hat so wenig mit dem Geist zu tun, wie wenn man Zen mit der Wellness-Oase verbindet: Es ist eher der paradoxe Schrei von Ma-tsu oder Linji, der alles ausdrückt, aber nichts sagt: 喝 (He! oder Khat! in der Aussprache der Tang-Zeit oder japanisch Katsu!). So wird von Linji die folgende Episode berichtet: „The Master said to a monk, ‚At times my shout is like the precious sword of the Diamond King. At times my shout is like a golden-haired lion crouching on the ground. At times my shout is like the search pole and the shadow grass. At times my shout doesn't work like a shout at all. Do you understand?’ The monk started to answer, whereupon the Master gave a shout.“ (Watson 1993: 98f., vgl. auch Lu 1961: 96f.) Diese Schreie (genauso wie die Stockschläge), sind der wahre Zen-Geist, der erstmal eben keine Ruhe bringt, sondern radikale Verzweiflung, die auf diesem Weg vor die von Lubac erwähnten Todespforten bringt, die der einzige Zugang zum Leben sind und eben hier nicht entmutigen und eine falsche, lauwarme Ruhe bringen. Den Unterschied, den dieser Geist macht, zeigt sich in einem wunderbaren Gedicht, was Kokei Sōchin (古溪宗陳, 1515–1597) kurz vor seinem Tod seine Schülern hingeschmettert hat: 

„For over sixty years
 I often cried Katsu! to no avail.
And now, while dying,
Once more to cry Katsu!
Won’t change a thing.“ 

(Hoffmann 1986: 107) 

Mit einem lauten Katsu! sollten man jedes Mal in das Evangelium einsteigen sowie beenden und diesen Geist behalten… Löscht diesen Geist nicht aus (1. Thes 5,19). Vielleicht sollte man in der Fastenzeit an Stelle des weggelassen Halleluja das Katsu! verwenden, um dieses Zeit zum aufrütteln zu nutzen.


Mit dieser Haltung soll jetzt Joh 8, 1-20 noch einmal aufgerollt werden und zwar unter dem Aspekt der drei Formen der Demut bei Ignatius von Loyola. Die Frau, die des Ehebruchs beschuldigt wird, steht für die erste Form der Demut, die Pharisäer für die zweite und Jesus selbst in Joh 8, 16f. für die dritte Form der Demut. Bei der ersten Demut geht es Ignatius darum, dass ein Grundentscheidung für Gott gefallen ist, dass man sein Leben an ihm ausrichtet. „Die erste faßt die alttestamentliche Welt des ‚Gebotes’ zusammen und fordert die Bereitschaft, ‚in allem dem Gesetz Gottes unseres Herrn zu gehorchen‘ (n. 165) in der noch undifferenzierten Art eines Entweder-Oder von Für-Gott oder Gegen-Gott (vgl. Dtn 30,19).“ (Balthasar 1993: 140) Aber hier hat die Demut noch nicht das ganze Wesen durchdrungen, sondern es gibt immer noch viele andere Einflüsse, die auf die Person einwirken und auch übermächtig sein können. Rahner erläutert dies folgendermaßen: „Wer daher absolut entschlossen ist, jede schwere Sünde zu meiden, ist ein Mensch, der sich von der letzten, eindeutigen Ausrichtung auf das ewige Ziel nicht abbringen lassen will und damit zum Heilswillen Gottes, der seine, des Menschen, ganze Existenz umfaßt, ohne Schwanken steht; im übrigen aber läßt er sich gehen, improvisiert, stellt, abgesehen von seiner Ausrichtung auf das ewige Leben, keine weiteren Ansprüche an sich. Eine solche Haltung entbehrt nicht einer gewissen Größe. Sie ist keineswegs selbstverständlich. Ignatius setzt für sie voraus, daß man nicht einmal unter der Drohung, das eigene Leben zu verlieren, oder in der Aussicht, die ganze Welt zu gewinnen, es überhaupt nur in Erwägung zieht, eine schwere Sünde zu begehen. Immerhin aber gestaltet ein nur in der Weise demütiger Mensch sein Leben nicht restlos von Gott her, er unterwirft seine Haltung zu den Dingen, mit denen er umgeht, nicht bedingungslos dem Willen Gottes. So ist er immer in Gefahr, sich auf faule Kompromisse einzulassen, und gerät so in die Nähe der schweren Sünde.“ (Rahner 1965: 198) Auf diesen Weg will Jesus die Ehebrecherin bringen, mit seiner „Freilassung“ am Ende der Szene.


In der ersten Demut kann man sich sehr gut die Frau vorstellen, die vermutlich keine Atheistin ist und die nicht mit verschiedenen Männern Sex hat, um bewusst gegen die Gebote zu verstoßen. Sie ist keine Marquise de Sade. Aber sie lässt sich gerne verführen, egal ob von den Männern oder durch ihre eigene Lust. Sie ist noch nicht an dem Punkt, wo das Gebot stärker ist, als ihre eigene Lust. Sie ist deswegen nicht böse, hat vielmehr sehr viel Leben in sich und kann viel Liebe gegeben und empfangen (vgl. auch Lk 7,47), aber ihr fehlt letztlich eine Struktur und ein letztes Ziel. Sie ist Hin und Her geworfen in ihrem Leben zwischen den verschiedenen Versuchungen und Ansprüchen in jedem Moment. Aber will Jesus nun von dieser Frau, mit seiner Aussage „Von nun an nicht mehr zu sündigen“ (Joh 8, 11), dass sie die alles abtötet? Soll sie diese Lust und Liebe nicht mehr in sich haben? Soll sie immer unproblematischer dem Gesetz folgen, weil sie diese Versuchungen nicht mehr spürt, weil sie diese entweder verdrängt oder vertrocknen lässt? Oder liebt Jesus gerade diese Sünder, weil in ihnen Leben ist und sich hier dieser Kampf ereignet und zwar immer wieder aufs Neue? Denn Jesus hat wenig Interesse für die Tugendhaften, sondern für die Sünder - und dies nicht, weil die Tugendhaften schon in ihrer Tugend die Erlösung erreicht haben, sondern weil sie viel weiter davon entfernt sind, als die Sünder, die noch Leben spüren.


So geht es hier gar nicht um ein reines Gehorsamsdenken und einer Demut, die sich einfach unterwirft und damit einen gehorsamen, grauen Bürger produziert. Das entscheidend Christlich ist hieran, dass der Gehorsam bereits aufgebrochen wird in eine nicht mehr greifbare Unendlichkeit. Es ist kein berechnender Gehorsam einest Musterschwiegersohns, sondern das Maßlose, was die Frau schon in  Ansätzen in ihren verschiedenen Abenteuern gelebt hat. Es ist die Vorbereitung eines Sprungs, der eben nicht zum letzten Ziel hat, ein funktionierender Bürger zu werden, sondern sich restlos in Liebe zu verschenken. Dass der Gehorsam der ersten Demut kein Kadaver-Gehorsam ist, sondern eigentlich ganz fein diesen Gehorsam von innen heraus aufbricht, hat am stärksten Przywara gespürt und herausgearbeitet: „Das Ausmaß der Echtheit dieser Ersten Weise der Demut hängt mithin an dem Ausmaß ihres Offenseins zur vollen Entfaltung dieser Züge. Das typische Gesetzes-Denken steht unter der Form des Verhältnisses zwischen Leistung und Lohn, wie es die Freunde Jobs gegen ihn anführen und die Arbeiter im Weinberg gegen den Hausvater. In den Zügen eines irdischen Bankrotts aber, wie sie in der Ersten Weise der Demut anheben, dunkelt das Geheimnis jener ‚Ungerechtigkeit‘ auf, das im Los Jobs die Prophetie in das Los Christi ist: ‚Auf Dich haben unsere Väter gehofft und wurden heil. Ich aber bin nur ein Wurm und kein Mensch, der Menschheit Spott und verachtet vom Volk’ (Ps 21, 5ff.). In dieser Spannung zwischen einem Inhalt, der von sich aus die Form der ‚Gerechtigkeit‘ trägt, und einer Form, die zum ‚Rechts-Skandal‘ des Kreuzes drängt, hierin liegt das Eigene der Ersten Weise.“ (Przywara 1939: 174) Przywara macht hier deutlich, dass es bei dieser Demut nicht um Leistung geht, wofür dann ein Lohn berechnet werden kann (wie es der Schwiegersohn tut). Dies widerspricht eigentlich allem, wie unsere Gesellschaft auch heute noch gebaut ist: denn eigentlich haben die Freunde von Job Recht, denn ihre Erklärung von Jobs Situation ist die einzige gesellschaftlich sinnvolle, denn sonst muss man sich auf einen maßlosen Gott einlassen, den man weder verstehen kann noch dass er einen festen Halt im Leben gibt. Der Glaube ist da kein festes und verlässliches Gerüst, sondern das Gegenteil: er entzieht das Feste, Berechenbare und Verlässliche bis ins Letzte hinein (vgl. Mt 8,20). Und auch die Arbeiter im Weinberg hätten heute sofort die Gewerkschaften auf ihrer Seite und auch den gesunden Menschenverstand (dennoch liegen die Gewerkschaften im Arbeitskampf richtig, weil es hier um Gott geht und nicht um Arbeitgeber, die sich für Gott halten!). Der Kern dieser Demut liegt gerade nicht in diesem gerechten entsprechen, so dass gutes Verhalten seinen Lohn erhält. Sondern die Demut besteht darin, sich freiwillig in diese Unberechenbarkeit zu übergeben, die bis zum Rechts-Skandal am Kreuz reichen kann. 


Aber warum sollte man sich dieser Willkür ausliefern? Wäre nicht die beste aller Welten, wo ein transparentes Verhältnis von Leistung und Lohn besteht (vgl. The Economist: passim). „Denn im Geheimnis des Kreuzes, darin der Allerhöchste der Allerunterste wird, überwindet sich der Fortschrittsdrang des Lebens zum ‚lobwürdigen Sichwegwerfen zum Unten‘, und in solchem Sichwegwerfen hört die Frage von Wunsch und Recht auf und darum auch der Kampf zwischen Begierde und Gesetz.“ (Przywara 1939: 175) So wie Gott in Jesus Mensch geworden ist und sich so tief erniedrigt und quasi weggeworfen hat, dass er sich sogar im freien Willen ungerecht ans Kreuz nageln gelassen hat, genau dieses Prinzip liegt auch der Demut zugrunde. Denn in diesem Sichwegwerfen wird auch alles Wünschen und Rechhabens weggeworfen und damit auch jede Begierde, die durch ein Gesetz klassifiziert und bewertet wird. Das Sichwegwerfen ist tatsächlich kein schöner Begriff, wo sich alles in einem sträubt, was wir mit den Menschenrechten und als geliebte Kinder Gottes eigentlich erwarten dürften. Aber dennoch ereignet sich gerade hier das wahr Menschsein, was dem entspricht, was im Zen etwa unter Kensho verstanden wird.


Diese formale Gerechtigkeit, die gegen das Sichwegwerfen eingebracht wird, verdeckt aber eben diese wahre Gotteskindschaft. „Herrscht aber die Form der ‚Gerechtigkeit‘, im Aufstand der Freunde Jobs, der Pharisäer und der Apostel (vor dem Leiden) gegen das Geheimnis des unbegreiflichen Willens ‚im unzugänglichen Licht‘, so wird auch und gerade das Positive des Gesetz-Gehorsams zu einer Verkleidung dieses Aufstandes. Gesetz sagt dann Einengung der Grenzenlosigkeit des unmittelbaren Willens Gottes in angebbare Inhalte, und folgerichtig ,Schutz des Gesetzes’ gegen Feuer und Schwert dieses Willens (Lk 12, 49; Mt 10, 34), das Flammende des Göttlichen Willens gleichsam hinter Tür und Scheide des ‚klaren Buchstabens des Gesetzes‘, bis hinein in ein Sichschützenlassen durch das Gesetz-Minimum des Verpflichtet unter Todsünde. Das Notwendig zum Heil tritt dann gegen den Atem der Freiheit der Liebe, in der Gott wirbt im ‚Komm, Braut!‘ (HI 4, 8) und die Seele sehnt im ‚Komm, Herr Jesu!‘ (Offb 22, 20): als Flucht vor dem Brennen der Liebe in einen Zwang der ,Vergewaltigung’. Und die große Bereitschaft in den Verlust von allem trägt dann die Farben einer fernen ‚romantisch äußersten Situation‘: das Auch wenn sie mich machten usw. darum so großtönend, um mit zukünftigem Verzicht und zukünftigem Tod dem Jetzt von Hingabe und Sterben auszuweichen. Im Nein gegen den vorausgeworfenen Schatten der Dritten Weise der Demut wird die Erste Weise der Demut zu einer verkleideten Verweigerung der Demut überhaupt verkehrt.“ (Przywara 1939: 175) Eine Demut, die sich also an einen kodifizierten Willen Gottes bindet, verweigert sich damit gerade Gott. Denn es werden abstrakte Gebot gegen den lebendigen Willen Gottes gesetzt. Der tote Buchstaben erstickt damit die lebendige Beziehung zu Gott. Aber der tote Buchstabe hat eben den Vorteil, dass er feststeht und damit berechenbar ist. Die lebendige Beziehung zu Gott ist dagegen alles andere als berechenbar! (Und wer will schon einen Schwiegersohn heiraten, denn den wollen nur die Eltern und ist zum vorzeige geeignet - aber nicht zum leben und zum lieben!)


Damit ist eine Demut, die nur Gehorsam gegenüber dem Gesetz ist, in ihrem Grunde eine Verweigerung gegenüber Gott. „Das ‚lobwürdige Sichwegwerfen zum Unten‘ wird verweigert: da man in die Unfreiheit des Zwanges flüchtet, um durch ein solches Unter-die-Füße-gelegt ein endgültiges Tot-sein und darum Unfähigsein darzustellen: ein Sichtotstellen, um dem Tod zu entgehen; ein Sichunterlegen, um hierdurch Feuer und Schwert wegzubeschwören. Und gerade auch die ‚Erkenntnis des eigenen Versagens‘ wird verweigert: da das Versagen des Ja zum vorausgeworfenen Schatten der Dritten Weise der Demut vor sich selbst überlogen wird durch die großen Worte von Verzicht auf ein ,mögliches’ Herrentum über die Erde und von Bereitschaft zu einem ,möglichen’ Martertod. So wird die echte Furcht Gottes dann zu einer fliehenden Furcht von Gott weg.“ (Przywara 1939: 175f.) Damit ist die erste Form der Demut doppeldeutig. Natürlich ist die Frau angehalten nicht weiter jedem Liebhaber hinterherzulaufen oder jeden Mann zu verführen. In diesem Sinne soll sie sich am Gesetz orientieren. Aber sie darf ihre Sehnsucht und Liebe, die sie an den Männern bisher gestillt hat, nicht einfach im Gehorsam zum Gesetz ersticken und töten. Sondern diese Sehnsucht und Liebe macht sie gerade als Mensch aus und nicht ihr Gesetzesgehorsam. Ihre Sehnsucht ist persönlich und lebendig, dagegen ist ihr Gesetzesgehorsam abstrakt und tot. Es geht darum, dass diese Sehnsucht weiterhin verschwendet wird, aber nicht an die Männer, sondern an Gott. Hier muss sie sich mit ihrer ganzen Sehnsucht und Liebe Wegwerfen. Und dann ist es kein Rechnen um Gerechtigkeit, sondern ein paradoxes sich Verschenken aus Freiheit und Liebe - um so immer wieder überraschend beschenkt  zu werden.


Die zweite Form der Demut, die Ignatius kennt, lässt sich auf die Pharisäer anwenden. Auch wenn die Pharisäer nicht ohne Sünde sind (da von ihnen keiner einen Stein wirft) und man sie für ihren Moralismus verurteilen kann, so muss man doch sagen, dass sie ein ganzes Stück mehr ihr Leben nach Gott ausrichten, als dies die Frau bisher getan hat. Die Pharisäer sind schon radikal darin, dass sie ihr Leben ausschließlich auf Gott ausrichten und da ist auch ihr Name passend, da das hebräische peruschim für Abgesonderte steht, d.h. dass die Pharisäer sich absondern von allen weltlichen Dingen (vgl. Baeck 1961: 41ff.). Die Pharisäer haben damit schon viel geschafft, ihr Leben an Gott auszurichten, vor allem weil sie im Vergleich und Absetzung gegen die Sadduzäer den Glauben nicht mehr als reinen liturgischen Tempeldienst verstehen, sondern als inneren Anspruch von jedem selber. Mit dieser Entschlossenheit, das eigene Leben ganz auf das letzte Ziel auszurichten, was allein Gott ist, kann man die Pharisäer sehr darin wiederfinden, was Ignatius als zweiter Form der Demut beschreibt. Rahner gibt diese Ausrichtung folgendermaßen wieder: In der zweiten Form der Demut „wird, wenn auch noch nicht das ‚Mehr‘ des Fundaments, so doch wirklich und ehrlich das ‚tantum-quantum‘ im Besitzen und Lassen der Dinge angestrebt. Diese Weise der Demut erreicht ein Mensch, der nicht im geringsten schwankt, ein bestimmtes Mittel zum Ziel [Ziel ist hier aus dem Fundament: ‚Der Mensch ist geschaffen dazu hin, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihm Ehrfurcht zu erweisen und Ihm zu dienen‘] zu wählen, wenn er sich darüber klar ist, daß es - objektiv von der Sache her - das bessere ist. Ignatius unterscheidet eine solche Haltung mit Recht von der ersten Stufe der Demut. Die zweite Weise in der Konkretheit des Lebens erkämpft zu haben, ist schon große Tugend, ist ein Stück Heiligkeit, ist etwas, das wir alle nur mühselig fertigbringen. Man bleibe ehrlich: Wer von uns wählt denn schon in der Wirklichkeit seines Lebens das jeweils bessere Mittel auf das Ziel hin; wer von uns sucht etwa schon Reichtum nicht mehr als Armut..., dann wenigstens, wenn der Dienst Gottes und unseres Herrn eindeutig mehr durch das eine als durch das andere gefördert wird?“ (Rahner 1965: 199)


Die Pharisäer sind entschlossen ihr Leben an Gott auszurichten und ihn an die erste Stelle zu stellen. Die Kritik Jesu an ihnen stellt dies gar nicht in Frage, sondern setzt am Weg dorthin an. So sind die Pharisäer sehr akribisch (ακρίβεια als entscheidendes Charakteristikum im Neuen Testament und bei Josephus für die Pharisäer) darin, die Gebote einzuhalten. Das Leben wird also sehr genau an die schriftlich festgelegten Gesetze im Tanach ausgerichtet. Aber die Pharisäer selber merken, dass nicht jedes individuelle Leben in dieses Gesetz passt. Gegen die Sadduzäer lassen sie deswegen neben den Tanach auch Rückgriff in die Tradition zu und erkennen die Michna als ähnlich verbindliche Quelle für ein gottesfürchtiges Leben an, so das Regeln durch weitere Regeln ergänzt werden - auf diese Weise könnten tatsächlich individueller einzelnen Sachverhalten gerecht werden. Jesus hat erkannt, dass dieses Vorgehen an kein Ende führt, denn ein abstrakter Regelkanon wird nie jedes individuelle Leben abdecken können. Und noch viel mehr führt dies oft dazu, dass die Regeln den eigentlich Sinn hinter den Regeln verdecken und auf diese Weise blind machen. Es geht Jesus darum, dass man wieder aus den Geist des Gesetzes lebt und nicht zum Gesetz selbst wird. Und dieser Geist ist ganz einfach: es ist eine authentische und wahre Gottes- und Nächstenliebe. Jesus löst damit sehr geschickt eine Grundparadoxie, die heute relevanter denn je ist, da jede Regel ihre Ausnahme kennt (vgl. etwa Ortmann 2003). Allerdings muss man systemtheoretisch dies gar nicht als Problem ansehen, sondern eher als Qualität und Vorteil von menschlichen Gesellschaften, denn wir verletzten ständig Regeln im Dienste der Sache (im großen Stil sei nur an Kohl, Ackermann, Wintherkorn et al. erinnert, die zumindest mit dem Vorwurf konfrontiert werden, aber genau dadurch reflektiert Gesellschaft diese Grundparadoxie und definiert Grenzen der Legitimation). Die Ausnahme ist damit eher das kreative Mittel, was gesellschaftliche Prozesse am Laufen hält und gerade nicht dadurch die Gesellschaft ins Chaos führt - Dienst nach Vorschrift würde uns dagegen ganz schnell an den Abgrund des Chaos bringen. Die Pharisäer wollen also eher Dienst nach Vorschrift und wollen jede Ausnahme regeln (etwa in der Michna), Jesus dagegen setzt die lösende Kreativität in der Liebe an.


Dieser Konflikt ist damit nichts Spezifisches, was nur die Pharisäer betrifft, sondern die Pharisäer sind im Neuen Testament nur ein sehr deutliches Beispiel dafür. Vielleicht ist es an der ein oder anderen Stelle überzeichnet und sicher werden es die Pharisäern je nach Person unterschiedliche ausgelebt haben. So gibt es die eher „anonymen“ Pharisäer, die immer nach einem Anlass suchen, um Jesus zu verurteilen und es gibt z.B. Nikodemus, der stärker auf den Geist schaut und weniger dominant die Gesetze sieht. Aber diese Paradoxie lebt in jedem und war auch bei den Pharisäern immer präsent geblieben. Die Pharisäer dürfen nicht durchgängig als verkopfte Gruppe gedacht werden. Zwar wird es dies bei vielen gegeben haben und dies auch ein berechtigter Kritikpunkt gewesen sein, aber viele werden den wahren Grund noch in sich geahnt haben, dieses Wehen aus dem βάθη τού θεού. Bei aller Kritik und Überspitzung im NT hat aber auch der Pharisäer Nikodemus eine sehr prominente Rolle, der genau diese Ambivalenz darstellt. Und auch Leo Baeck zieht ein sehr schönes Fazit in seiner Studie von 1937 über die Pharisäer, die die Kritik und den ursprünglichen Grund bei den Pharisäern erkennt: „Wenn die Religion gelehrt werden soll, damit sie dem Volke zum Besitztum werde, dann kann die Religion auch zur bloßen Beschäftigung mit der Religion werden, und auch die Kleinlichkeit und ihre Dialektik wirken sich dann nicht selten aus. Sicherlich hat es das alles im Pharisäertum gegeben. Wenn wir es nicht von vornherein wüßten, der Talmud, nicht nur das Evangelium erzählt es uns. Aber das Pharisäertum ist das nicht. Sein Wesen ist ein anderes. In ihm ist der großartige Versuch gemacht worden, die Religion ganz zur Religion des Lebens zu machen, des Lebens des Einzelnen und der Gesamtheit, damit die Religion nicht nur neben dem Menschen, neben der Gemeinschaft, neben dem Staate hergehe. Mit dem Gedanken der Heiligkeit ist hier Ernst gemacht worden, unbedingter Ernst mit der Forderung, jeden Tag, auch den Alltag, zur Idee hinzuführen, mit der Forderung, in der die Pharisäer ihre Aufgabe und ihr Recht fanden: ‚ihr sollt euch heiligen und heilig sein‘ - ‚ihr sollt peruschim sein!‘ Der heroische Versuch ist hier unternommen worden, dem Gottesreiche den Boden zu bereiten. Der Name gehört einer Vergangenheit an; was er in seinem Gebote, das er enthält, bezeichnen wollte, ist ideale Wirklichkeit geblieben.“ (Baeck 1961:  90)


Wenn man die Pharisäer im Rahmen der zweite Form der Demut versteht, so kann man auch erkennen, an welchem Punkt sie auf einen Abweg kommen. Eine parallele Kritik wie im NT kann man auch im Buch Job erkennen, wo auch die Freunde aus einer pharisäischen Weisheit heraus versuchen, das Schicksal Jobs in Gesetzen einzuordnen und einzupferchen.  Przywara hat diese Ambivalenz von Weisheit besonders eindrücklich in seiner Diskussion der zweiten Form der Demut herausgearbeitet. „Bereits in den Weisheitsbüchern selber geschieht die Scheidung zwischen Weisheit und Weisheit. Denn die Weisheit, von der diese Bücher sprechen, ist nicht zu erreichen durch Kraft und Klugheit und Mühsal, sondern allein als ,Gnade’ von Gott (Weish 8, 21), in der unbedingten Freiheit bräutlicher Liebe (Weish 8, I-4 und HI) und eben darum (weil das Geheimnis dieser Liebe in die ‚Abgründe Gottes‘ führt) allein im unerbittlichsten Dunkel der Unbegreiflichkeit der Göttlichen Majestät (Jb 37-42).“ (Przywara 1939: 177) So gibt es die Weisheit, die versucht Gott und seinen Willen immer weiter auszubuchstabieren und zu differenzieren. Dazu werden die Gesetze des Tanach verwendet und wo etwas offen bleibt, werden weitere Gesetze und Theologien abgeleitet. In Wahrheit findet man Gott weniger in den Gesetzen und logischen-theologischen Deduktionen, sondern gerade in dem, was offen bleibt. Gott wird sich nie ausbuchstabieren und begrifflich festlegen lassen - er wird der immer Unbegreifliche bleiben! Und dies halten die Pharisäer nicht aus, genauso wie die Freunde Jobs und heute die Theologen in Rom. Dieser Gott gibt kein festes Gerüst, auf das ich mein Leben aufbauen kann und er gibt auch keine einfache Ruhe. Der feste Grund ist keine Dogmatik, sondern das Loslassen in den Abgrund - nur darauf kann ich bauen. Wenn ich mich ihm mit Jesus nähere, dann führt er immer tiefer in diese βάθη τού θεού hinein, bis hinein in seinen Tod am Kreuz. Und diese Abgründe sind gleichzeitig auch die Abgründe in mir. Erst in diesen βάθη τού θεού realisiere ich, dass mir alle eigene Kraft, Klugheit, Spitzfindigkeit, Anstrengung etc. nichts mehr bringt, sie fallen alle ab. In diese βάθη τού θεού gibt es dagegen nur eine radikale Ohnmacht und Ausgeliefertsein, wo ich nur noch mein eigenes Nichts im Verhältnis zu Gott spüre. Wo alle moralisch guten Tat so lächerlich klein wirken. Und erst wenn alles von meinem Ego in dieses ohnmächtige Nichts hinein zerbrochen ist, taucht langsam, ganz leise ein Licht auf und es ereignet sich allein seine Gnade in mir, die paradoxerweise genau diesem Nichts sagt, ich will dass du bist, du bist in meiner göttlichen Liebe unendlich geborgen. 


Im Rahmen des Höhlengleichnis kann man dies auch sehen, so dass man sich erst von den ganzen weltlichen Erscheinungen losreißen muss, so wie die Frau, die ihre Zuflucht beim Sex mit verschiedenen Männern sucht. Aber man muss sich auch davon losreißen, nur die Quelle dieser Schatten zu untersuchen, wie dies die Pharisäer tun. Sondern es geht darum, sich auch davon mit Gewalt aufzumachen und den steinigen Weg hinauszugehen, alleine und ins Unbekannte, wo am Ende eigentlich „nur“ Licht und Wärme ist. Es ist dieser Aufbruch quasi ins Nichts hinein, hinein in ein Licht, was keine Unterscheidungen mehr kennt. Was keinen Ruhm und Anerkennung in dieser Welt mehr kennt. Es ist nur diese Anziehung von Licht und Wärme, die zieht. Es gibt keine rationalen Gründe, sich auf diesen Weg zu machen. Es ist eigentlich reine Narrheit, die alles aufgibt nur für eine lichte und leise Ahnung, dass Gott da ist und ich mich so ihm nähere. „So scheidet sie sich gegen die Weisheit, die die ‚Kraft‘ als ,Maßstab’ nimmt und darum das ,Schwache’ als ,nutzlos’ verachtet und es darum ‚auf die Probe stellt mit Schimpf und Schlag‘ (Weish 2, II-19). Das erfüllt sich in den erbarmungslosen Gegensätzen, die der erste Korintherbrief aufreißt: das ,Narrentum Gottes’ in der ‚Narrheit‘ des ,Logos des Kreuzes" (I Kor I, 25 18) gegen die ,Weisheit dieser Welt’ (I Kor I, 20 27ff.), d. h. jener ‚Obersten der Welt‘, die ‚den Herrn der Glorie gekreuzigt’ haben, also gegen die Weisheit der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer des Alten Bundes, die die Weisheit des unbegreiflichen Gottes solange verkehrt hat in eine Weisheit greifbarer und handbarer Menschensatzungen (Mt 15, 1-20; 23; 1-29), bis sie die Weisheit des Aufruhrs gegen die Unbegreiflichkeit Gottes im ‚Narrentum des Kreuzes’ ward, der mordgierige Aufstand der Kraft und Klugheit gegen den ‚Skandal der schandbaren Schwäche‘ (Weish 2, 11-20; Mt 23, 29–39; 1 Kor 1, 18 bis 2, 9).“ (Przywara 1939: 177f.) Aber dieses Narrentum haben wir im Christentum kaum. Heute ist Narrentum eher trotz aller Skandale weiter Katholik zu sein oder das Narrentum gegen alle Vernunft an die Dogmen zur Auferstehung Jesus zu glauben oder an die Sexualmoral aus Rom. Aber dies ist eher ein pharisäisches Idiotentum, nicht das sich fallen lassen und sich ereignen lassen des βάθη τού θεού. Dieses Narrentum findet man viel deutlicher bei den Zen-Meistern in China und Japan, die christliche Geschichte hat hier nur wenig zu bieten und stellt hier eher Ausnahmen da wie etwas Ignatius von Loyola, Juan de la Cruz, Meister Eckhart oder die alten Mönchsväter etc.

Die Weisheit, die das eigene Leben ausschließlich an Gott ausrichten möchte und dafür sich von dem weltlichen Anerkennungsspiel loslöst, ist damit nicht erreicht, dass man sich Gott nähert, indem man sich Gott selber begreiflich macht, mit den eigenen begrenzten Anthropomorphismen. Dies ist zwar bis zu einem gewissen Punkt richtig und notwendig, weil es dabei hilft, sich von der Welt zu lösen. Aber diese Weisheit ist nur ein Mittel und darf nicht Zweck an sich sein, sondern muss wieder kollabieren und alle eigenen Weisheit muss sich wieder auflösen - hinein in die βάθη τού θεού. Somit muss sich in der pharisäischen Weisheit erst der eigentliche Aufbruch ereignen, der sich aufmacht zu diesem immer unbegreiflich bleibenden Gott. In der zweiten Form der Demut bricht bereits die dritte Form auf. Hierauf kann man sich einlassen oder man Verstockt in der Dogmatik. „Haltung der Weisheit, als besonderer Inhalt der Zweiten Weise, hängt in ihrer Echtheit also gesteigert an der Demut, wie sie in der Dritten Weise der Demut ausgesprochen ist. Und darum gewinnt der Satz Daß ich für alles Geschaffene nicht und dafür, daß sie das Leben mir nehmen von hier her seinen eigentlichen Sinn: der Untergang der göttlichen Weisheit im ‚Skandal der schandbaren Schwäche eines Nichts‘ (1 Kor 1, 27-29; Phil 2, 6-8) - gegen den Aufstieg der Kraft und Klugheit der Weisheit (Weish 2, I1), wie ihn grundlegend und formend die Sünde des Teufels und der Stammeltern tat (,Gott gleich sein, wissend …’ Gn 3, 5). War schon in der ersten Weise der Demut die Form der Demut das Entscheidende, so steigert der Ernst dieser Entscheidung sich hier zum Äußersten. Gerade weil die Geistigkeit der Weisheit die höchste Nähe zum Geist-Gott der Weisheit sagt, kommt alles darauf an, ob sie als Demut die ‚Ehrfurcht… zu Gott‘ als ,Unterwerfung des Menschen zu Gott’ im ‚lobwürdigen Sichwegwerfen zum Unten‘ ist und dies auch noch in der ‚Erkenntnis des eigenen Versagens‘. Das Oben der Weisheit ist nur dann nicht Dämonie der Weisheit (und dies als die eigentlichste Dämonie), wenn sie diese Demut ist. In der Spannung zwischen einem Inhalt, der die Form des Oben überlegener Freiheit der Weisheit trägt, und einer Form, die zum ‚Narren-Skandal‘ des Kreuzes drängt, hierin liegt das Eigene der Zweiten Weise.“ (Przywara 1939: 178) Die Weisheit der Pharisäer, die sie ein Gott entsprechendes Leben führen lassen soll, kann genau an Gott vorbeiführen, wenn diese Weisheit glaubt, so gut Gott erkundet zu haben, dass sie über Gott Bescheid weiß, dass sie die gleiche Weisheit wie Gott hat. Die Bibel kennt diese Hybris sehr genau und setzt es direkt an den Anfang: die Anmaßung von Adam und Eva, weise werden zu wollen wie Gott, indem sie vom Baum der Erkenntnis essen. Und das zweite Beispiel ist der mit Abstand größte Schriftgelehrte (nach Jesus), den die Bibel kennt: aber dies ist nicht Abraham oder Moses, es ist nicht Johannes oder Paulus… es ist der Teufel, der aber genau wegen dieser Hybris gefallen ist. Dies ist auch die Hybris in die die Pharisäer immer wieder drohen zu fallen (genauso wie die Freunde von Job). Die zweite Form der Demut hat aber die Dynamik, dass die Weisheit von innen heraus, diese Hybris aufbrechen zu lassen und in diesem Zerbrechen der „Eitelkeit der Weisheit“, die gerade in ihrem vermeintlichen Sehen und Erkennen erblindet, sich öffnet hin zur dritten Form der Demut, für die dann Jesus selber steht. Denn alle menschlich-leibliche Weisheit wird sich nicht mit Gott messen können, denn das Ungleichgewicht von Gott und Mensch gilt auch bei der Weisheit, „denn zwischen Schöpfer und Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.“ (DH 806)


Die Weisheit muss aus sich selbst ihre Grenzen entdecken und dann trotz ihrer Größe, die die Weisheit in der Welt hat, sehen, dass sie nur Stückwerk ist (1 Kor 13, 9), nur ein Floß wie der Buddha sagt, was wir hinter uns lassen müssen, wenn es seinen Zweck erfüllt hat. Und der Zweck der Weisheit liegt nicht in ihrer menschlichen Größe, sondern das aus dieser höchsten menschlich-leiblichen Weisheit wieder die Demut auftaucht, dass wir ohnmächtig und nicht-wissend vor Gott stehen. Bis dazu hin dass selbst Jesus in seiner „Weisheit“ bzw. die Weisheit, die die Menschen in ihm gesehen haben und sehen, letztlich unsinnig ans Kreuz geschlagen wird. Diese Narrheit des unsinnigen Todes am Kreuz, darf auch nicht dadurch zuggespachtelt werden, dass es direkt durch die Auferstehung erklärt wird. So hat man nichts verstanden. Es geht um das Aushalten dieser Narrheit. Aber dieses Narrentum muss den mühsamen Weg durch die Weisheit gegangen sein. Sie muss sich eine Zeit am Feuer in der Höhle gewärmt haben (wenn man das Höhlengleichnis heranzieht), um zu erkennen, dass dies nicht das wahre Licht ist, um dann erst zum Ausgang aufzubrechen. Jesus musste erst lehren, um dann gekreuzigt zu werden. Thomas musste erst seine Summa schreiben, um dann zu erfahren, dass dies nicht alles ist, in einem Ereignis, was dieser sprachmächtig Mann nicht in der Lage war, zu beschreiben. Eine wahre Weisheit muss immer diesen Kipppunkt haben, wo sie in Demut zurückfällt, so dass man eigentlich hinter jeden klugen Satz oder Rat ein Soli Deo Gloria setzen müsste, wie dies etwa Bach unter viele seiner Meisterwerke gesetzt hat.


Wir haben damit auf der einen Seite die Frau, die sich der Sinnlosigkeit dieser Welt hingibt, die sich in Liebe, Sehnsucht, Lust etc. verschwendet. Aber auch wenn sie in dieser Verschwendung liebt, so findet sie doch keinen Halt: weder in sich selbst, noch in einem anderen Ich. Sie sucht sich selbst und sucht sich in den Armen eines anderen - nur finden tut sie nichts. Und sie findet buchstäblich Nichts, sie nähert sich immer wieder diesem Abgrund und es hilft auch nicht, in dieser abgründigen Sehnsucht von einem Mann zum nächsten zu eilen, denn sie wird diesen Halt bei keinem Menschen finden. Aber auch nicht in einer guten und treuen Ehe, noch in irgendeinem anderen  Mensch, den man erst noch zu finden hat. Genau aus dieser verzweifelten, sinnlosen Sehnsucht will Jesus sie herausreißen. Aber die Frau ist stark in ihrer Sehnsucht nach Liebe und Leben, und damit ist sie stark in der Suche nach Gott. Für sie geht es darum, diese starke Sehnsucht von endlichen Objekten und Subjekten hin zu Gott zu wenden. Diese μετάνοια und Änderung der Grundausrichtung auf Gott hin, ist das, was Jesus meint mit „und nun sündige nicht mehr“, und dies ist dann die erste Form der Demut nach Ignatius. 


Dagegen haben die Pharisäer diese Ausrichtung auf Gott längst vollzogen, aber sie haben darüber weitgehend ihre Sehnsucht verloren, sondern ruhen selbstgerecht in ihrer menschlichen Weisheit. Während die Frau immer wieder Gefahr läuft in ihrer starken Sehnsucht und Leben, sich an die Welt zu verschwenden und Gott aus dem Augen zu verlieren, so verlieren die Pharisäer das Leben aus den Augen und kennen nur noch abstrakte Gesetze und Traditionen. Dies läuft zusätzlich damit einher, dass sie sich die Weisheit zunehmend selber zuschreiben, da sie immer souveräner selber über weisheitliche Urteile verfügen und damit die eigene Urteilskraft über das immer überraschende und immer neue Urteil Gottes stellen. Sie haben damit ihren eigenen menschlichen Grund verloren: das Narrentum einer verschwendenden und sinnlosen Hingabe an die Welt, die aber ihren letzten Kern und Ausrichtung in der Liebe und Sehnsucht Gottes gründet. Beide Formen der Demut beinhalten schon immer die andere Seite, tendieren nur dazu, sich immer auf einer Seite festzusetzen. Nur die dritte Form der Demut erlaubt es, dass dieses Dynamik in dieser Paradoxie am Leben gehalten wird. Es ist der saufende Jesus, der mit den Sündern verkehrt und es ist genauso der fickende Ikkyu, der soweit tiefer im Zen steht als die dekadente Mönchskaste seiner Zeit. „Die dritte Stufe gibt nur die rahmenhafte Entwicklung des neutestamentlichen Heilsplans, die rahmenhafte Differenz der Wahl Gottes in Christus, die da heißt: Armut, Schmach, Torheit des Kreuzes. Aber Ignatius verzichtet darauf, diese rahmenhafte Bestimmung sofort zur individuellen Bestimmung des göttlichen Willens für den Einzelnen zu machen, es sei denn, dieser Einzelne habe die alttestamentlichen Stufen des Gebotehaltens und die Stufe der Schwelle zwischen den Testamenten, die Indifferenz, sich wirklich angeeignet. Die Wahl des Kreuzes für den Einzelnen unterliegt der doppelten Vorbedingung: daß nämlich ‚die erste und zweite Stufe vorausgesetzt ist‘, also nicht nur eine allgemeine Geübtheit im Gebotehalten, sondern ausdrücklich auch eine Geübtheit in der vollkommenen Bereitschaft, und daß ‚Lob und Ehre der göttlichen Majestät die gleichen wären‘ (n. 167), die Wahl des Kreuzes also nicht aus einem persönlichen Vorziehen und enthusiastischen Sich-Anbieten, sondern im sachlichen Wissen um das objektive Erwähltsein von Gott her erfolgt, wie denn auch theologisch der Neue Bund nur als Erfüllung von ‚Strichlein und Häklein‘ des Alten über diesen hinausgeht und wie er nur in der Form erwählender Entscheidung Gottes in das Neue hineinführt.“ (Balthasar 1993: 141f.) Damit markiert Balthasar im Übergang von der zweiten zur dritten Form der Demut auch den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament. Aber so wie das Alte Testament nicht überflüssig durch das neue wird, sondern vielmehr jedes Jota zählt, so ist es auch mit der Demut, die sich durch die erste und zweite in die dritte Hineinwachsen muss, aber sie muss die ersten beiden Formen in sich aufheben: d.h. die verschwende Leidenschaft der Frau und ihre Sehnsucht und Trieb nach Leben, die sie blind in dieser Welt orientierungslos hin und her wirft UND die Entschlossenheit der Pharisäer sich ganz auf Gott auszurichten. Die dritte Form hebt beide Seiten auf. Der Frau fehlte die Entschlossenheit auf Gott hin und den Pharisäern fehlte die sinnlose Leidenschaft sich dem Leben hinzugeben. Jesus vereinigt beide Seiten in sich, so dass er in sich die Leidenschaft hat ohne Orientierungslosigkeit und die Entschlossenheit ohne die verkopfte Vertrocknetheit und die Eitelkeit eines gebildeten und klugen Ichs - und das ist die Perspektive und Haltung, die das Neue Testament herausstellen möchte.


Jesus lebt diese Demut uns vor und hebt damit sowohl das Alte Testament auf genauso wie die beiden ersten Formen der Demut: d.h. er hebt es auf eine höhere Stufe, indem er die beiden paradoxen Seiten einer verschwendenden Liebe in der Welt und eine radikale Ausrichtung auf Gott miteinander vereint und damit aber auch weiter behält und aufbewahrt, ohne auf einer Seite festgesetzt zu sein (dies sind die drei Bedeutungen von Aufheben in loser Anlehnung an Hegel: Befreiung, Aufbewahrung und in einer paradoxen Einheit auf eine höhere Stufe heben). Christsein bedeutet dann Jesus in dieser Form der Demut zu folgen, gerade in dem man realisiert, dass dies von mir selbst aus nie erreichbar ist (genauso wie die Gelübde des Bodhisattvas (vgl. Okumura 2012). Dieser unermeßlich hohe Anspruch führt aber nicht dazu, dass ich noch verbissener versuche Gebote zu erfüllen und der konservativste unter den Konservativsten werde, sondern ich kann dies nur erfüllen indem ich gerade ganz mich lasse, mich aufgebe und meine vollkommene Ohnmacht anerkenne. Diese abstrakte und auch etwas abgedroschene Phrase kann vielleicht noch einmal vor einem konkreten Beispiel Leben gewinnen. So kann ein Suchtkranker (und die Frau im Evangelium ist genauso eine Suchtkranke wie die Pharisäer, nur das sie unterschiedliche Drogen haben: Suche nach Geborgenheit und Suche nach einem Gott) mit voller Entschlossenheit versuchen aus der Sucht herauszukommen - und er wird trotzdem immer Scheitern. In der Sucht geht es nicht um Entschlossenheit, sondern um Anerkennung der eigenen Ohnmacht und das man trotzdem angenommen ist. So kann jemand gegen die Sucht mit aller Kraft kämpfen und der Suchtberater kann hier eigentlich nur paradox intervenieren: „Hören Sie verdammt noch einmal auf zu kämpfen, sie werden diesen Kampf gegen die Sucht immer verlieren!“ Dies kann man auf zweierlei Weisen dann verstehen (Heckel 2013): zum einen, ich nehme mir mein Leben, indem ich mich Tod saufe oder zum anderen ich nehme mir mein Leben, dass ich ohnmächtig gegenüber der Sucht bin und trotzdem leben kann und genau dadurch die Sucht gebrochen ist (die Anonymen Alkoholiker sehen als ersten Schritt „Anerkennen, dass man seinem eigenen Problem gegenüber machtlos ist.“) Diese zweite Form sich das Leben zu nehmen ist zutiefst christlich. Und vielleicht hat deswegen Jesus auch Sünder und Zecher vor allem gesucht, weil sie schon eine Ahnung hatten, worum es geht. Denn der Spießbürger wird von beiden Formen, sich das Leben zu nehmen, nichts ahnen, sondern im stand-by-Modus des heideggerschen „Man“ dahinsiechen. Man muss an diesem Abgrund ganz existentiell angekommen sein, so tief in der Gosse liegen, dass man wirklich diese Entscheidung treffen muss in welcher Form man sich das Leben nehmen will. Und beide müssen gleich wahrscheinlich sein, denn nur aus einer wirklichen Verzweifelung und Ohnmacht heraus, wirklich verenden zu wollen und dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, tut sich erst die Option auf in diese Ohnmacht hineinzusterben oder besser sich loszulassen in diesen Abgrund (Doppelfeld 1996). Dies ist die Ausgangslage einer Nachfolge Christi und dann kann man die Nachfolge auch mit aller Tiefe existentiell wirklich nachvollziehen: „Der Liebhaber des gekreuzigten Christus ist ganz aus sich herausgesprungen, hat sich ganz gelassen; er kehrt nicht mehr zu sich zurück und reflektiert auf sich selber, er bleibt unter dem Kreuz stehen. Deshalb interessiert es ihn eigentlich nicht mehr, ob in seinem Tun, in diesem oder jenem Tun, Gott objektiv mehr geehrt wird und das eigene Heil sich reicher entfaltet. Der Mensch der dritten Weise der Demut hat von sich selbst ganz abgesehen und steht als Nachfolger Christi in der unbedingten Verfügung Gottes.“ (Rahner 1965: 201) Aus der Entscheidung (wie sie z.B. die Sucht darstellt) ins Leben hineinzusterben, findet immer wieder die Kreuzesnachfolge statt. Die Überwindung von Süchten und Anerkennung der eigenen Ohnmacht, sind immer viele kleine Sprünge in diese Richtung, es ist ein Einüben in den großen Sprung ins Kreuz, wo immer mehr von meinem Ego auf der Strecke bleibt, so dass ich immer nackter werden und so verstanden ist „die Göttliche Liebe wesentlich [.] ‚Abstieg’ (wie das christliche Wesen der Demut Abstieg ist). ‚Verähnlichung‘ mit ,Christo dem Armen in Armut’ in ,Schmach mit Christo dem Schmach-überfüllten’ als ,eitler Tor für Christus, der zuerst gehalten ward dafür’, hierin ist es eben das eigentliche Eins mit der Göttlichen Liebe als der ,absteigenden’, ja der ‚gegenseitige Austauschs zwischen Liebe Gottes und Liebe des Menschen, wie er in der Menschwerdung konkret ist: da Gott uns aus dem Seinigen Seine Fülle reicht, indem Er aus dem Unseren unser Nichts empfängt.“ (Przywara 1960: 25) Przywara versteht diese Demut auch als καταλλαγή (Przywara 1960: 13f.), also als ein Aussöhnung und Umtausch in einen neuen Menschen. Aber dies kann erst aus dem eigenen Nichts heraus geschehen, einem Nichts, was aus der absoluten Ohnmacht und Verzweiflung kommt, das als Ich den eigenen Abgrund geschaut hat und in diesem haltlosen Sprung in diesen beängstigend dunklen Abgrund, der gleichzeitig unendlich anzieht, vollzieht sich die καταλλαγή. Und kein anderer als Nietzsche hat gerade diese Schwelle erfahren, wie kaum ein Theologe: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.“ (Nietzsche 1993: 98)


Przywara versteht diese ohnmächtige Demut als den grundlegenden Aspekt für einen wesentlichen Zugang zu Gott, bzw. dem eigenen Öffnen für Gott, ein Freiwerden für Gott, dass er sich in mir ereignen kann: „Ja gerade so erscheint in der Demut am deutlichsten das, was nach Thomas das ,Regulativ der Demut’ ist: die ‚Erkenntnis des eigenen Versagens‘ (S. th. 2, 2, q. 161, a. 2 corp.). Indem so die Demut in der Demütigung schmerzhaft sich durchgebiert, wird geboren das einfache Auge der Richtung (nr. 169): Gott, - nicht Ich.“ (Przywara 1939: 173) Dieses sich ganz in Gott hingeben, ist der Weg, der durch die ersten beiden Formen der Demut in die Dritte führt. Es geht immer weniger um ein Ich, sondern wie das Fundament in den Exerzitien formuliert: „Der Mensch ist geschaffen, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen“ und erst dann geht es darum „und mittels dessen seine Seele zu retten“ (Loyola 1998: 110) Diese Rangfolge wir erst in der dritte Form erreicht, denn selbst in der zweiten ist zwar die Grundausrichtung auf Gott da, aber an erster Stelle steht immer das eigene Ich, dass gerettet werden soll und dies seiner eigenen Leistungen in Lebensführung und theologischer Gelehrsamkeit und Spitzfindigkeit zu erreichen versucht. „Eben darum aber hat in dem Verhältnis zwischen den beiden ersten Weisen der Demut und der dritten stärker statt, was den Glaubensakt kennzeichnet: daß er zwar in Gründen seine Rechtfertigung vor der Vernunft habe, aber nicht als Folgerung aus ihnen sich vollziehe, sondern unmittelbar von Gott gezogen und unmittelbar zu Gott hin sich bewegend (in der „gratia" und dem ,motivum increatum’ der ‚virtus theologica‘), - und daß überdies auch der konkrete Weg zum Glauben vom ersten leisesten Antrieb her ‚Gabe der Gnade‘ sei (Denz 179 180). In diesem (aber gesteigerten) Sinn ist die Dritte Weise im Verhältnis zu den beiden ersten Abbruch und Absprung. Soweit als sie selbst bereits in den beiden ersten Weisen anhebt und ihre letzte, lenkende Form ist (weil es eben in der Ordnung der Erlösung als wirkliche Demut nur die Demut der Erlösung gibt), insoweit ist die Dritte Weise ein durch die beiden ersten innerlich vorbereiteter Abbruch und Absprung. Soweit aber die beiden ersten Weisen unterscheidend die Form von Gerechtigkeit (Erste Weise) und Weisheit (Zweite Weise) tragen, insoweit bedeutet die Dritte Weise eben genau das, was Evangelium, Paulusbriefe und Schriften Augustins als den Gegensatz des Neuen zum Alten Bund scharf auszeichnen: Rechtskandal des Kreuzes gegen Gerechtigkeit des Gesetzes, Narrentum des Kreuzes gegen Vernünftigkeit der Weisheit, und hierin Skandal und Narrentum der Ohnmacht und Schande und des Nichts der Liebe gegen die Sattheit von Gerechtigkeit und Weisheit (Mt 5, 1-13; 9, 9-13; 11, 1-30; 1 Kor 1-2; 4,7 bis 13 usw.).“ (Przywara 1939: 181f.) Hier kollabieren Gesetz und Weisheit in sich selbst. In Gott werden sie als Paradoxie erfahrbar und sind als Mensch nur als närrische Ohnmacht lebbar, die sich im Nichts der Liebe auflöst, ganz ohne Halt und eigenes Ziel, so dass selbst das eigene „Seelenheil“ hinten angesetzt wird und nur bestenfalls eine Folge des sich Fügens in das Ganze des Willens Gottes ist.


Die dritte Weise der Demut lässt uns wirklich erst Nachfolge Christi sein und brechen mit dem ersten halben Weg der ersten und zweiten Demut, wofür noch das Alte Testamtent steht (es ist etwas parallel wie im Buddhismus Hinayana zum Mahayana steht). Es geht nicht mehr um Gelehrsamkeit, sondern um reine Hingabe und Aufgabe und haltlosen Sprung in Gott hinein. „Eben so ist entscheidend überwunden und ausgebrannt alles Grübeln und Wissen und Rechnen über ein Gleich im Dienst Gottes, Unseres Herrn, wie es noch in der Zweiten Weise war. Ihren Abbruch und Absprung vollzieht die Dritte Weise darum unmittelbar Aug in Aug zu diesem Gleich: indem gleich ist (hierbei) Lobpreis und Glorie der Göttlichen Majestät, - eben dann doch mehr Armut mit Christo, dem Armen, als Reichtum usw. Und in diesem Sprung aus der Höhe eines verfügenden Wissens um Gott nicht nur hinunter in Unwissenheit, sondern in ‚Narrentum‘ - hierin ist es der Sprung mitten ins Herz der Unbegreiflichkeit des allein-verfügenden Heiligsten Willens der souveränen Göttlichen Majestät (nr. 5), hilflos blind von Ihrem Herzschlag ‚getrieben‘ zu werden (Röm 8, I4), nur sehend das Jeweils mehr Ihm nachfolgen und …dienen, nichts wissend über Gleich oder Besser Seines Dienstes: ob es (nun) gleicher oder besserer Dienst und Lobpreis wäre zu Seiner Göttlichen Majestät. Nicht nur muß alles ordnende Gleich aufgezehrt werden in das Jeweils-mehr des Dienstes des jeweils-größeren Gottes, sondern gerade dieses Jeweils-mehr selber hat aufzugehen in die alleinige Verfügung des Gottes, der als ‚Gott über alles hinaus‘ innerlichst das Jeweils-mehr ist. So allein gebiert sich in den Drei Weisen der Demut das einfache Auge unserer Richtung (nr. 169): jeweils größeres Untergehen in den jeweils größeren Gott. Denn gerade dies ist das tiefste Unten der Demut: nicht bedingt durch das Unten als solches, sondern durch das jeweils größere Oben des jeweils übersteigenderen Gottes, und jeweils größeres Oben auch und gerade im ‚je Unteren‘ (Eph 4, 9) der Erlösung. Das einfache Auge unserer Richtung, von dem aus alle Frage der Erwählungen klar ist (nr. 169), heißt Demut, weil gerade die Dritte Weise der Demut ‚Demut in der Demut‘ ist: je größeres Sichvergeringern unserer, die Demut Gottes mit-vollziehenden, Demut vor eben dem Je-immer-größer eben dieser Demut. Denn das Geheimnis der Erlösung heißt zuletzt: ‚Gott alles in allem‘ (I Kor 15, 28).“ (Przywara 1939: 184) In der dritten Demut geht es um das Gleich und die Indifferenz, so dass ich weder Armut noch Reichtum, Gesundheit noch Krankheit vorziehe, wie Ignatius im Fundament formuliert (Ignatius 1998: 110ff.) Die Pharisäer kehren hiervon immer wieder ab, weil es ihnen um Anerkennung geht: vor Gott in ihrem tugendhaften Leben und auch von ihm ein Do et Des erwarten, aber oft auch gesellschaftliche Anerkennung für ihren Stand. Gut katholisch gibt es hier meist zwei Herangehensweisen: die barocke Limburger Version, die sagt man soll auch nicht den Reichtum verschmähen und dies zur Ehre Gottes und dem eigenen Bischofsstand umdeuten oder die befreiungstheologische Version, indem man als Papst ins Gästehaus zieht. Letzteres hat durchaus große Tradition im Katholischen, zum einen als Reaktion auf die Dekadenz von Kirche und Politik oder aber einfach als sinnvolle Anpassung an schwierige Lebensverhältnisse. So wird mehr die Geißelung „gefeiert“ und mit Jesus geteilt, als sein Gelage mit den Zechern, Sündern, Zöllnern und Nutten. Warum eigentlich? Brauchen wir dieses „mehr Armut mit Christo, dem Armen, als Reichtum usw.“ (siehe Zitat oben)? Oder muss Indifferenz tatsächlich ein Gleich beider Seiten bedeuten? Zumal ein Gleich, was gerade ich nicht entscheide, sondern was ich zugewiesen erhalte (was allerdings sicher nicht die Legitimation von sozialer Ungleichheit ist, sondern dort wohl in der Regel der Auftrag besteht, diese von denen mit mehr Macht und Reichtum immer mehr zu lindern)? 


Indifferenz ist damit ein radikales Gleich, wo es keine Präferenz gibt. weder für Armut noch für Reichtum etc., und vor allem die Wahl nicht beim eigenen Ego liegt. So muss die Stelle verstanden werden: „Ihr urteilt nur auf menschliche (leibliche) Art, ich selber urteile dagegen gar nicht.“ (Joh 8,15) Die Pharisäer urteilen immer aus ihrem Ego, auch wenn sie dieses Ego einer Gottesfürchtigkeit unterwerfen. Sie bleiben darin in ihrem Ego gefangen. Jesus tut gerade dies nicht, sondern gibt sich auf in eine Indifferenz, die alles in die Hände des Vaters legt. Wo das Urteil im Hören auf seinen Ruf ist, der sich aber eben nicht in den Schriften direkt findet, sondern eher ein Wink und Ahnen ist, wie es vielleicht der Nicht-Theologe Heidegger am eindrücklichsten erkundet hat. Dann besteht das christliche Narrentum auch nicht mehr darin, dass man die Armut dem Reichtum vorzieht oder dass man Überzeugungen für wahr hält, wie dass sich alle tugendhaften Katholiken nach dem Tod zu einem ewigen Familienfest im Himmel wieder sehen, sondern ein solcher Narr bin, der sich immer blinder und haltloser in diesen Abgrund des immer unbegreiflicher werdenden Gott wirft. Demut kann damit auch eine andere Bedeutung erhalten. So kann Demut einfach nur das negative Erniedrigen bedeuten, indem jemand gedemütigt wird (und ggf. hieraus sogar Spaß hat). So hat auch das Christentum in weiten Teilen die Demut vor Gott empfunden. Aber vielleicht ist die Grundstimmung gerade bei der dritten Demut eine ganz andere. Vielleicht lässt sich ein viel tieferer Zugang erschließen, wenn man Demut nicht aus deinem Knechtsverhältnis herleitet, sondern von der Demut die man gegenüber der Natur (also etwa einer massiven Berglandschaft oder dem offenen Meer empfindet) oder gegenüber großer Kunst. Denn gegenüber einem Berg komme ich gar nicht auf die Idee, mich wie der Knecht vor dem Herrn klein zu machen, erniedrigt zu werden, wie Dreck behandelt zu werden - also gedemütigt zu werden. Trotzdem empfinde ich Demut vor der Größe, Unzugänglichkeit und Ewigkeit dieses Berges. Und auch eine Bach-Kantate erniedrigt mich nicht, als ihr Knecht und lässt mich trotzdem klein und demütig erscheinen vor ihrer unendlichen Schönheit. 


Vielleicht hat diese Grundstimmung Rilke sehr gut erfasst, der seine Duiensier Elegien genau damit  beginnen lässt und so „einstimmt“: 


„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme 

einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem 

stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, 

und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

 uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“ 

(Rilke 2003/3: 173) 


Rilke steigert hier die Kategorie des Erhabenen, wie sie vor allem Kant und Schiller ausgearbeitet haben, noch eine Stufe weiter. Es ist so wie die Betrachtung eines Berges, der sich im Sonnenschein in seiner Erhabenheit zeigt oder auch ein Präludium und Fuge im Wohltemperierten Klavier. Zieht nun aber ein Gewitter am Berg auf, so vertieft sich diese Erhabenheit noch einmal ins Gewaltige und genauso bei Bach, dessen Musik auch diese Gewaltigkeit und Wucht erhält, wenn er etwa die Passion Christi „vertont“. Und gerade diese Gewaltigkeit bindet noch einmal mehr, so dass man eigentlich nicht wegschauen kann, wenn das Gewitter am Berg tobt - vorausgesetzt man fühlt sich sicher in seiner Hütte. Aber vielleicht ahnen wir genau deswegen hier etwas ganz Essentielles, was wir sonst ganz hervorragend verdrängen: denn auch unsere angeblich so sicheren Hütten geben nur vordergründige Sicherheit und verdecken, dass wir gar nicht so fest verankert sind. Gerade unsere „Hütten“ und Denkgebäude, die wir konstruieren und bauen, um die Welt zu deuten, sind oft nicht so stabil, wie sie aussehen. So bauen wir eine unglaubliche Aura etwa um die Medizin, die sicherlich gerade in den letzten 100-150 Jahren enorme Fortschritte zur Verbesserung des Lebens erreicht hat, aber dennoch verstehen die Mediziner immer noch nur sehr wenig. Und jeder wird vermutlich eine Situation kennen, wo selbst im Krankenhaus die Ärzte ratlos waren und eher nach dem Prinzip (eines erfahrenen) trial and error anstatt von wissenschaftlicher Erkenntnis belegten Verfahrens agieren. Aber spätestens beim Tod hört dann tatsächlich jegliches Wissen auf. Für Rilke ist diese Erkenntnis ganz wesentlich, so dass gerade die Wissenschaftler, Gelehrten und Erfinder dies eigentlich immer schon ahnen, „die findigen Tiere merken es schon, / daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt.“ Unsere Erkenntnisse sind nicht Einblicke in ein Wesen, sondern nur die Beobachtungen von Regelmäßigkeiten, eher Korrelationen anstatt Kausalitäten, „Es bleibt uns vielleicht / irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich / wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern / und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, / der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.“ Selbst Kant musste einer Frau eingestehen, die ihm einen Brief geschrieben hatte, weil sie in einer moralischen Zwickmühle gewesen war, dass er auch auf der Basis seiner Ethik hier keine Ausweg bieten kann. Deswegen ist für Paulus diese Demut angesichts unserer Grenzen auch sehr präsent: „Denn nur (Puzzle-)Teilchen ist unser Wissen, und nur Teilchen unsere Glaubens-Überzeugungen.“ (1 Kor, 13,9). Was wir machen ist weitgehend brainfuck, der für uns so unglaublich wichtig zu sein scheint, dessen Grenzen und Oberflächlichkeit aber im Augenblick einer wahren Demut vor diesem Abgrund ahnen. Dies wird nicht weniger auf die Pharisäer zutreffen, obwohl sie stark daran arbeiten, genau dies zu verdrängen und sich darzustellen, dass sie den Willen Gottes kennen und glauben, in der Lage zu sein, gerechte Urteile zu fällen. 


Dagegen erkennt das Göttliche in Jesus genau dies, nämlich die Ohnmacht, die er als Mensch hat, und sich in seinen Urteilen aber auch in seinem ganzen Wesen in Gott fallen lässt. Jesus löst diese Ohnmacht bei den Grenzen unseres eigenen Wissens und Sicherheit dahin auf, dass er diese nicht in Weisheit und Gelehrsamkeit begreift und festlegt, sondern in der Liebe gründet. Aber Rilke erkennt, dass selbst eine tiefe Liebe zwischen zwei Menschen nur notdürftig diesen Abgrund verdeckt, den wir immer wieder in der Demut ahnen. „O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum / uns am Angesicht zehrt -, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, / sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen / mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? / Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.“ Selbst die menschliche Liebe ist bei Rilke zum Scheitern verurteilt. Aber sieht Rilke einen Ausweg aus diesem Abgrund? So schreibt der Rilke-Forscher Engel zur Ersten Elegie: „Am Leitmotiv des ‚Brauchens‘ (Vers 10, 26, 86, 89) werden in Bilder- und Beispielreihungen die Probleme der condition humaine entfaltet. Wie wenig wir fähig sind, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen, zeigt sich vor allem an den großen Erfahrungen, in denen unser ‚Herz‘ die Grenzen der ‚gedeuteten Welt‘ (Vers 13) unübersehbar überschreitet: im Erlebnis der Nacht (Vers 18-21, 26f., 33-35), des Frühlings, der Naturelemente (Vers 18, 27 f.), der Musik (Vers 29 f.) und, natürlich, der Liebe (Vers 21f., 36-59). Diese Gefühle sind zu groß für uns, entreißen uns auf erschreckende Weise dem Bereich des Vertrauten, der Gewohnheit (Vers 13-16), so dass wir eher bemüht sind, sie wieder einzugrenzen und zu beschränken - etwa durch ihre Fixierung auf ein bestimmtes menschliches Gegenüber, über das sie doch weit hinausreichen (Vers 22, 31-33). Von uns unbewältigt und ungewollt, von keinem Gegenüber aufgenommen und bewahrt, scheitert unser ‚Herzwerk‘ so auf doppelte Weise. Doch verharrt die Elegie nicht ganz im Negativen, sondern feiert zwei Beispiele gelungener Entgrenzung: die ‚großen Liebenden‘ (Vers 36-53) und die ‚Jungverstorbenen‘ (Vers 54-88).“ (In: Rilke 2003/3: 299) 


Was Rilke hier mit den großen Liebenden im Blick hat, kommt aus dem gleichen Grund, aus dem auch Jesus αγάπη versteht. Aber wir verdecken uns diesen Grund ständig durch unser eigenes Geschwätz, was wir mit anderen führen aber auch mit uns selbst die ganze Zeit in unserem Kopf. Dabei ist dieser Grund immer da, ganz nah, wenn ich nur offen hinschaue und nicht über alles meinen brainfuck lege, der alles sortiert, etikettiert und damit totgeschlagen ablegt und man nur noch darin das eigene langweilige Ego erkennt - und eben nicht die Wucht des Abgrundes realisiert. Die Zen-Meister betonen immer, dass die Buddha-Natur nicht weit weg zu suchen ist, sondern sie immer ganz nah ist, in jedem Moment zugänglich - nämlich in dir drin und eigentlich auch indem, was dir gerade ganz alltäglich begegnet. Auch Rilke schreibt weiter, „da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, / gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. / Aber bewältigtest du's? Warst du nicht immer / noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles / eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, / da doch die großen fremden Gedanken bei dir / aus und ein gehn“. Wir verstellen uns das Wichtigste indem wir dauernd unsere anscheinend so wichtigen und großen Gedanken begrübeln. Und doch ahnt man etwas und es gibt diese leise Sehnsucht, dass da noch etwas anderes sein muss und manchmal bricht diese Ahnung auch deutlicher durch, weil man den Abgrund erfährt: indem man demütig vor der Natur steht, demütig eine große Liebe empfängt und staunend daran teilnehmen darf oder demütig im Entsetzen über den Tod. Und auch Rilke schließt hier unmittelbar die Verse an: „Sehnt es dich aber, so singen die Liebenden; lange / noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl.“ Zwar erfahren die Liebenden deutlich mehr von dieser Sehnsucht, als der Karriere-Banker oder -Wissenschaftler, da sie in der Lieben zueinander ineinander aufgehen, sie lernen sich gegenseitig selbstlos zu beschenken und wirklich Dank zu geben und anzunehmen. Aber dies bleibt auch nur eine Vorstufe, denn für Rilke steht nicht das Traumpaar im Mittelpunkt, sondern die gescheiterten Liebenden. „Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du / so viel liebender fandst als die Gestillten.“ Aber warum? Rilke bringt als Gegenpol hierzu den Helden, „es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm / nur ein Vorwand, zu sein“, der zwar auch oft nahe am Abgrund ist, aber auch dort nur sein möchte, um jemand zu sein. Die Liebenden dagegen haben den ersten Schritt vom Sein und von dem Jemand-Sein-möchten weg gemacht. Aber dennoch wollen sie noch jemand sein - sie wollen sein für den Geliebten! Aber die Verlassenen, die tief diese Liebe erfahren und dann verloren haben, gehen nicht unbedingt danach in der Karriere auf, dafür haben sie sich oft davon viel zu weit entfernt und haben die Tür schon einen Spalt geöffnet, wo dann nur noch ein Schritt fehlt in diesen Abgrund dann ganz einzutreten und dieses Ego wieder ganz in die Natur zurückgenommen wird. „Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur / in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, / dieses zu leisten.“ Diese Grundstimmung hat vielleicht am besten Hölderlin in „Menons Klage um Diotima“ ins Wort gebracht, so schreibt er an einer Stelle: „Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge / Mir genommen, auch mich hab' ich verloren mit ihr. / Darum irr' ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich / Leben, und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.“ (Hölderlin 2004/9: 133) Hier hat der Liebenden nicht nur seine Geliebte verloren, sondern auch sich selbst und auch sein ganzes Haus mit seiner „gedeuteten Welt“ (Rilke) ist ihm nun öde, so dass sich seine ganze Welt entzieht. Wie im Höhlengleichnis sind Schatten und auch Feuer öde geworden und er macht sich auf zum Höhlenausgang, hin zum Licht. Und diesen gewaltsamen Aufbruch, ohne konkretes Ziel und ohne Ego, wagen am ehesten die Verlassenen. Michael von Brück schreibt zu dieser Passage in der ersten Elegie: „Rilkes Verständnis der Liebe kann missverstanden werden: Das Ablösen von der Geliebten, ‚dass wir liebend uns vom Geliebten befrein‘ bedeutet nicht, den Geliebten/die Geliebte zu verlassen, auch nicht nur das Ideal einer ‚besitzlosen Liebe', sondern eine Änderung der inneren Haltung. Rilke meint damit, dass die Aktivität der Liebe nicht zu einem passiven Empfangen bzw. einer Anspruchshaltung werden darf, dass vielmehr eine aktive Resonanz entstehe, die keine Grenzen am jeweiligen, ja immer nur begrenzt wahrgenommenen ‚Du‘ habe. Er warnt, dass wir ‚nicht der Gefangene der eigenen perspektivischen Haltung‘ werden? - Steiner zitiert dazu ein Wort aus dem ‚Malte‘: ‚Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, dass sie überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit.’ Es geht Rilke um das, was man ‚intransitive Liebe‘ genannt hat, eine Liebe, die nicht ein Objekt verschlingen will, sondern die sich als Strom durch dieses Objekt (die Geliebte) hindurch in die offene Weite ausbreitet. Es ist eine aktive Liebesdynamik, die in Resonanz mit dem Ganzen ist, weil sie die fokussierende Einengung, alles aus der Ich-Perspektive zu sehen, überwunden hat. Darum sei die Nicht-Erfülltheit der Liebe zwar nicht der Garant, aber eine gute Chance dafür, dass sie am Brennen bleibt.“ (von Brück 2015: 63) Es ist dieses Brennen, dass erst einen wahrhaften Sprung ermöglicht, es ist diese Gewalt (βίασ), die einen auf dem Weg zum Höhlenausgang aufbrechen lassen. Und so schreibt Rilke weiter: „Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen / fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend / uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: / wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung / mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.“


Dieser ganze Gedichtabschnitt schließt Rilke damit, dass es kein Bleiben gibt - auch nicht in der Liebe zwischen zwei Menschen. Und dies ist auch der Übergang und die Verbindung zum zweiten Beispiel was der Germanist Engler als positiven Ausgang der Elegie erkennt: die Jungverstorbenen. Es ist aber ein dunkler, wenig greifbarer Abschnitt, den Rilke hier dichtet. Aber dieses Unbegreifliche entspricht eben auch diesem Bereich. Rilke spricht von Stimmen, die man mit dem Herzen hören muss: „das Wehende höre, / die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. / Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.“ Diese jungen Toten bedeuten immer ein Unrecht nach weltlichen Maßstäben, da ihnen ihr Leben genommen wurde, obwohl sie eigentlich hätten noch weiterleben können und noch Zukunft vor sich hatten. Dieses Unrecht klagt aus der Welt herauf, heute genauso wie zur Zeit Jesus oder Homers oder Buddhas. „Aber das Wehende höre, / die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.“ Eigentlich kann man gegen dieses Unrecht nur aufspringen, gegen Menschen die aus Gier (ob Geld oder Macht) die Menschen um ihr Leben berauben. Aber was ist mit Krankheiten oder unverschuldeten Unfällen? Muss da nicht die Anklage gegen den Höchsten gehen, gegen Gott? Aber Rilke zieht paradoxerweise die entgegengesetzte Konsequenz. Denn sowohl die Heiligen hören genau diese Klage der jungen Toten und beten trotzdem weiter, aber nicht zu einem Gott, der dies einfach hinnimmt, dieses Unrecht akzeptiert und einpreist, sozusagen als natürlichen Schwund, der in der Gesamtbilanz in Ordnung ist. Aber auch nicht ein Gott der ein grausames Schauspiel genießt, sondern zu einem Gott, der diese Stimmen der Toten ebenfalls nicht erträgt. „Höre, mein Herz, wie sonst nur / Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf / aufhob vom Boden; sie aber knieten, / Unmögliche, weiter und achtetens nicht: / So waren sie hörend. / Nicht, daß du Gottes ertrügest / die Stimme, bei weitem.“ Denn diese Toten wollen keine Rache und auch kein menschliches Recht, davon haben sie sich immer mehr schon entwöhnt. „Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts / Anschein abtun, der ihrer Geister / reine Bewegung manchmal ein wenig behindert.“ Damit sind die jungen Toten nicht nur ein zweites Beispiel, sondern Rilke geht hier eine Stufe weiter als bei den verlassenen Liebenden. Er versetzt hier direkt in den Abgrund, der alle Bindungen und sei es die des Rechts und Unrechts fahren lässt und einen Sprung erahnen lässt in eine reine Bewegung hinein. 


Diese reine Bewegung ist aber nicht etwas, wo Rilke spekuliert, wie es den Toten geht, sondern es ist der Zustand in dem der verlassene Liebende immer weiter gegangen ist. Im Zen nennt man dies, den großen Tod sterben, was den Tod in die Erleuchtung hinein bedeutet, im Gegensatz zum kleinen Tod, der einfach nur das physische Sterben wäre. Aus dieser Perspektive muss dann auch das Folgende gelesen werden. „Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, / […] und selbst den eigenen Namen / wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.“ Es ist eine Freiheit von allem weltlichen oder vielleicht noch nicht Freiheit, weil dies zu viel wäre, eher eine Gelassenheit. Eine Gelassenheit, die Unterscheidungen, die wir kontinuierlich treffen (draw a distinction) zwischen gut/schlecht, angenehm/unangenehm, gewünscht/unerwünscht, recht/unrecht diese nicht mehr so fest zu nehmen, sondern als fluide zu betrachten und damit ein ständiges „crossen“ zu ermöglichen (um weiter in der Begrifflichkeit von Spencer Brown zu bleiben). „Aber Lebendige machen / alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. / Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter / Lebenden gehn oder Toten.“ Auch von Brück liest den Abschluss der Elegie in diese Richtung, dass es bei den Jungerstorbenen um uns (noch) Lebende geht: „Es ist schwer, die ‚Entwöhnung’ von Gewohnheiten zu erleben, aber heilsam. Denn der Tod als letztes Loslassen (der Einzeldinge) muss bewältigt sein, um frei zu werden für den offenen Bezug. Das schließt ein Aufgeben falscher Zukunftsbezogenheit ein (‚Wünsche nicht weiterzuwünschen‘), um das Erleben des Jetzt zu ermöglichen. Ein weiterer Aspekt dieser dichten Verse ist die Möglichkeit des Erwachsen-Werdens in der Jenseitswelt, d. h. die Dynamik der Reifung zur Selbstständigkeit geht weiter und wird analog zum Entwachsen von der Mutterbrust gedacht. Die Toten sind in einem Doppelzustand (lebend und tot), in Analogie zu den Engeln: Nicht-Dualität, die ‚ewige Strömung’ durchfließt und verbindet beide Formen. Sie ‚übertönt‘ die Dissonanz. Die Toten brauchen uns nicht mehr, auch nicht die Totenrituale, die sie ernähren und stärken und geleiten sollen, denn die Toten werden immer mehr den Engeln gleich, die nicht ‚bedürfen‘ und auch nicht ‚reagieren‘. Aber wir, 'könnten wir sein ohne sie’? Steiner formuliert prägnant: ‚Wir haben sie nötig, weil wir in der gedeuteten Welt verkrustet, d.h. in den Denkkategorien und Weltanschauungsschemata festgefahren sind. Erst in der Erschütterung durch die Geheimnisse des Todes zerbrechen diese Krusten und wird das Mysterium des Lebens, das im Offenen ist, wieder offenbar.’ Der Tod also als heilsame Erschütterung, unsere banale Gewohnheitswelt zu durchbrechen, denn er erst gibt Bedeutung, indem er das Gelebte in den universalen Bezug stellt.“ (von Brück 2015: 68f.) Es ist dieser Raum wo das Leben dem Tod begegnet und erst in dieser Begegnung wahrhaft zum Leben wird. Ein Leben das direkt aus der Tiefe des Geheimnisses schöpft und nicht mehr an unseren seichten Konventionen einer gedeuteten Welt sich klammert.  Und so sind Rilkes letzte Verse der Elegie: „daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling / plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene / Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.“ Bei dem Jüngling kann man hier auch an Hölderlins Friedensfürst denken oder an Buddha Shakyamuni oder auch an Jesus. Dies ist der Punkt wo sich alle treffen können, auch wenn sie auf ganz unterschiedlichen Wegen hier hingekommen sind. Und durch diesen Exkurs erschließt sich die dritte Form der Demut auch noch einmal neu in ihrer ganzen Tiefe. So schreibt Karl Rahner zur dritten Form der Demut: „Zumindest im Tod ist der Mensch wirklich der Allerärmste: ausgeleert, ohnmächtig und aller Ehren dieser Welt entblößt wie nirgends sonst. Da ist man wirklich aufs tote Geleise geschoben, da geht unser ganzes Leben mit aller Karriere in die Brüche. Wenn das so ist, dann erscheint der dritte Demutsgrad als übende Vorwegnahme dessen, was in der letzten Stunde Gott jedem Menschen zu tun anbietet: ausgeleert und restlos arm in Christus zu sterben. Will man aber so sterben, wie es der erste Grad der Demut verlangt, dann muß man ein Leben lang dem Tod mit dem Streben nach dem dritten Grad der Demut entgegengegangen sein. Nur mit einer stetigen Annäherung an diesen Grad läßt sich der erste Grad dort ganz vollziehen, wo er wirklich total verlangt wird. Das Leben des Christen ist also unweigerlich eine Mischung der drei Demutsgrade. Was je gerade geübt werden muß, das verfügt letztlich Gott allein.“ (Rahner 1965: 203)

Diese Totenstille der dritten Demut muss man aushalten können und dort hineinwachsen. Denn sie ist keine Ruhe im landläufigen Sinn, sondern gerade höchste Spannung. Viele Menschen suchen heute aber im Christentum und Zen genau das Gegenteil: Entspannende Ruhe und Rettung vor dem Tod. Der Zen-Meister Yuanwu würde sagen: Hat mit der eigentlichen Sache nichts zu tun. Diese klirrende Spannung einer Gelassenheit, die auf dem schmalen Grat zum Abgrund balanciert, ist die Ruhe, die hier gesucht wird. „Die dritte Zeit bedeutet für die menschliche Vernunft Erniedrigung und verweist darin auf Christus, der sich demütig aus allen Außerordentlichkeiten in das ,Schema’ eines ,Menschen wie sonst’ (Phil 2,7) erniedrigte und sich am Karfreitag ganz in das göttliche Eigen hinein preisgab. Unter dem Schweigen von Gott und Seele muß sich der Mensch in dieser ruhigen dritten Zeit abmühen. Es ist eine stille Zeit, in der die natürlichen Fähigkeiten des Menschen nicht über Gott verfügen, sondern Gott sich in sie ,hineinschweigen’ kann, so daß die Entscheidung aller natürlichen Fähigkeiten zur Entscheidung des schweigenden Gottes wird. In diesem Schweigen geschieht für den Menschen das ‚Je mehr‘ des ‚Ausspringens aus sich selbst‘, er sucht nicht mehr nach einem ,’entrückten Eins mit Gott’, sondern stürzt sich hinein in die Demut des ,Menschen vom Staub der Erde’. Nur wo der Mensch jede Eigenmächtigkeit seiner Fähigkeiten und Wünsche aufgegeben hat und ganz aus sich herausgesprungen ist, kann es zur Hoch-Zeit des je größeren Gottes kommen, von dem es heißt: ,Si comprehendis, non est Deus.’“ (Schneider 1987: 62f.) Es ist eine Demut, die nicht mehr über Gott verfügt, indem sie weder in ihn nur das eigenen Wunschdenken projiziert, noch indem durch die Weisheit angenommen wird, dass man dadurch auch nur im Ansatz Gott nahekommt. Es ist eine Demut die leise ist, die keine Bittgebete und keine Gebetsformeln kennt, sondern nur sich im Schweigen für diesen leisen und unberechenbaren Gott öffnet. Es ist dieses Herausspringen aus sich selbst und nur noch diese Bereitschaft für Gott zu leben. Das ist der Quell aus dem Jesus lebt und deshalb kann er sagen, dass er gar nicht urteilt, denn die Urteile, die er spricht, kommen von Gott, für die er sich nur ganz schweigend geöffnet hat. „Angeblich ‚mache er sich selbst zu Gott‘ [so der Vorwurf der Juden]. Tatsächlich aber, erklärt Jesus, ist er der gesandte Sohn Gottes.“ (Söding 2011: 398)

Jeder fängt mal klein an - so wie wir. Aus einer gemeinsamen Vision haben wir zusammen Schritt für Schritt etwas Großes gemacht. Darauf sind wir stolz.

Kapitel 8, 21-29

Jesus spitzt seine Rede weiter zu und das Missverständnis der Juden wird damit noch weiter deutlich - aber vielleicht auch unser Missverständnis, wenn wir den Text lesen. Die Juden gehen davon aus, dass Jesus sich umbringen will, wir Christen gehen davon aus, dass er seinen physischen Tod am Kreuz meint und dass wir angesichts unseres sündigen Lebens es gar nicht schaffen, so frei in den Tod zu gehen, wie Jesus dies am Kreuz macht.  Dies hat uns beispielhaft schon Petrus vorgemacht, der sagt, „Müsste ich mit dir mitsterben, ich würde dich nicht verleugnen.“ (Mk 14, 31), nur um dann auch ohne direkte Bedrohung ein paar Stunden später dreimal zu verleugnen. Aber das Mitsterben am Kreuz hat Jesus von Petrus gar nicht verlangt, und er verlangt dies auch nicht von uns. Es geht auch nicht um eine „Abkürzung“, dass man durch ein moralisches Leben und die Vermeidung von Sünden und Gesetzesübertretungen dann direkt in den Himmel kommt, ohne die Dunkelheit des Kreuzes erleben zu müssen, weil man ja die Hoffnung hat, dass man danach weiterlebt, nur noch besser und sorgenfreier als vorher im Himmel. Wenn man dies so versteht, können wir Jesus auch nicht folgen, denn wir halten weiter an unserem Ich fest und missbrauchen Gott dafür, unsere Wünsche und Erwartungen zu erfüllen und sind nicht so leer und offen, dass wir uns in seinen Wünschen aufgehen lassen. Dieses Fadenscheinige und Kindische: Wenn ich jetzt gerade mal lieb bin, machst du dafür was ich will.  Hans Joas hat den Geist, der hier weht, deutlich besser erfasst, wenn er sich gegen eine Kirche als Moralagentur wehrt: „Während wir uns den moralgeleiteten Menschen als einen Hochleistungsathleten vorstellen müssen – so frei nach William James –, der sich auf seinen Willen konzentriert, wird der religiöse oder überhaupt ein von Idealen geleiteter Mensch von einer Leidenschaft getragen. Natürlich kann solche Leidenschaft dann auch zur freudigen Erfüllung moralischer Pflichten motivieren, aber das macht sie nicht selbst zur Moral.“ (Joas 2022: 198f)

Vielleicht ist diese Unterscheidung bereits im griechischen Begriff ἁμαρτία enthalten, den wir in der Regel mit Sünde übersetzen. Diese Einengung auf Sünde, die wir mit dem moralgeleiteten Hochleistungsathleten verbinden, ist allerdings eine spätere kirchliche Verengung dieses Begriffes. Für die Griechen war die ἁμαρτία in erster Linie ein Fehlen oder ein Verfehlen des Zieles. Wenn man zur eigentlichen Bedeutung des Wortes ἁμαρτία zurückgeht, kann man zwar nachvollziehen, dass dies dafür passt, was Kirche als moralisch verstandene Sünde erfasst, nämlich das Verfehle von moralischen Gesetze wie etwa den zehn Geboten. Aber geht man zurück auf den griechischen Begriff und den Bedeutungskontext, den auch Johannes noch selbstverständlich mit gelesen hat, so öffnet ἁμαρτία gleichzeitig wieder unseren Blick, was eigentlich damit gemeint war und ist: nämlich nicht das Verfehlen von verschiedenen moralischen Zielen, sondern das Verfehlen meines einzigen Zieles: meinem Weg zu Gott, denn ich bin „geschaffen, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen“ (Loyola 1998: 110). Allerdings sind die Wege zu Gott, wie jeder Lebensweg, immer anders und so sollte der Fokus auch nicht auf der moralischen Konfektionsware der Kirche liegen, sondern allein darin, wie ich selbst, als individuelle Person, zu diesem letzten Ziel komme. Im Fokus stehen damit nicht meine vielen moralischen Verfehlungen und Sünden im Vergleich zum Moralkodex, sondern meine eine Sünde, nämlich meinen Bezug und meine Liebe zu Gott zu verlieren. So schreibt Schnackenburg zu dieser Stelle: „Was ‚Sünde‘ näherhin ist, wird durch den Spruch von 8, 12 und durch den Wechsel vom Singular zum Plural noch deutlicher. Die eigentliche Sünde, die im Singular angesprochen wird, ist der Unglaube (vgl. 16,9), das bewußte Sich-Weigern, dem Heilbringer zu folgen. Sie ist es deswegen, weil der Mensch, der sich durch seine Sünden (Plural V 24) im Unheilbereich befindet, die einzige Rettungsmöglichkeit ausschlägt, die ihm Gott in seiner erbarmenden Liebe anbietet (vgl. 3, 16-18). Für Joh besteht ein unlöslicher Zusammenhang zwischen der Sündhaftigkeit des Menschen und dem Unglauben (vgl. 3,19-21). Das ist ein Teufelskreis (vgl. 8, 44-47), den der Mensch im Glauben durchbrechen muß, aber auch durchbrechen kann.“ (Schnackenburg 1971: 250f.) Jesus spricht damit in Vers 21 nur von dem eigentlich grundlegenden Verfehlen, nämlich dass man seinen Bezug zu Gott verloren hat bzw. nicht  mit ganzer Kraft lebt (wie Dtn 6, 5 und dem Schema Jisrael). Erst daraus ergeben sich dann im Vers 24 die vielen Sünden, die uns dann moralisch vorgehalten werden können. Aber den eigentlichen Grund haben wir an dieser Stelle schon aus dem Auge verloren, wenn wir die moralische Brille aufhaben. Aber wie Joas in dem Zitat oben schreibt, wir brauchen als erstes die Leidenschaft in der Liebe zu Gott zu leben, und erst daraus ergibt sich dann in der Regel auch ein moralisches Leben - aber eben nicht umgekehrt (und so wird Kirche zurecht in großen Teilen heute wahrgenommen). Dies hat sich genauso beim vorhergehenden Abschnitt gezeigt, es braucht die „ehebrechende“ Frau, die mit Leidenschaft lebt und dann in die Demut der ersten und dann in die zweite kommt. Die Pharisäer, die direkt in der zweiten Form der Demut sind, ohne das Fundament der Leidenschaft des Lebens (und nicht der Gelehrsamkeit) fehlt, hängen blutleer in der Luft und sind noch weiter entfernt als die Frau, die verurteilt werden soll wegen ihrer Sünden durch die moralischen Hochleistungsathleten der Pharisäer.

Auch für Adrienne von Speyr geht es in erster Linie nicht um die einzelnen moralischen Verfehlungen, sondern die eigentliche Sünde liegt allein darin, dass man seinen Lebensweg nicht in und mit Gott lebt, sondern abgewendet von Ihm und nur noch das eigene Ego im Blick hat. So schreibt sie zu Joh 8, 21ff.: „In der Sünde sterben heißt: abgewendet von ihm sterben, seine Liebe in diesem Leben nicht angenommen haben. Er sagt ihnen das nicht als Drohung, sondern als eine Tatsache, an der nichts zu ändern wäre, wenn der Herr nicht wüßte, daß er gekommen ist, um auch sie zu erlösen. Indem er vom Sterben in der Sünde spricht, sieht er, wie groß die Gnade wäre, in ihm, statt in der Sünde zu sterben. Indem er sich den Tod in der Sünde vorstellt, entwirft er im Geiste die Möglichkeit, nicht in der Sünde zu sterben.“ (von Speyr 1949: 201) Von Speyr geht es hier zum einen darum, dass es um eine grundsätzliche Lebensausrichtung geht, d.h. ganz aus Gott oder ganz aus seinem Ego zu leben. Die eigentliche Sünde besteht dann darin, dass man den Sprung vom eigenen Ego in Gott hinein nicht schafft zu vollziehen. Dabei weißt sie darauf hin, dass Jesus dies hier nicht als Drohung macht, so dass er auch hier wieder nicht urteilt (s.o. Joh 8, 15). Sondern er stellt hier nur eine Tatsache fest, aber um genau darin eine Möglichkeit zu eröffnen, um in Gnade diesen Sprung als einen Weg zu eröffnen und hineinzurufen und hineinzuwinken. Hierfür kann man genauso eine zentrale Stellen im Alten Testament heranziehen. So schreibt in Ps 50, 6 der Psalmist, „nur an dir allein habe ich gesündigt“ bzw. besser oder deutlicher übersetzt man aus der Septuaginta: „nur dich habe ich verfehlt, und in Not habe ich mich damit gebracht, wenn ich mich so mit deinen Augen betrachte“ („σοὶ μόνῳ ἥμαρτον, καὶ τὸ πονηρὸν ἐνώπιόν σου ἐποίησα“). Auch hier der gleiche Sachverhalt, dass die Sünde in erster Linie darin besteht, dass man sich nicht an Gott orientiert hat und weniger ob man einzelnen Sachen falsch gemacht hat. Und dass man erst in den Augen Gottes zum Sünder wird. D.h. aber erst wenn ich diesen Sprung vollzogen habe und mich nicht mehr aus meinen Ego, sondern aus Gottes Augen auf mich schaue, kann ich mich überhaupt als „Sünder“ wahrnehmen. Damit vollzieht sich die Erkenntnis der Sünde nicht dadurch, dass ich mein Leben mit etwa den zehn Geboten oder einem mittelalterlichen oder modernen Beichtspiegel abgleiche (dies wäre dann eine rechtliche Perspektive), sondern dass ich aus einer Begegnung mit Gott, mich mit seinen Augen als ganze Person anschauen und nicht auf einzelne Taten (persönliche Perspektive).

Dieser Grundzug ist von Beginn an im Alten Testament so angelegt und kann von Jesus so aufgegriffen werden. So schreibt Hans Urs von Balthasar hierzu: „Nicht nur in Abraham, auch in Mose hat die Glaubenshingabe an den Gott des Bundes den unbedingten Primat vor dem Halten der einzelnen Bundesweisungen (‚Gesetze‘, ‚Gebote‘), eine Einsicht, die die Propheten, Jesaja voran, immerfort einschärfen werden. Die einzelnen feststellbaren Vergehen gegen die Gebote, Vergehen, die sich vorab unmittelbar ins Soziale hinein auswirken und daran ablesbar sind, sind nur Ergebnisse eines Grund-Bösen: Herausgefallen-sein aus dem Bundesverhältnis, Treulosigkeit, Unglaube, Ungehorsam, schuldhaftes ‚Vergessen Gottes‘, Sünde als ‚Unkenntnis Gottes‘, lauter zentrale Worte der Prophetie. Die Grundstruktur der menschlichen Freiheit hält sich evidentermaßen durch: der Autonomie-Pol bemächtigt sich des Transzendenz-Pols“ (Balthasar 1980: 160). Allerdings kann es hier nicht um ein Entweder-Oder gehen, denn man kann oder sollte ein autonomes Ich nicht vollständig in der Transzendenz aufgehen lassen: Gott wird mich bei noch so viel Vertrauen in Ihn nicht vor Corona oder anderen Krankheiten schützen und er wird es mir auch nicht abnehmen, meinen Teil zu einer besseren Welt selber beizutragen - dies habe ich alles selber als Ich, als Ego, zu tun. Deswegen ist ein starkes Ich sicherlich von Gott gewollt. Aber diese Autonomie muss sich auf Gott hin immer wieder öffnen und sich immer wieder verdankend in Ihn zurückgeben, wie ein kontinuierliches Ein- und Ausatmen. „Mit der echten Macht der Person, deren Würde dann klar hervortritt, wenn sie in dieser Autonomie sich zugleich zu verdanken weiß und damit das Bild Gottes in sich erstrahlen läßt, verbindet sich alles, was dieser Person einen echten (personal verantworteten) Machtzuwachs verleiht: erlangtes Wissen und Können, Elternautorität zur Einführung des Kindes in geschichtliche Mitmenschlichkeit, Autorität des Lehrers, des Betriebsleiters usf. Solche personale Machtausübung ist aus dem sozialen Leben nicht wegzudenken und funktioniert dann am besten, wenn sich beim Befehlenden wie beim Gehorchenden die beiden Seiten menschlicher Mächtigkeit (Macht-Güte bzw. Liebe) gleichmäßig ausdrücken. Diese dem personal-sozialen Menschenwesen eignende und in den älteren Kulturen nie ernsthaft angefochtene Machtstruktur kollidiert nun aber in der Neuzeit nicht nur im politischen Sektor, sondern durchgehend mit der Heraufkunft einer Hegemonie der instrumentellen Vernunft, die primär auf Verfügungsgewalt über die Natur ausgerichtet ist und insofern, da sie diese Natur auf bloße Faktizität reduziert, auf den personalen Pol der Verdankung, der Güte grundsätzlich verzichten kann, sich somit als reines Instrument der Macht versteht und betätigt. Heideggers Demonstration, daß die neuzeitliche Metaphysik ihren Höhepunkt (der ihr ganzes Werden demaskiert) in Nietzsches Willen zur Macht findet, kann, als die unverblümteste Darstellung der Lage, nicht beiseite geschoben werden. Descartes als erster gründet die ganze Metaphysik auf das rein vorstellende Subjekt, das sich selbst im Vorstellen als das Seiende gegeben ist; dieses Gründen gibt dem Subjekt die benötigte Gewißheit, um von da aus das Vorgestellte (als das ‚Ausgedehnte‘) wissenschaftlich (‚mathematisch‘) zu beherrschen“ (Balthasar 1980: 142f.). Damit haben wir hier die Konstellation, dass sich die Balance zwischen Autonomie des Ichs und der Transzendenz Gottes zum einen in jedem Menschen immer wieder aufs neue abspielt, wir zum anderen aber auch eine geschichtlich-philosophische Konstellation mit der Neuzeit haben, die auf der Makroebene dieses Verhältnis immer weiter zu einem autonomen Ich verschoben hat. Damit muss jeder Mensch heute deutlich mehr individuell dafür kämpfen, um diesen Tranzdenz-Pol zu erreichen bzw. in sich wiederherzustellen. Man mag einwenden, dass gerade in der Neuzeit der Mensch die größten Fortschritte gemacht hat, um dass irdische Wohl der Menschen zu verbessern (z.B. Sterblichkeitsrate reduziert insbesondere bei Kindern, Hunger, Bildung, Freiheit etc.). Was haben wir damit eigentlich aber aus den Augen verloren? Oder brauchen wir gar nicht diese Balance zwischen Autonomie und Transzendenz, so dass der Weg in die immer größere Autonomie auch der Weg in die immer größere Freiheit ist und damit in immer größeres Glück?

Balthasar verweist auf Heidegger, der diese geschichtliche Konstellation ausgehend von Nietzsche als Willen zur Macht beschrieben hat (bzw. noch zugespitzter als „Wille zum Willen“ (Heidegger 1996, 1996a), wo die Machenschaft des Man die Oberhand gewonnen hat und in dieser Machenschaft der Mensch in einer ganz grundsätzlichen Art irrt. Die Irre ist für Heidegger die Situation des Menschen, wo er die Autonomie seines Egos als alleinigen Bezugspunkt und Grund versucht zu setzen, aber nicht mehr realisiert, dass unser Dasein ein geschenktes Sein ist, das wir als  Ego aber entsprechend gestalten können. „Die Verbergung des verborgenen Seienden im Ganzen waltet in der Entbergung des jeweiligen Seienden, die als Vergessenheit der Verbergung zur Irre wird.“ (Heidegger 1996c: 197) D.h. wir werden in eine Welt als Ganzes hineingeboren bzw. -geworfen, in eine geschichtliche bestimmte Situation, in ein soziales Umfeld von Familie etc. und uns wird Leben gegeben, wonach wir nicht gefragt wurden und wozu wir auch nicht in der Lage dies selbständig festzuhalten (dies machen Krankheiten etwa immer wieder deutlich). Dieses „geschenkte“ Ganze verbergen wir uns weitgehend, indem wir uns an das jeweils Seiende „verlieren“. Indem wir vergessen, dass als letzter Grund hinter unserem ganzen Leben dieses verborgene Geschenk steht, woraus wir leben und wachsen und darauf zugehen, stehen wir nach Heidegger in der Irre. „Die Irre ist das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit. Die Irre öffnet sich als das Offene für jegliches Widerspiel zur wesentlichen Wahrheit. Die Irre ist die offene Stätte und der Grund des Irrtums. Nicht ein vereinzelter Fehler, sondern das Königtum (die Herrschaft) der Geschichte jener in sich verwobenen Verstrickungen aller Weisen des Irrens ist der Irrtum.“ (Heidegger 1996c: 197) Dieses anfängliche Wesen der Wahrheit, was Heidegger vor allem noch bei den Vorsokratikern erkennt, aber auch bei Friedrich Hölderlin, ist das Staunen über das Offene, das überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Die Irre hat gerade dies vergessen, sie verliert sich im Einzelnen. Und in diesem Einzelnen kann sie durchaus alles richtig machen und trotzdem in der Irre sein. Deswegen arbeitet Heidegger auch heraus, dass ein Wahrheitsbegriff der mit der Differenz Richtig/Unrichtig agiert, zwar der unsere abendländische Kultur bestimmende Begriff seit Platon ist, aber nichts mit einem anfänglichen Wesen der Wahrheit zu tun hat. So kann ein Vater alles richtig machen in seiner Karriere und seinen Kindern ein tolles Haus, Klamotten, Sport- und Musikunterricht dadurch ermöglichen, und trotzdem ist er total in der Irre, weil er nicht für seine Kinder einfach da ist.

Aber dies ist sowohl eine persönliche als auch eine geschichtliche Balance, die immer wieder neu getroffen werden muss, so dass zur Offenheit zu ursprünglichen Wahrheit auch notwendigerweise die Irre als ihre andere Seite gehört. „Die Irre, in der jeweils ein geschichtliches Menschentum gehen muß, damit sein Gang irrig sei, fügt wesentlich mit die Offenheit des Daseins. Die Irre durchherrscht den Menschen, indem sie ihn beirrt. Als Beirrung schafft die Irre aber zugleich mit an der Möglichkeit, die der Mensch aus der Ek-sistenz zu heben vermag, sich nicht beirren zu lassen, indem er die Irre selbst erfährt und sich nicht versieht am Geheimnis des Da-seins. Weil die insistente Ek-sistenz des Menschen in der Irre geht und weil die Irre als Beirrung in je einer Weise bedrängt und aus dieser Bedrängnis des Geheimnisses mächtig ist, und zwar als eines vergessenen, deshalb ist der Mensch in der Ek-sistenz seines Daseins dem Walten des Geheimnisses und der Bedrängnis der Irre zumal unterworfen. Er ist in der Not der Nötigung durch das Eine und das Andere. Das volle, sein eigenstes Unwesen einschließende Wesen der Wahrheit hält das Dasein mit dieser ständigen Wende des Hin und Her in die Not.“ (Heidegger 1996c: 197) Heidegger spricht hier sogar von einer Beirrung, was sogar noch einmal deutlich aktiver formuliert ist und einen immer vorhandenen Grundzug des Daseins darstellt, als wenn man nur sagt, dass man sich auch irren kann, wenn man etwas unachtsam oder ungenau ist. Aber gerade dieses aktive Bedrängende der Irre als Beirrung schafft gleichzeitig erst die Möglichkeit sich aus der Irre zu befreien, in die Nähe oder Sehnsucht des eigentlich Seins hinein. Denn in diesem Bedrängnis wird geahnt, dass hierdurch etwas verdrängt und verdeckt wird. Etwas was vergessen werden kann, was dadurch aber nicht verloren geht oder abhanden kommt. Es ist da, als Geheimnis und umso lauter das Geheimnis andrängt, desto lauter muss die Beirrung werden, um es zu vergessen zu machen. Die Not des Menschen besteht nach Heidegger darin, dass wir von der Beirrung genötigt werden, dieses eine tiefe Geheimnis zu vergessen, so dass das Dasein immer wieder vom Geheimnis durch die Beirrung abgelenkt wird.

Heidegger geht es darum, dass man die Bedrängnis durch die Beirrung darin erfährt, dass sie etwas verdrängt und vergessen macht. Dass man das „Dies und jenes“, dass immer Neue als einziges Ziel in seiner Oberfläche erfährt, dass man im Flachen, im Zugänglichen bleibt, wo möglichst viele anschließen können und was nicht mehr viel mit mir zu tun hat. Dies kann nur anbieten von einem zum nächsten Ding zu springen und dies möglichst immer schneller und immer bombastischer… aber genau darin kann sich auch zeigen, dass je mehr dies ins Riesenhafte (wie Heidegger an anderer Stelle dies nennt) sich steigert, doch genau darin hohl bleibt. So haben Filme immer mehr grandiose Special Effects, aber verlieren darüber die Handlung, so dass man sich überwältigt und berauscht fühlt für den Moment, aber eigentlich schal und leer davon zurückgelassen wird. Paradoxerweise kann genau hier aufbrechen, dass man sich nicht mehr von den bombastisch inszenierten einzelnen Seienden faszinieren lässt. Genauso kann dies aber auch in Trauer oder Verlust erfahren werden, wo gerade jedes Seiende seine Bedeutung verliert und zerfällt. Beide Male geht es um ganz wörtlich um das „Seinlassen“ des jeweils Seienden und dadurch dem Verweis auf das Geheimnis, was unter allem Seienden liegt zu folgen. „Das Seinlassen des Seienden vollzieht sich im offenständigen Verhalten. Das Seinlassen des Seienden als eines solchen im Ganzen geschieht aber wesensgerecht erst dann, wenn es zuweilen in seinem anfänglichen Wesen übernommen wird. Dann ist die Entschlossenheit zum Geheimnis unterwegs in die Irre als solche. Dann wird die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ursprünglicher gefragt. Dann enthüllt sich der Grund der Verflechtung des Wesens der Wahrheit mit der Wahrheit des Wesens. Der Ausblick in das Geheimnis aus der Irre ist das Fragen im Sinne der einzigen Frage, was das Seiende als solches im Ganzen sei. Dieses Fragen denkt die wesentlich beirrende und daher in ihrer Mehrdeutigkeit noch nicht gemeisterte Frage nach dem Sein des Seienden.“ (Heidegger 1996c: 198) Der Sprung ins Geheimnis geschieht an dieser Stelle genau darin, dass man die Irre als Irre wahrnimmt. Dass die Oberfläche des Seienden, was sich im fortgerissen werden vom einem Seienden zum nächsten Seienden äußert, aber dann davon absehen kann und sich nicht mehr beirren lässt, um das Seiende als Ganzes zu erfahren. Diese Taubheit und Verblendung die hiermit erzeugt wird, indem vom Wesentlichen abgelenkt wird, beschreibt z.B. Annie Ernaux sehr schön: „Das immer schnellere Aufkommen neuer Produkte drängte die Vergangenheit zurück. Die Leute fragten sich nicht mehr, ob die Dinge wirklich nützlich waren, sie wollten sie einfach besitzen und litten darunter, nicht genug Geld zu haben, um sie sich sofort leisten zu können. Man gewöhnte sich daran, Schecks auszustellen, man entdeckte die ‚Ratenzahlung’ und den ‚Kauf auf Kredit‘. Die Leute fühlten sich mit den Neuheiten wohl, sie waren stolz auf ihren Staubsauger oder Föhn. Die Neugier besiegte das Misstrauen. Man lernte Rohkost und Flambiertes kennen, Rindertatar, neue Gewürze, Ketchup, paniertes Fischfilet, Kartoffelpüree aus der Tüte, tiefgefrorene Erbsen, Palmenherzen, Aftershave, Obao-Schaumbad und Dosenfutter für den Hund. Konsumgenossenschaften wie Coop und Familistère schlossen und stattdessen öffneten Supermärkte, in denen man die Waren vor dem Kauf anfassen konnte. Man fühlte sich frei, man war niemandem etwas schuldig.“ (Ernaux 2017: 92) Aber ist dies wirklich Freiheit? Oder nicht vielmehr eine Freiheit, wie die bei Platons Menschen in der Höhle, die sich an die Schatten binden und sich darüber freuen, dass es ein immer größeres Schattengewimmel gibt, aber darüber erst recht nicht mehr auf die Idee kommen, zum schattenwerfenden Feuer zu schauen und erst recht nicht zum Höhlenausgang zur Sonne aufzubrechen?

Heidegger geht es bei der Irre um eine Umkehr, die genauso wie in der platonischen Höhle nicht mehr an den Schatten und damit an dem Seienden sich bindet, sondern wahrnimmt, was hinter den Schatten liegt. Und diese Kehre bewirkt erst, dass die Sonne und damit das Sein selbst wahrgenommen wird. Aber so viele Menschen werden vom Seienden in ihrer Aufmerksamkeit so gebunden und kaum eine Zeit war so geschickt, die Aufmerksamkeit an Seiendes zu binden, indem dieses immer bombastischer und immer schneller wird und damit nur allzu oft einen wesentlichen Inhalt verliert, sondern nur sehr kurz die Aufmerksamkeit bindet, um dann umso schneller zum nächsten zu springen. Es sind vereinzelte Botschaften, die aber oft keinen gründenden Sinn in einer echten Erfahrung mehr haben und letztlich so ein Sicherheit vermitteln, indem man jemand ist, der an diesen ganzen Prozessen von Besitz (bei Ernaux) bis heute zu Likes und Followern eingebunden ist, aber eigentlich auch eine tiefe Verlassenheit spürbar machen. „Die Irre ist die Offenheit des vom Sein (der Wesung seiner Wahrheit) verlassenen Seienden, das zum Gegenständlichen der Sicherung geworden ist. In diesem Offenen bleibt der Anspruch des Seyns aus. Die Stimme des Anfangs ist verstummt. Der Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen ist ausgelöscht, weil das Wesenhafte überhaupt sich verhüllt. Alles ist gleich-gültig und deshalb ist hier die Gewähr, von jedem zu jedem überzugehen. Jedes ‚Ziel‘ ist ein Scheinziel, vorgestellt um für eine Gelegenheit die Rechtfertigung des bloßen Machens und Sicherns vorzutäuschen, worin der Mensch dem Sein als dem Willen zum Willen genügt. Das Machen taumelt zwischen gleich hinfälligen Schein­zielen. Es irrt, weil dieses Offene die Irre ist.“ (Heidegger 2013: 63f.) Damit verdeckt gerade dieses Offene, dass jeweils an das verschiedene Seiende sich bindende, das Eigentliche. Es ist eine Bindung an Scheinziele, wie Geld, Ansehen, Erfolg etc., deren Schein voran daran liegt, dass es alles dem Erfolg und der Selbstständigkeit eines Egos zugerechnet wird. Heidegger möchte aber gerade hier ein Umdenken und damit ein Hören und Andenken auf das Seyn hin, dass sich nicht mehr nur vom verlassenen Seienden ablenken lässt und in die Irre führt. Dabei gewinnt in Heideggers späten Denken gerade das Wort Dank eine zentrale Bedeutung, die er sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der Dichtung Hölderlins erschließt (vgl. Heidegger 1981; oder auch 2005: 134ff.). Für den Nachlass hat Heidegger einen Band mit Gedanken zusammengestellt, wo das Kapitel zu den „weisenden Wörtern“ und dem „Ereignis“ mit der Liebe und dem Dank abschließt. So ist für Heidegger die Liebe das Aufbrechen des selbständigen Egos: „Die Beständnis auf dem Selbstischen - die Befangenheit in diesem. Die Einzigkeit des Geliebten = das Anfängliche.“ (Heidegger 2013: 917) Die Beständnis liegt in diesem Ego, was sich glaubt einen festen Grund selber geben zu können und sich immer mehr darin verwickelt. Die Befangenheit dieses Ego zeigt sich allerdings darin, dass es sich das wirklich Wichtige selber nicht geben: Leben bleibt in seinem Anfang und Ende unverfügbar, genauso wie wirkliche Liebe immer ein freies Geschenk bleibt. So ist Ereignis im Sinne Heideggers und Liebe ein „μνηστισ - Gedenken - Die anfängliche - strebungslose Ruhe des abschiedlichen Dan­kens.“ (Heidegger 2013: 916) So gründet Liebe in einem Gedenken, was von der griechischen Wortbedeutung aber auch ein erinnerndes Andenken ist, genauso wie eine Sehnsucht, die ganz tief in ein für uns nicht Verfügbares greift, d.h. in eine Vergangenheit, die so nicht mehr da ist, aber auch eine Gegenwart und Zukunft, die nicht greifbar ist, weil gerade das Gedenken an einen geliebten Menschen, der z.B. verstorben ist, hält diesen Menschen in der Gegenwart und trotzdem entzieht sich dieser Mensch gleichzeitig. Gerade hier zerbricht jedes Konzept von Seiendem, weil der geliebte Mensch Dasein hat, aber nicht mehr ist, als etwas Seiendes. Und auch mir selbst droht dieser Nicht-Seiende Zustand, da ich wesentlich ein Sterblicher bin (auch wenn man dies meist versucht zu verdrängen). Ich laufe kontinuierlich auf dieses eigene Nicht-Seiende zu bzw. bin dieses Nicht-Seiende in meinem Wesen. All dies bleibt mir aber verwehrt zu begreifen, denn ich kann nur Seiendes begreifen (wozu auch abstrakte Begriffe gehören) - aber genau hier gibt es kein Seiendes mehr, was das Einzige ist, wo ich mich in dieser Welt meist dran halte und wo ich mich auskenne. Und trotzdem geht mich dieses Nicht-Seiende im Sinne von geliebten Verstorbenen und meinem eigenen Tod zutiefst an, es gibt nichts, was mich persönlicher treffen kann - gleichzeitig stehe ich gänzlich ohnmächtig davor. Damit wird das Gedenken und die Trauer zu einer zentralen Stimmung für das Dasein. Heidegger selbst hat dies leider in dieser Kategorie nicht so explizit dargestellt, so hat er dies gerade in seinem frühen Denken eher an dem Vorlaufen zum Tod und der Langeweile beschrieben und weniger in der Trauer. Als Gegenbeispiel kann man das sehr einfache Kalkül von Kübler-Ross nehmen, die anstrebt, dass der ursprüngliche Schock möglichst schnell und mit möglichst wenigen Spuren wieder ins Seiende führt. Heidegger geht es da vielmehr darum, dass ein Wohnen in einer anfänglich-strebungslosen Ruhe gegeben wird. Aber gerade diese Ruhe ist nun gar nichts passives, sondern hat ihre ganz eigene Dynamik in einem abschiedlichen Danken, d.h. es zieht sich gar nicht ganz aus dem Seienden zurück, sondern verkehrt mit dem Seienden ohne Befangenheit, indem es sich nicht an das Seiende bindet, sondern sich immer wieder dankend und abschiednehmend vom Seienden ins Sein fallen lassen kann und sowohl für das geschenkte Seiende als auch für die Möglichkeit des Loslassen dankt.

Diese Form von Gedenken ist eine Liebe, die weniger im έρως als in der αγάπη gründet. „Die Liebe nie triebhaft-erotisch zu denken, sondern nur aus der Inständigkeit im Ereignis. Die Liebe: ist der anfängliche Bezug zur Wahr-heit des Seyns.“ (Heidegger 2013: 916)  Heidegger nimmt hier das Triebhafte der Erotik aus der Liebe heraus, und erfährt die Liebe so als eine Inständigkeit und als einen  anfänglichen Bezug zum Ereignis respektive zur Wahrheit des Seins. Er setzt damit einen ganz anderes Verhältnis zur Wahrheit, als dies die Wissenschaft begreift, denn Wissenschaft legt vor allem auf die Neutralität des Bezuges zur Wahrheit wert, so dass sie objektiv, valide und reliabel ist. Alle drei Kriterien würden jede Liebe untergraben, aber für die Wissenschaft stellt dies das Fundament da. Heidegger geht es in diesem Bezug dagegen eher um eine Nähe, die mich persönlich angeht, die etwas mit mir als Person macht, indem sie mich in diesem Bezug aufgehen und loslassen lässt. Auch Jesus war in dieser Hinsicht kein Wissenschaftler und Theologe, sondern ein rückhaltlos Liebender. „Der Bezug in die Verwindung, die gespart und noch geborgen und nicht schon gegeben. Geborgen - ereignishaft - / Schickung /.“ (Heidegger 2013: 916) Diesen Bezug bezeichnet Heidegger als Verwindung, einem nicht mehr sehr gebräuchlichem Wort. Das Grimm’sche Wörterbuch kennt dies als Überwindung, als Verwindung des Schmerzes oder einer Trauer, als oblivio und reparatio, d.h. als Vergessen und Wiederherstellung. Damit kann die Verwindung hier bedeuten, dass wieder ein Bezug in seiner Ursprünglichkeit eröffnet wird, dass die Irre überwunden wird und man wieder in einen neuen Anfang gestellt wird. Aber diese Wiederherstellung ist nie ganz gegeben, sie ist nicht einfach da, nicht greifbar, sondern sie ist aufgespart, gut geborgen und damit auch verborgen im Anfang und nie einfach schon gegeben oder wird auch nie gänzlich übergeben. Auf diese Weise gründet die Dynamik des Ereignisses, dass nie als Seiendes einfach da ist, sondern eine Schickung, eine Aussendung (αποστέλλονται), eine Sehnsucht, die als Sehnsucht bestehen bleibt und genau darin hier auf Erden auch ihr einziges Ziel hat. Eines der bekanntesten Zitate von Augustinus verweist genau hierauf: „Du hast uns geschaffen hin zu dir, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“ (Conf I 1,1; zit. nach Przywara 1934: 194) Christlich ist dies auch als Parusieverzögerung bekannt, indem die Wiederkunft Christi unmittelbar erwartet wird, aber in dieser Welt so nicht stattfindet. Wenn man in den Kategorien von Heidegger dies aufgreift, besteht der Fehler nicht darin, dass man bisher noch nicht das richtige Datum für den Jüngsten Tag ausgerechnet hat, sondern darin, dass man etwas ins Seiende verlegt hat, was sich eigentlich nur im Seyn ereignet - und im Seyn hat es sich bei vielen Menschen schon oft ereignet und wird sich auch immer wieder ereignen. Dagegen wird dies im Seienden erst am Sankt-Nimmerleins-Tag passieren.

Die entsprechende oder angemessene Haltung in dieser Sehnsucht, kann dann nur der Dank sein. „Danken - der inständige Dank als der anfängliche menschliche Bezug zum Seyn. Liebe - der dankende Bezug auch zu dem Fehl - / mitgeliebt /.“ (Heidegger 2013: 916) Ein inständiger Dank (übernommen von etwa einem „inständigen Flehen“ von seiner Wortbedeutung her), d.h. ein Dank der ganz tief aus meiner Mitte kommt und mich dort berührt, aus dieser Tiefe aus mir aufsteigt, der meist noch nicht mal in Worten zu fassen ist. Dieser Dank ist der wahre anfängliche Bezug, aus dem wir leben können und zu dem wir immer wieder aufs Neue eingeladen werden, darin aufzubrechen. Diese Sehnsucht des Aufbruchs, der im Fehl, im noch nicht Vorhandensein gründet, ist die Liebe. Liebe wie sie Heidegger nur am Rande selber thematisiert, wie sie aber im Christentum der zentrale Begriff ist. Aber Liebe hier in einem ganz tiefen Sinn, wo sowohl Christentum viel missverstanden hat über die Jahrhunderte aber auch das kulturelle Konzept von Liebe zwischen zwei Menschen. Hier haben die Romantiker wie Hölderlin, Novalis etc. schon viel wieder vom Kern geweckt, wovon aber kaum noch etwas übrig bleibt als eine besitzergreifenden Fratze, wenn wir das nehmen was unter „romantischer Liebe“ heute verstanden wird (vgl. etwa Luhmann 1982, der die Geschichte dieses Konzepts soziologisch beschreibt in seiner Entwicklung). Liebe ist damit kein Lebensplan von „mein toller und attraktiver Partner, meine erfolgreichen Kinder, mein Haus, meine Karriere etc.“, sondern verbleibt in der Sehnsucht und erwartet  und plant nichts. So schreibt etwas der Benediktiner Louis de Blois im 16. Jhd.: „Hörst oder siehst du, dass von andern etwas Gutes getan wurde, so meine nicht, du seiest dazu ohne weiteres auch berufen. Nicht du bist es, der der Gnade den Weg vorzuzeichnen hat. Vielmehr lerne der angebotenen und führenden Gnade in Demut folgen!“ (Blosius 1948: 95) Liebe als Ereignis ist damit nichts, was ich machen, planen oder auch nur wünschen kann. Sie ist reines Geschenk, was ich nicht erwarten kann, wofür ich nur danken kann, wenn mir dieses Geschenk zuteil wird. „Das Ereignishafte - wird nicht gemacht und gewollt, was aber auch nicht nur Drang und Trieb ist - vor dem allen. Die Ereignung in das, daß die Liebenden nur noch die Instän­digkeit können und nicht anders sein können. Freundschaft beruht - im Unterschied zur Kameradschaft - stets auf Liebe. Liebe ist selten; der Täuschungen sind zahllose.“ (Heidegger 2013: 916f.) Liebe ist damit kein Plan, sondern etwas was aus meiner Tiefe von sich selbst heraus aufbricht, eine Inständigkeit worin meine ganze Person liegt. Aber Person nicht als mein Selbstbild, was ich mir von mir gemacht habe, sondern eine Person, die aus einer Liebe heraus, zu dem wird, was sie ist, was die Person selber aber nie geplant noch erwartet hätte und sich auch nie selber geben könnte, sondern nur vom Anderen geschenkt bekommt. So hat dieses Mehr und diese Inständigkeit sehr schön Ernst Jandl beschrieben für eine Paarbeziehung:

liegen, bei dir

ich liege bei dir. deine arme
halten mich. deine arme
halten mehr als ich bin.
deine arme halten, was ich bin
wenn ich bei dir liege und
deine arme mich halten.

(Jandl 1985: 626)

Heidegger betont weiter, dass diese Inständigkeit nicht nur in einer Paarbeziehung sich ereignet, sondern auch in einer wahren Freundschaft. Und man kann hier sicher ergänzen, dass dies auch eine Eltern-Kind-Beziehung ausmachen kann und vor allem auch meine Beziehung zu Gott. So vielfältig dieser Bezug auch sein kann, er bleibt selten und das meiste was wir an Liebe leben, sind Täuschungen darüber. Umso wertvoller sind Momente und Begegnungen, wo sich diese Liebe tatsächlich ereignet - und hier ist dann nur noch inständiger Dank angebracht.

Heidegger kommt also auf dem Weg, die Philosophie ganz tief von ihren Wurzeln her wieder zu denken, zu zwei zentralen christlichen Kategorien: der Liebe und dem Dank. Liebe und Dank sind das Gewicht, was den je einzelnen Menschen von seinem Ego wegziehen ins Offene. Der Mensch kann die Balance damit zum einen auf seinen Autonomie-Pol legen und damit das meiste sich selbst und seinem Können zuschreiben oder er gründet sich im Tranzendenz-Pol und lebt damit weniger aus sich heraus, sondern in einem liebenden Dialog, bei dem im Mittelpunkt der Dank und das Geschenk steht. Zwischen diesen beiden Polen pendelt ein menschliches Leben und justiert sich auch immer wieder aufs Neue darin. Aber dem Menschen bleibt immer die Freiheit zu entscheiden, wo er sich hier verortet. Christlich gesehen bedeutet Sünde allein, dass der Mensch sich zu stark in seiner Autonomie verortet und sich damit von Gott abwendet. So haben Adam und Eva nicht deswegen gesündigt, weil sie ein recht banales Gebot missachtet haben, nämlich von dem Baum zu essen, sondern weil sie sich unabhängig von Gott in ihrer Autonomie machen wollten. So schreibt Hans Urs von Balthasar, diese Entscheidung „kann getroffen werden, wenn der Wählende dem Autonomiepol seiner Freiheit eine Absolutheit zudenkt, die das Geschenktsein von Gott und damit Ausgerichtetsein auf ihn darin auf- und untergehen läßt, nicht aufgrund bloßer Unachtsamkeit und Vergeßlichkeit, sondern aufgrund eines Anreizes, ‚sein zu wollen, wie …', also die Differenz bewußt zum Verschwinden zu bringen. Sofern die beiden Pole der endlichen Freiheit aber untrennbar ineinander liegen, ist Autonomie nicht ungetrennt denkbar von der Dynamik ihres Von-her-Zu-hin, die sie erst eigentlich zu einem realen Bild und Gleichnis der absoluten Freiheit macht, so daß in der exklusiven Wahl der eigenen Autonomie diese Dynamik der letzteren zugeeignet und gleichsam einverleibt wird: sie gilt sich nunmehr selbst als ihr eigenes Von-sich-selbst-her und Zu-sich-selbst-hin. Aber in ihrem ursprünglichen und bleibenden Sich-geschenkt-Sein konnte der Schenkende nicht als abwesend gedacht werden, vielmehr als Einer, der im dauernd anwesenden Akt - zugleich in Allmacht und Allgüte - etwas ihm ursprünglich Eignendes dem endlichen Wesen übereignet. Deshalb wird, wo die endliche Freiheit sich ihr Geschenktsein selber zueignet, etwas zum Absoluten Gehöriges, von ihm Untrennbares, diesem enteignet und der Selbstverfügung der endlichen Freiheit zugeteilt.“ (Balthasar 1980: 149) Zunächst scheint es, dass der Mensch, wenn er mehr seinen Autononie-Pol betont, auf diese Weise Freiheit gewinnt. Dies ist bis zu einem gewissen Punkt auch richtig, da mit der eigenen Autonomie auch Mut, Selbstwirksamkeit, Experimentierfreude und auch die Entschlossenheit schlechte Verhältnisse nicht einfach hinzunehmen, sondern zu ändern, wachsen. Dies ist sinnvoll und aus einer christlichen Perspektive auch gewollt. Aber dennoch bleibt bei aller Autonomie ein großer Teil von Unverfügbaren, so dass ich mir mein Leben nie selber gegeben habe und auch selber nicht aus restlos freien Stücken Leben geben kann und auch aufrichtige, tiefe Liebe kann ich mir nicht selber geben. Auch Begabungen wie Mathematik oder Musik kann ich nicht wirklich nachholen, ich kann sie erlernen, bin damit aber immer an Grenzen gebunden. Und paradoxerweise kann ich mir auch nicht den Glauben an Gott geben, selbst wenn ich mir dies wünsche oder die als vernünftig ansehe (wie etwa Herr Habermas). Und dies taucht gerade im Autonomie-Pol an tiefster Stelle wieder auf: umso weiter ich in der Wissenschaft komme, desto mehr erkenne ich die Grenzen meines Wissens. Umso mehr ich musikalisch übe, desto mehr entdecke ich meine Grenzen… bzw. erfahre, dass die Momente wirklich großer Erkenntnis oder musikalischen Gelingens zwar von mir vorbereitet sind, aber unverfügbar mir in diesem Moment geschenkt wurden. Dies muss man nicht auf Gott zurückführen, aber selbst die Diskussion vor allem im 19. Jhd. um den menschlichen Genius, der so etwas bewirkt, haben dann doch deutlich die Grenzen eines solchen Konzeptes aufgezeigt (auch wenn Künstler wie etwa Baselitz und Lüpertz dies immer noch in sich selbst feiern, aber gerade in dieser Attitüde dann ihr beeindruckendes Werk eher lächerlich machen).

Die Überwindung der Sünde ist damit nichts, was mit einem Rechtsstreit zwischen dem Sünder und Gott (bzw. seinen Vertretern) stattfinden würde, kein „ius talionis“, kein do et des. Es ist kein Handeln und es ist auch nicht bezogen auf einzelne Taten oder Seiendes, sonder es ist eher eine Haltung, die dankend sich immer wieder ins Offene bewegt. Eine Haltung die Balthasar als Gleichnis bei den Kindern sieht, dies ist die Orientierung des Menschen: „Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind“ (Mt 18, 3), so heißt Balthasars letztes und auch eines seiner schönsten Bücher. Er kommt immer wieder in seinem Werk sehr einfühlsam auf dieses Thema zurück und auch beim Bösen und der Sünde ist die Haltung des Kindes für ihn der Ausweg. „Das Kind kann den Gedanken nicht fassen, Sein sei nicht Gutsein und nicht Wahrsein, sondern Illusion, und das Licht, das in seinem Bewußtsein vom Sein her alles wirkliche und mögliche Seiende beleuchtet, sollte besser erlöschen. Der Akt kindlichen Staunens, dem die Verdankung implizit ist, läßt sich keinesfalls als böse Verzauberung entlarven. Der Rückruf Jesu zum Kindsein meint, von hier aus gesehen, etwas Tieferes als die Umkehr von Irrwegen (der Gewöhnung, der Sklerosierung aller Art), nämlich die Offenheit für das vom Absoluten her einfallende Licht.“ (Balthasar 1980: 128) Balthasar greift in diesem Zitat die Kernthemen auf, die bisher hier in Joh 8,1-29 aufgegriffen wurden: Sein, Wahrheit, Licht alles anhand des Höhlengleichnisses beschrieben, dann Staunen, Dank und diese abgründige Offenheit. Das Kind gründet damit weniger in der Richtigkeit von Dingen und moralischen Gesetzen, sondern staunt vielmehr immer wieder darüber, dass überhaupt etwas ist, und nicht vielmehr nichts. Und auch die Umkehr, wenn etwas falsch gelaufen ist funktioniert beim Kind anders, als dass es ein rationales Bewusstsein hat, dass es vor ein Tribunal ziehen muss, um seine gerechte Strafe in Empfang nehmen zu können. „Ein Kind, das sich seiner Mutter gegenüber unartig benommen hat, kann sich nur deshalb entschließen, die Mutter um Verzeihung zu bitten, weil es um deren dauernde persönliche Liebe weiß; in der Kraft dieser Liebe vermag es die Umwendung zu vollziehen. Gott gegenüber erfolgt die Umkehr des Sünders nicht aufgrund einer ‚natürlichen‘ Reflexion auf den Begriff eines gütigen Gottes, sondern aus dem lebendigen (zumindest lebendig gewesenen) Glauben an einen Gott, der in Gnade sich selber mitteilt, und die Umkehr selbst verdankt sich der wirksamen Macht dieser Gnade.“ (Balthasar 1980: 152) Es ist dieser lebendige Glauben, den das Kind zur Umkehr bewegt. Und dieser Glaube gründet darin, dass man wie das Kind eben nicht ganz vereinsamt, verkapselt und gefangen in seinem Ego ist, sondern in einer ganz wesentlich Art auch Bezug ist. Denn das Kind weiß, dass es alleine nicht bestehen kann, dass es beim Essen, Unterkunft etc. auf die Eltern angewiesen ist. Dass es die Welt in großen Teilen nicht versteht und die Erklärungen der Eltern braucht. Aber das Wichtigste besteht darin, dass es die Geborgenheit durch die Eltern braucht, um überhaupt leben zu können, das Kuscheln, die Blicke, die Zuwendung… Alles das  tritt mit dem Erwachsenenwerden immer mehr in den Hintergrund und wir vermeinen uns dies selber geben können. Christian Lindner ist stolz darauf und hat das Ideal, dass jeder mündige Mensch sich selbst Unterkunft und Essen geben kann. Dabei betrachtet man ihn in seiner Selbstzentriertheit und Naivität und Unwissenheit selbst wie ein Kind, dass sich aber weigert zu lernen und nicht weiter als seinem eigenen Kinderzimmer blicken kann. Und selbst wenn man als Erwachsener mehr gelernt hat und etwa promoviert hat, erkennt man nicht genau darin auch das eigene Nicht-Wissen. In einer Doktorarbeit hat man meist ein abgefahrenes Nischen-Thema bearbeitet, wo nur ich mich wirklich gut auskenne und selbst da sehe ich, wie viele Forschungsdesiderata es noch gibt, aber vor allem erkenne oder sollte ich erkenne, dass ich von den meisten anderen Sachen so dermaßen keine Ahnung habe (zugegeben: oft bewirkt der Doktortitel genau das Gegenteil, dass man meint bei allem mitreden zu können). Und am wenigsten kann ich mir selbst Geborgenheit geben… dies kann ich mir nicht geben, wenn ich attraktiv und reich und Persönlichkeit habe… und selbst in einer authentischen Liebe zerbricht diese am Tod, den jeder alleine sterben muss und den Tod des anderen einfach aushalten muss. Aus sich selbst leben zu können, verdeckt eigentlich immer das Wesentliche. Autonomie ist ein wichtiges Mittel, um den Alltag zu verbessern und zu bestehen, aber sie ist eben nur ein Mittel und wird zu Illusion, wenn sie zum eigentlichen Ziel wird. Und noch vielmehr, denn sie verdeckt so unser eigentliches Ziel. „Diese Desinkarnation, die den konkreten Menschen zugunsten einer Idee aufhebt, die er von sich macht, ist Anzeichen dafür, daß er das Paradox, das er ist, nicht durchhalten will, und das nur durchzuhalten ist, wenn die innere faustische Unruhe sich dort löst, wo sie in Wahrheit hinstrebt, in dem Gott, der sich von sich her geoffenbart, kundgetan, erschlossen und hingegeben hat. Denn der Mensch, dies Gebilde des Logos, ist von Grund auf dialogisch entworfen, und jede monologische Selbstdeutung muß ihn zerstören.“ (Balthasar 1980: 133) Dabei muss der Mensch seinen Monolog doppelt aufbrechen. Zum einen hat man heute gut erkannt, dass Entscheidungen kaum funktionieren, wenn diese einzelne Personen für sich treffen. Deswegen ist Arbeitsleben hauptsächlich heute Besprechung. Kinder müssen in die Kita, wenn sie zuhause nicht genügend Ansprache erhalte. Alte Menschen müssen angesprochen werden, damit die Wahrscheinlichkeit verringert wird, nicht in die Demenz abzurutschen. Somit ist das „dialogische Prinzip“ (Buber) gerade im 20. Jhd. auf allen Ebenen angekommen und das 21. Jhd. startet damit, dass bei fast allem social media mitgedacht werden muss. Aber viel davon bleibt leeres Geschwätz oder das was Heidegger das „Gerede“ des „Man“ bezeichnet hat. Der Monolog muss damit nicht nur unter den Menschen aufgebrochen werden, sondern auch auf Gott hin. Und dieses Aufbrechen zu Gott, kann eine ganz wesentliche Quelle dafür sein, dass unsere Dialoge tatsächlich authentisch sind (denn auch Authentizität können wir uns nicht allein selber geben). „Das wesentliche Angerufensein durch die göttliche Freiheit, der Ruf, sich der göttlichen Selbsterschließung ihrerseits zu erschließen. Ein so wesentlicher Anruf, daß er mehr sagt, als was der ‚Schluß‘ vom Abbild auf das Urbild ergeben kann, und daß er, ob die endliche Freiheit sich ihm öffnet oder verschließt, unüberhörbar bleibt, vergleichbar einem ihrer Struktur eingebrannten Mal. […] Ist dieses Moment der göttlichen Freiheit in die konkrete Struktur der endlichen miteingeschlossen, so versteht sich tiefer, weshalb die Nichtachtung dieses Moments im nicht-transzendieren-wollenden Sünder seine heillose und für ihn selbst ausgangslose Selbstverschließung besagt: bedarf es dann doch erst recht der göttlichen Initiative, ihn aus seiner Abwendung zu befreien.“ (Balthasar 1980: 152) Sich wieder in die Haltung des Kindes hineinzufühlen und zu orientieren, ist die Möglichkeit sich aus dieser einsamen Abwendung des neuzeitlichen Egos zu befreien.

Aber können wir dies heute noch überhaupt? Wir haben eine Katholische Kirche die sich nur noch mit Missbrauch, Machtverteilung und Frauenbeteiligung beschäftigt (diese Fragen müssen alle progressiv umgesetzt werden, aber Kirche ist mehr als Institution, was kaum noch wahrgenommen wird), spirituell nachgefragt werden Kalenderspruchschreiber wie Anselm Grün und die Esoterik-Ecke. Theologische Bücher muss man einem Antiquariat gar nicht anbieten, weil sie kaum etwas wert sind… und doch ahnt jeder noch dunkel etwas von diesem Geheimnis, was eben nicht diese Oberfläche ist. Mittlerweile stehen fast alle Menschen so ratlos vor Christus am Kreuz, wie Rilke vor 100 Jahre vor dem Buddha (Rilke 2003/3: 24f.):

Als ob er horchte, Stille: eine Ferne …
Wir halten ein und hören sie nicht mehr.
Und er ist Stern. Und andre großen Sterne,
die wir nicht sehen, stehen um ihn her.

O er ist Alles. Wirklich, warten wir,
daß er uns sähe? Sollte er bedürfen?
und wenn wir hier uns vor ihm niederwürfen,
er bliebe tief und träge wie ein Tier.

Denn alles, was uns zu seinen Füßen reißt,
das kreist in ihm seit Millionen Jahren.
Er, der vergißt was wir erfahren
und der erfährt was uns verweist.

Aber vielleicht ist die Spannung der letzten beiden Zeilen ein wirklich authentischer Ausgangspunkt, sich diesem christlichen, unserem Geheimnis zu nähern. Zwar geht es nicht darum, dass Christus am Kreuz uns und unser Leiden vergessen würde. Genauso wenig trifft dies auf den Buddha zu, wenn man allein an eine der wichtigsten Bodhisattvas denkt, wie Guanzizai (观自在), was übersetzt bedeutet, die die Geräusche oder Schreie der Welt hört, also immer da und jedem Menschen nahe ist, um jeden noch so verborgenen und geheimen Schmerz zu hören und diesen als nicht vergeblich und teilnehmend aufzuheben und mitzutragen. Die Zeile „vergißt was wir erfahren“ zielt eher darauf, dass wir vergessen wollen und sollen, was uns hier quält, dass wir  uns aus den Bindungen unseres Egos befreien, die uns per se immer quälen und nie zur Ruhe kommen lassen werden. Das wir aus diesem nicht zu gewinnenden Wettlauf aussteigen und uns für die Freiheit Gottes im Christus am Kreuz oder dem Buddha unter dem Bodhibaum öffnen. Und wenn wir uns dafür öffnen erfahren wir selber, „was uns [jetzt noch] verweist“.

Man hat etwas den Eindruck, dass wir die zentrale Kulturtechnik verlernt haben, die einem dahin aufbrechen lässt: das Beten. Denn passiert Beten in der Messe, oder werden da eher Texte und Impulse gesetzt und Bitten formuliert? Innehalten sind da eher kurze Moment. Und auch sonst ist es eher exotisches Interesse, wenn etwa viele Menschen den Film „Le Grand Silence“ über die Kartäuser anschauen oder einen Meditationskurs machen. Balthasar beschreibt dagegen noch recht deutlich, was ein betrachtendes Gebet im Ausgang von den Exerzitien von Ignatius von Loyola bedeutet. So ist das Gebet der Ort, „wo der Mensch sich, wie in der Betrachtung, geistig dem Worte Gottes stellt. Im Alltag kann er den Widerspruch aus seinem Bewußtsein verdrängen oder seine Lösung auf geeignetere Zeiten verschieben (und sich dabei einstweilen beruhigen); in der Betrachtung kann er das nicht. Er muß dem Wort in die Augen blicken, er muß den Blick Gottes auf sein Leben fühlen und ihm rechtgebend sich selber verurteilen. Dies ist eine der Hauptursachen, warum die Menschen dem betrachtenden Gebet mit solcher Beharrlichkeit ausweichen und, auch wenn sie im allgemeinen seine Notwendigkeit bejahen, vor der persönlichen Begegnung mit dem Wort zurückschrecken.“ (Balthasar 1955: 195) Gebet ist hier nicht etwas, was einem kurzfristig gut tut und Ruhe bringt (aber genau dies scheint heute das Ziel zu sein, wenn man eine Kerze in der Kirche anzündet oder den Meditationskurs ans Yoga anschließt). Beten bei Ignatius ist genauso wie die Mediation der Zen-Meister etwa im Hekiganroku etwas vollkommen anderes: sie sind Zumutungen, Überforderungen, ein über die Klippe in den Abgrund springen… Christlich ist dieses sich den Blicken Gottes aussetzen aber oft in moralische Kategorien einseitig betont worden: d.h. ich komme mit meinen ganzen Verfehlungen vor Gott, der sie eh schon kennt und mich nun zu Recht verurteilen kann. Aber wie schon gesagt, dass Evangelium spricht hier davon, dass Jesus nicht gekommen ist, um zu verurteilen, sondern um zu retten. Aber „Retten“ kann auch deutlich mehr als der Ablaß sein. Balthasar schreibt sehr feinfühlig „den Blick Gottes auf sein Leben fühlen“, was deutlich macht, dass es hier um etwas sehr Ganzheitliches geht, indem man sich anschauen lässt und diesen Blick spürt. Dies kann dann sicher auch ein Gefühl von rechtgeben und sich selbst verurteilen sein (hier ist Balthasar leider sehr einseitiger Kirchenmann). Denn es wird auch, wenn man denn diesen Blick aushält, immer mehr darin sein als Rechthaberei und Verurteilung: zunächst einmal die Gnade der Vergebung… dann dass diese Gnade nicht herablassend ist, sondern fast schon auf Augenhöhe geschieht zwischen Gott und dem Menschen, weil sie eben nicht aus einem Gesetz  kommt, sondern aus Liebe… und wenn ich dieser Liebe im Anblick Gottes weiter folge und diese lerne anzunehmen, dann fühle und erfahre ich in mir diesen unendlichen Abgrund, indem alles Seiende und alles an dem ich festhalte, sich auflöst und sich in diese göttlich Liebe loslässt… hier ist dann der Punkt wo Rettung sich eigentlich ereignet und eben so gar keine Verurteilung mehr vorhanden ist: „Nicht deswegen hat Gott den Sohn zur Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt in ihm gerettet werde.“ (Joh 3, 17).

Beten wäre dann genau dieses sich von Gott anschauen zu lassen und diesen Blick auszuhalten, diesen Blick lernen anzunehmen und dann aus dem zu leben, was Gott in uns sieht und was wir dann durch Gott in uns selber sehen. Ein großer Beter des Christentums ist sicher Benedikt von Nursia. In seiner Lebensbeschreibung durch Gregor dem Großen gibt es eine Stelle, die dieses sich Öffnen für den Blick Gottes auf mich, sehr gut beschreibt. So hat Benedikt sich überreden lassen, eine Gemeinschaft in Vicovaro als Abt zu führen, die aber nur sich selbst folgen wollte. Nachdem er dort gescheitert ist, sucht er wieder seine Einsiedelei auf: „Dann kehrte er an die Stätte seiner geliebten Einsamkeit zurück. Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe herniederschaut, wohnte er in sich selbst.“ (Dial. 2,3,5, zit. nach Puzicha 2012: 156) Hier zeigt sich wie Benedikt noch seine Wurzeln bei den Anachoreten hat und erst auf dem Weg ist, die Grundlage für ein Koinobitentum zu legen. Denn hier sucht er noch die Einsamkeit der „Wüste“, wie Antonius oder Aphrahat. In der Einsamkeit lernen die Anachoreten sich immer mehr für den Blick Gottes zu öffnen und sich immer mehr aus diesem Blick selber zu betrachten. Dies ist sicher auch ein urteilender Blick, der das Leben neu ordnet, aber dies ist nicht das Wesen dieses Blickes, sondern es ist ein rettender Blick, aber eine Rettung die ganz tief in mir sich ereignet und nur noch wenig mit der Rettung von weltlichen Bedrohungen zu tun hat. Gregor formuliert hier auch sehr eindringlich, „wenn er Gott als spectator bezeichnet. Die Aussage meint nicht den unbeteiligten Zuschauer und nicht den Kontrolleur sondern den spectator cordis, der die Herzen der Menschen kennt und ihnen beisteht (Ps 7,10; Spr 24,12).“ (Puzicha 2012: 156) Gott, der mich besser kennt, als ich mich selbst (Augustinus), und der mit mir diesen Pilgerweg meines Lebens geht. Der auch in der Nacht da ist, wenn ich ihn mich anschauen lasse. Der zwar nicht meine weltlichen Bedrohungen ändert oder abwendet, aber der mich eine Umkehr machen lässt, indem ich nicht mehr gefangen im Seienden bleibe, sondern mich berge in seinem Sein. Dies findet auch im Prolog von Benedikts Regel seinen Niederschlag: „Wenn ihr das tut, blicken meine Augen auf euch, und meine Ohren hören auf eure Gebete; und noch bevor ihr zu mir ruft, sage ich euch: Seht, ich bin da.“ (RB, Prolog, 18) Gott ruft die Menschen dazu auf, ihm zu folgen und wenn wir dieses Umkehr vollziehen, dann schauen wir Gott, d.h. erfahren seine Nähe. Abt Herwegen von Maria Laach kommentiert dieses Aufgerufenwerden sehr emphatisch und eindringlich: „Erstaunlich ist das hinreißende Feuer, mit dem der Anruf an den Mönch ergeht. Mit Auge und Ohr dem göttlichen Ruf hingegeben, soll er das Wort des Heiligen Geistes aufnehmen. Als begieriger Schüler der Gottesfurcht soll er dem Lichte entgegeneilen - ‚currite' statt ‚ambulate‘ bei Johannes -, um der Finsternis des Todes zu entgehen. Die Johanneischen Begriffe von Licht und Finsternis, die das ganze vierte Evangelium bestimmen, besagen hier Gnade und Leben aus der Heiligen Geiste, Sünde und Abkehr von Gott. Auch hier wieder wird von dem Mönch eine letzte Entscheidung verlangt.“ (Herwegen 1944: 30)

Die letzte Entscheidung ist damit nicht primär ein moralisches Leben zu führen, weil Gott die immer beobachtende und verurteilende Moralinstitution ist. Sondern seinem Ruf zu folgen, sich von ihm in Lieben anblicken zu lassen und ihm so entgegenzueilen, wie die Braut dem Bräutigam (und kein Mensch wird mit gleicher Ergriffenheit wie eine Braut, einem moralisch-asketischem Leben entgegeneilen!). Für Benedikt von Nursia bedeutet dies, wenn wir zu ihm Aufbrechen, wird er verlässlich da sein (Ex 3, 14) und „dieses Wort [RB Prolog, 18] bekräftigt in großartiger Weise das bisher Gesagte. Oben hieß es, daß unsere Augen und unsere Ohren auf Gottes Offenbarung gerichtet sein sollen; hier wird uns versichert, daß Gottes Auge und Ohr uns begegnet, wenn wir ihn suchen. Ja noch bevor wir ihn anrufen, wird er zu uns sprechen: ‚Siehe, da bin ich.‘ Dieses Wort des Herr gibt eine Antwort, die all unserer Aufmerksamkeit: ‚apertis oculis‘, ‚adtonitis auribus‘, ‚nolite obdurare corda vestra‘ zuvorkommt. Die Gnade ist die Einheit, in der sich Gott und Mensch begegnen. Diese Begegnung, die wir nur der zuvorkommenden (‚antequam‘) Vatergüte Gottes (‚pietate sua‘) verdanken, ist der Wesensausdruck des Christentums überhaupt, der gnadenhaften Gotteskindschaft. Das ‚Ecce adsum‘ soll für den Mönch die stete Besiegelung der Gottverbundenheit sein, zu der die Stimme des Herrn ihn einlädt.“ (Herwegen 1944: 31) Es ist die Grundaussage, die auch schon in der Gottesbegenung im Judentum steht: ῎Εσομαι μετὰ σοῦ, ich werde immer schon da sein bei dir, dies spricht Gott Mose zu, dies ist sein festes Versprechen an Moses. Dies ist die einzige Gewissheit, die Mose braucht, dies ist das Einzige, was Mose wissen muss, dies ist die einzige Geborgenheit, die Mose benötigt… alles andere ergibt sich hieraus und muss deswegen kein Grund zur Sorge sein, die einen peinigen sollte. Aber auch wenn Gott immer schon bei mir ist, ist es für mich ein langer Weg, dies zu realisieren. Es ist das Paradox, dass ich Aufbrechen muss auf eine Pilgerreise, die alles loslassen muss, um dort anzukommen, was ich längst schon habe: bei mir selbst, so wie Gott mich ansieht.
Benedikt fährt an dieser Stelle dann auch mit dem Weg fort. Und gerade bei Benedikt tritt diese Paradoxie des Pilgers besonders deutlich auf, da die Mönche durch die stabilitas eigentlich radikal immobil und an einen Ort für ihr ganzes Leben gebunden sind - und gerade deswegen ist hier der Aufbruch zu Gott so rückhaltlos möglich. So schreibt Benedikt: „Liebe Brüder, was kann beglückender für uns sein als dieses Wort des Herrn, der uns einlädt? Seht, in seiner Güte zeigt uns der Herr den Weg des Lebens. Gürten wir uns also mit Glauben und Treue im Guten, und gehen wir unter der Führung des Evangeliums seine Wege, damit wir gewürdigt werden, ihn zu schauen, der uns in sein Reich gerufen hat.“ (RB, Prolog, 19-21) Benedikt möchte die Menschen dazu bewegen, dass sie auf diesen Ruf Gottes hinhören, sich auf diese Einladung Gottes einlassen, um sich von Gott anblicken zu lassen. Nicht umsonst beginnt Benedikt die Regel mit Obsculta, denn der Mensch soll auf diesen Zuspruch, den Gott an ihn richtet, hinhören und aufbrechen, um ihm zu folgen. „Aus der großen Menge sucht sich der Herr seinen Arbeiter, mitten aus dem Lärm des Marktes, aus dem Treiben und Drängen der Volksmenge erhebt sich der Ruf Gottes (clamat). Er sucht einen Arbeiter. Jede Bezeichnung des Mönches: ‚Sohn‘, ‚Soldat‘, ‚Schüler‘, ‚Arbeiter‘, besagt Einsatz der ganzen Kraft zur Erfüllung einer großen Aufgabe. Mönch-Werden heißt nicht nur im Kloster hören und lernen, sondern es heißt auch tun. Und zwar dies alles, um das ‚Leben‘ (Vita) zu gewinnen.“ (Herwegen 1944: 30) Hier taucht die nächste Paradoxie des Mönches auf: nicht nur, dass er ein Pilger in stabilitas ist, sondern er findet paradoxerweise das Leben nicht auf dem lärmenden Marktplatz, sondern im Rückzug in Kloster und Gebet. Deswegen ist oder besser darf der Rückzug ins Kloster gar keine Flucht vor dem Leben sein, um hier einen ruhigen Ort zu finden. Sondern von dem Novizen wird erwartet, dass er mit viel Kraft ins Kloster geht, da hier große Aufgaben auf ihn warten, vielleicht die größte Aufgabe, die wir im Leben angehen können: Gott zu suchen und sich seinem Blick aussetzen. So kann der junge Benediktiner aus Maria Laach, Philipp Meyer, auch von der Dynamik seines Glaubens sprechen, der eben kein Verkriechen vor der Welt und keine platte Gelassenheit und Sicherheit ist, sondern als Seine Lebensgrundlage „Gott macht unruhig“ festzustellen!  Passend sind auch die Begriffe, die Herwegen für den Mönch auswählt, die gerade die aktive und so gar nicht die passive Seite hervorheben: der Sohn, der Verantwortung für das Erbe übernimmt; der Soldat, der dafür in den Kampf zieht und selbst sein Leben dafür einsetzt; der Schüler, der sich lernend aufmacht neue Welten zu entdecken und zu erforschen; und der Arbeiter, der durch Fleiß und Können die Welt zu etwas besseren gestaltet. Zu einem solchen Leben ruft Gott den Menschen ins Kloster, das nicht ein Schonen vor dem Leben und eine Weltflucht bedeutet, sondern ein mehr an Leben, indem man aber genau dazu herausgefordert wird und in Anspruch genommen wird. Aber vielleicht ist dies gar nicht ein „mehr“ an Leben, sondern ein „anderes“ Leben, nämlich sich für ein „eigentliches“ Leben zu öffnen und sich dafür in Anspruch nehmen zu lassen. Es ist kein rechnendes Leben mehr, dass immer mehr an Erlebnissen etc. sucht, was uns heute durch und durch antreibt, sondern ein sich ereignendes Realisieren. Darin strahlt dass Gänseblümchen vor der Haustür mehr Herrlichkeit aus, als die seltene exotische Blumen im Regenwald, die anschließend für die ganze Welt gepostet wird und wo das Erleben dann hauptsächlich über die darüber generierte Anerkennung läuft.

Und Abt Herwegen schreibt weiter: „‚Wer ist der Mann, der Leben wünscht?‘ Das ist die entscheidende Frage. Es kann sich hier nur um ein höheres Leben als das irdische handeln. Es ist das wahre und ewige Leben, das dem ‚Frieden‘ (‚inquire pacem‘) gleichgesetzt wird, den wir erstreben und nicht mehr preisgeben sollen. Dieser Friede ist innere Harmonie, Ausgeglichenheit mit sich selbst, mit Gott und mit dem Nächsten. Pax ist Einheit, Auflösung aller Gegensätze; nur wer nach diesem Frieden strebt, ist für den Mönchsberuf tauglich. Pax ist das letzte Ziel des monastischen Lebens überhaupt. Ziel alles Kampfes ist für den Römer stets der Friede gewesen (Pax Romana). In diesem Sinne, als Krönung alles Ringens, ist Pax auch zur ‚Tessera' des gesamten benediktinischen Mönchtums geworden.“ (Herwegen 1944: 30f.) Aber dies ist kein äußerer Frieden, der einfach gegeben wird mit dem Rückzug ins Kloster oder auch der Sicherheit eines festen, konservativen Wertgefüges, womit man sich genauso in der Welt von allen anderen abgrenzen und zurückziehen kann. Es ist ein hart erkämpfter Friede und ein immer wieder aufs neue errungener Frieden. Denn dieser Frieden ist die Auflösung der Gegensätze, aber indem sie offen als Gegensätze in ihrer Paradoxie stehen bleiben! Eine Aufhebung nicht im Sinne von Hegel, sondern eine Aufhebung, die die Spannung der Paradoxie beibehält, diese höher treibt und auf eine eigentliche Ebene hebt, aber auch diese Spannung bewahrt und aufhebt und erst in dieser Bewahrung der Spannung im Eigentlichen findet eine Aufhebung im Sinne eines Pax statt. Eine einfache Ruhe und feste Werte im Glauben zu suchen, sind dagegen Falschgeld, so muss die „Tessera“  geprüft werden, ob die Aufhebung eine eigentliche ist und nicht nur eine billige Flucht. So waren bei den Römern tesserae militares die Erkennungsmarken, dass jemand zu einer bestimmten Einheit gehörte und bei den Griechen waren die σύμβολα (wovon sich das lateinische tessereae herleitet) die Berechtigung an der Volksversammlung (βουλή) teilzunehmen oder auch die Aufenthaltsgenehmigung von in der Polis lebenden Fremden. Heute sollte viel häufiger geprüft werden, welches σύμβολα man im Glauben trägt und zu welcher Gemeinschaft man gehört - und hier sollte man sich vor allem selber prüfen. Im direkten Bezug auf Joh 8, 1-21 bedeutet dies, ob ich das σύμβολα der Frau habe, oder der Pharisäer oder gehöre ich schon zur Nachfolge Jesu. „Von der Größe des ‚wahren und immerwährenden Lebens‘ ist der hl. Benedikt so überwältigt, daß er aus tiefer innerer Ergriffenheit seinen Jüngern mit neuer rhetorischer Anrede zuruft: ‚Was kann für uns süßer sein, geliebteste Brüder, als diese Stimme des uns einladenden Herrn? Siehe, in seiner Vatergüte zeigt uns der Herr den Weg dieses Lebens’ und - was dasselbe ist - den Weg zur Herrlichkeit. Ist der Weg erkannt, so muß er beschritten werden, daher die Entschließung aus der Betrachtung des ‚Weges‘“ (Herwegen 1944: 31)

Die σύμβολα liegt darin, ob es wirklich diese letzte Entschlossenheit gibt, sich rückhaltlos auf diesen Weg zu machen. So sieht Hans Urs von Balthasar als den Kern von Benedikt an: „In der Regel erscheint Gott als der unsagbar Gegenwärtige, vor dem das Geschöpf hüllenlos steht. […] Der Mensch läßt diesen alldurchdringenden Blick und Ruf Gottes in der immer tieferen humilitas für sich wahr werden: auf ihren Stufen steigt er sowohl in sein kreatürliches Nichts wie in seine Christusverähnlichung hinab“ (Balthasar 1965: 303) Die Regeln führen da hin, den Gott im Dornbusch je immer wieder für sich selbst zu realisieren. Dieser Gott der immer schon da ist, wo ich bin - und sich dennoch immer wieder mir ins Unsagbare entzieht. Nur dass wir als Menschen immer dazu tendieren, uns diesen Gott fassbar zu machen, ihn immer wieder versuchen buchstäblich festzunageln. Aber genau an diesem Punkt scheitern wir. Dieser unsagbare Gott erscheint erst, wenn wir unsere ganzen Begriffe von uns selbst, aber auch von Gott, loslassen. Und indem wir dies alles loslassen, stehen wir „hüllenlos“ als Geschöpf vor Gott, wie Balthasar schreibt. Aber dies bedeutet, dass dieses Hüllenlos nicht allein bedeutet, dass unsere ganzen moralischen Verfehlungen offengelegt werden, sondern dass unsere ganzen Begrifflichkeiten wegfallen, alle unsere Hilfskonstruktionen, die wir uns gebaut haben, um im Leben zurecht zu kommen, zerfallen vor diesem Blick Gottes. Das Hüllenlose ist dieses schutzlos dastehen vor ihm - und erst in dieser Schutzlosigkeit eine wahre Geborgenheit zu erfahren. Indem ich mich für diesen Weg entscheide, schutzlos vor Gott zu treten und mich von ihm so anschauen zu lassen, zeichnet Gott das Bild von mir, so wie er mich sieht, so wie ich bin. Ein Bild was ich mir nie selber geben kann, sondern was nur durch diesen liebenden Blick entsteht. Bestenfalls haben liebenden Mitmenschen schon erste wahre Strichen von diesem Bild von mir skizziert, indem sie mich ebenfalls selbstlos liebend angeschaut habe und ich dies annehmen konnte, als Geschenk. In seiner ganzen Umfänglichkeit ereignet sich dies aber erst, wenn ich vor IHN trete.

So schreibt Fridolin Stier in seinem Tagebuch Folgendes: „D. Bonhoeffer und der französische Pfarrer fragen sich, ‚was wir mit unserem Leben eigentlich wollten‘. Der französische Pfarrer: ‚Ich möchte ein Heiliger werden.‘ Bonhoeffer: ‚Ich möchte glauben lernen.‘ (Widerstand und Ergebung) Was will ich eigentlich mit meinem Leben? Spontan, ohne abzuwägen, ob ich's treffe: ‚Ich möchte sehen (lernen).‘“ (Stier 1981: 52) Der französische Pfarrer würde wohl gerne ein Pharisäer werden, Bonhoeffer sich eher ganz bescheiden auf den Weg der Ehebrecherin machen. Stier ist da weniger zurückhaltend und möchte sich direkt in die Nachfolge Christi bewegen in der Form der dritten Demut und Gottes Blick spüren und in sich realisieren. Dieses hüllenlos vor Gott treten, vor allem im Gebet, lässt sich auch gut als Porträtmalerei fassen. Wir lassen uns sozusagen von Gott portraitieren. Dabei erkennen wir uns in dem Porträt nicht einfach nur wieder, denn es ist kein Passfoto. Sondern das Porträt greift darüber hinaus, denn es zeigt nicht nur wie ich und alle anderen mich normalerweise sehen, sondern es zeigt etwas Wesentliches, was eben nicht an der Oberfläche meiner Erkennbarkeit liegt. In der Kunst werden Porträts oft auch als Karikaturen verwendet oder sie arbeiten Charakterzüge heraus, die man nicht immer direkt in der äußerlichen Ähnlichkeit eins Passfotos sehen würde. Damit lässt das Porträt mich selbst bzw. die dargestellte Person schon erkennen, so wie man die Person halt im Alltag kennt und gleichzeitig verweist es darüber hinaus, indem etwa sowohl kritisiert werden kann (als Karikatur) oder aber auch ein tieferes Seelenleben auf sichtbar gemacht wird oder sich zumindest andeutet, also dem was normalerweise verdeckt ist oder auch absichtlich versteckt wird und so dem Blick entzogen wird. So schreibt der Philosoph Jean-Luc Nancy zum Porträt: „Das ist die erste Problematik dessen, was wir l'altro ritrato nennen: Im Porträt, in seinem Porträt - seinem ‚eigenen‘ Porträt (ein denkbar zweideutiger Begriff) - entzieht sich der Andere. Er entzieht sich, indem er sich zeigt, er zieht sich zurück in seinem eigenen Erscheinen. Der porträtierte Andere ist auch der entzogene Andere. Und deshalb ist der wiedererkannte Andere - wenn die Ähnlichkeit erkennbar ist - noch unbekannter, als er vor diesem Wiedererkennen war. Er ist noch unbekannter geworden, weil er sich entzogen hat in seine Alterität. Dieser Entzug aber offenbart das Geheimnis dieser Alterität: Er enthüllt es nicht, er offenbart vielmehr, dass es ein Geheimnis ist - ein Geheimnis, das es vielleicht nicht aufzulösen gilt.“ (Nancy 2012: 12) Dies bedeutet, dass das Porträt das Geheimnis der Person zum Vorschein bringt, also eine Tiefe, die vielmehr ist, als die bekannten Rollen dieser Persona (wo der Begriff aus der griechischen Tragödie kommt und dort einfach die Maske bedeutet, die der Schauspieler trägt). Wenn Gott nun aber ein Porträt von mir im Gebet zeichnet, so bin ich darin wiedererkennbar, aber gleichzeitig eröffnen sich andere Dimensionen von mir, zum einen was ich auch bin oder sein könnte, aber damit Dimensionen, die mir gerade noch entzogen sind. Aber indem der Andere meiner selbst in seinem Entzug dargestellt wird, eröffnen sich nicht nur Möglichkeiten, wer ich sonst noch sein kann, sondern auch dieser Entzug schlechthin. „Vielleicht muss man das Porträt als die Art und Weise betrachten, in der sich der Blick auf sich selbst zurück wendet. Nicht in Form einer Widerspiegelung, sondern in der eines Eindringens in sich selbst, das mehr als nur seinen Anblick sichtbar macht: nämlich jene Unsichtbarkeit, auf Grund derer es blickt, seine Macula, seinen blinden Fleck - als ein Eindringen, das seine Kunst zu einer blinden Aufgabe macht, zu einer Anstrengung, die sich hineintastet in den dunklen Abgrund des ‚Selbst‘.“ (Nancy 2012: 22) Denn ich werde immer ein Anderer bleiben und noch darüber hinaus, werde ich als Möglichkeit immer als ein Anderer entzogen bleiben. In der Erkenntnis und Dynamik meines Porträts bleibe oder oft werde ich mir erst selbst unbekannt, weil immer schon mir selbst entzogen bin und bleibe und sie gleichzeitig diese Offenheit in mir auftut. Dies bezeichnet Nancy als das aufscheinende Geheimnis, worauf mich das Porträt hinweist. Aber da dieses Geheimnis eben nicht aufzulösen ist, verweist es auch gleichzeitig aus mir selbst hinaus bzw. über mich hinaus. Deswegen gibt es letztlich kein Selbstporträt, oder bestenfalls nur dann, wenn ich mich durch jemand Anderen betrachte.

Für Nancy führt das Porträt den Porträtierten immer mehr hinein in sein „Wesen“, was realisiert, dass unter den vielen Facetten und Eigenschaften von ihm selbst, nur eines liegt, seine bloße Existenz (Dass-Sein anstatt So-Sein). Das Porträt „ist ein bewegliches Spiel von Spiegelungen und Ansichten, eine wesentliche Unbeständigkeit, die sich beständig verwischt und verwandelt. Diese ‚wesentliche‘ Unbeständigkeit entspricht der Abwesenheit eines Wesens, der Abwesenheit oder unablässigen Abwendung einer festen, beständigen und an sich bestehenden Substanz. Diese Abwendung des Wesens nennt sich Existenz. Was das Porträt ganz allgemein dechiffriert, besonders aber in seinen zeitgenössischen Versionen, ist die Wahrheit der Existenz oder die Existenz als Wahrheit. Die Existenz, das Heraus-Sein, Außer-sich-Sein, Passieren, das buchstäblich nichts ‚darstellt‘, nichts ‚nachahmt‘ außer dem Passieren selbst, das unablässige Kommen und Gehen, Sich-Nähern und Sich-Entfernen, Sich-Erkennen- und Verkennen-Lassen als das Unnachahmbare, Unerkennbare, Undechiffrierbare, das es ist und das nicht aufhört, sich in immer wieder anderen Porträts zu dechiffrieren (auf die Gefahr, sich zu verlieren).“ (Nancy 2012: 79f.) Die Existenz, wie sie sich im Porträt zeigt, wäre demnach eine Bühne, auf der verschiedene Stücke nacheinander aufgeführt werden. Dabei ist es der Bühne zunächst einmal egal, welches Stück aufgeführt wird, denn es wird nur der Raum zur Verfügung gestellt, auf dem sich Shakespeare genauso wie Brecht oder Roi Ubu aufführen lassen. Und dennoch würde es irritieren, wenn beim Berliner Ensemble Unterhaltungs-Klamauk gespielt würde oder auf einer Kleinstadtbühne Christoph Schlingensief sein Theater aufführen würde. An zeitgenössischen Porträts wäre hier vielleicht vor allem Cindy Sherman zu nennen, die sich immer wieder selbst porträtiert, aber in ganz unterschiedlichen Rollen - aber gerade diese Herangehensweise macht ihre Einzigartigkeit und Rang in der Kunst aus. Und dies ist ganz ähnlich bei der Ehebrecherin aus Joh 8,1ff., die auch auf ihrer Bühne/Körper verschiedene Männer vorüberziehen lässt. Die (teilweise) wohl austauschbar gewesen wären, aber gleichzeitig auch ihre Spuren bei ihr hinterlassen haben. Aber diese Männer sind nicht diese Frau, es ist nicht ihr Wesen, dass sich hierin ausdrückt. Die Pharisäer versuchen aber sie auf diesen Aspekt  als „Ehebrecherin“ festzunageln und zu verurteilen. Jesus bringt dies wieder in Bewegung, so dass er die Frau nicht als Ehebrecherin festlegt und darauf reduziert. Und zeigt darüber hinaus, dass auch die Pharisäer nicht auf einzelne Aspekte bzw. Taten ihres Lebens festgelegt werden wollen, so dass niemand den ersten Stein wirft. Dabei kommt die ganze Tiefe von Jesus Haltung erst dort zur vollen Geltung, wo er auch die Pharisäer in ihren guten Taten und theologischen Gelehrsamkeit verwirft. Der Mensch hat sein Wesen eben gerade nicht in Festlegungen (auch nicht wenn dies elaborierte theologische Begrifflichkeiten und Dogmen sind) und auch nicht in guten oder schlechten Taten. Jesus selbst geht genau darüber hinaus. Diese dritte Form der Demut ist nämlich nicht die Vermeidung schlechter Taten, noch dass feste Gründen in einer moralischen Lebensweise. Beide „kleben“ noch an den einzelnen Theaterstücken, die jeweils aufgeführt werden. Jesus dagegen „urteilt selber gar nicht“ (Joh 8,15), er hat losgelassen und ist frei für das, was sich in ihm ereignet. Mit diesem Loslassen ist aber keine „Blässe“ oder Beliebigkeit verbunden, denn Jesus ist äußerst Charaktervoll in seinem Leben und Umgang (genauso wie die vielen Zen-Meister insbesondere der Tang-Zeit). Und genau dies ist die Ambivalenz, die Nancy im Porträt herausarbeitet. „Dem wäre nur hinzuzufügen, dass dieser ‚falsche Schein‘ gerade das wahre Scheinen des Subjekts und des Bildes ist, das Schillern, durch das sich die Absenz von sich und in sich selbst als Präsenz in der Welt und gegenüber den anderen darstellt. Doch diese Präsenz präsentiert sich als das, was sie ist - nicht als ‚etwas‘, sondern als das unhintergehbar ‚Eigene‘ jeden ‚Seins‘, als das ‚Eigene‘, das weder ‚eigentümlich für‘ etwas noch die Eigenschaft ‚von‘ jemandem ist, weil nur er oder sie allein das Sein ist, das er/sie ist. Wenn das Bild Anwesenheit einer Abwesenheit ist, dann ist das Porträt, das absolute Bild, Anwesenheit der wesentlichen Abwesenheit, eine Abwesenheit, die so wesentlich ist, dass sie ihr eigenes Bild verrückt, es mal aufblitzen, mal untergehen, mal schillern, mal abschrecken oder erschrecken und so das unerschöpflich Neue des immer wieder anderen geschehen lässt.“ (Nancy: 2012: 86f.) Wenn man noch einmal die Ehebrecherin aufgreift, so nehmen die Pharisäer den Tatbestand des Ehebruchs und sortieren sie begrifflich in ein Moralsystem ein. Jesus aber malt ein Porträt von ihr (damit können wir hier eine weitere Spekulation präsentieren, was Jesus in dieser Szene in den Sand zeichnet - zugegeben, dies ist genauso wenig überzeugend wie alle anderen bisher vorgelegten Erklärungsversuche hierzu). Und er malt sie ganz deutlich, auch mit ihren Männern und betont dabei, dass dies nicht ihre Ehemänner sind. Jesus verschweigt in diesem Porträt nichts, beschönigt nicht. Er malt die Frau, so wie sie ist. Aber sie ist eben nicht nur dieser Tatbestand des Ehebruchs, sondern vielmehr zeichnet Jesus sie so, dass durch diese Männer hindurch die Frau als Person auftaucht: Jesus lässt das, was für die Pharisäer abwesend ist (und vielleicht in diesem Moment auch für die Frau selbst) wieder als anwesend aufscheinen. Er lässt die wesentliche Abwesenheit aufscheinen, der göttlich Abgrund, der in ihr selber ist. Und genau so ist Jesus Gottes Sohn, nicht in erster Linie qua Abstammung, sondern weil er die Menschen zu dieser anwesenden Abwesenheit führt, die ganz tief sich in jedem immer schon ereignet und immer aufs Neue. D.h. wenn das Porträt nicht nur konkrete andere Möglichkeiten in mir aufdeckt, sondern mich als Möglichkeit und Offenheit schlechthin und damit als „wesentliche Abwesenheit“, kann ich mich eben nicht mehr nur durch die Augen eines Mitmenschen betrachten, sondern durch das „Auge“ des ganz Anderen, nämlich im Gebet durch Gott. Dies ereignet sich in dem Moment wo Jesus hier das Porträt der Frau zeichnet.

Ein Hinweis was sich hier ereignet liefert eine Zen-Geschichte von Dongshan Liangjie (洞山良价). Nämlich als Dongshan nach langen Lehrjahren bei seinem Meister und nachdem dieser gestorben war zum ersten Mal alleine auf Pilgerreise ging, traf er eine alte Frau, die Wasser trug, und bat sie, um etwas zu trinken. Die alte Frau sagte: „Ich gebe dir etwas, aber zuerst habe ich eine Frage: Sag mir, wie schmutzig ist das Wasser?“ Dongshan antwortete: „Es ist überhaupt nicht schmutzig.“ Die alte Frau erwiderte: „Geh weg und verschmutze nicht meine Wassereimer!“ Während er weiterging, wuchsen in Liangjie immer mehr Zweifel ausgehend von dieser Begegnung mit der Alten. Als er eines Tages einen Fluß überquerte, sah er sein Spiegelbild im Wasser und hatte eine tiefe Erkenntnis. Auch Jesus schickt die Ehebrecherin weg, mit den Worten, dass sie nun nicht mehr sündigen soll. Ähnlich wie Dongshan wird in ihr dies viele Zweifel genährt haben, dass dies eigentlich unmöglich ist. Und vielleicht hat dies genauso wie die Bemerkung der alten Frau bei Dongshan in ihr die gleichen quälenden und ausweglosen Zweifel ausgelöst, so dass diese sie dahin getrieben haben, dass auch sie ihr wahres Porträt zu sehen bekam. „Das Porträt baut vor uns etwas auf und in bestimmter Hinsicht ab, was kein Objekt ist, aber auch nicht die bloße Eklipse, durch die ein ‚Subjekt‘ nicht aufhört, in seinem Erscheinen selbst zu entschwinden - jene Eklipse, die eine Stimme sein kann, eine Geste oder ein Wimpernschlag. Das Porträt organisiert ein Aufscheinen des Entschwindens, hält es fest zur gleichen Zeit, in der es sich ihm fügt.“ (Nancy 2012: 71) Jesus und die alte Frau machen beide nicht ihr Gegenüber auf etwas Konkretes aufmerksam, sie üben keine gezielte Kritik bezogen auf bestimmte Handlungen oder Einstellungen, sondern es ist eher ein Hinweis, ein Wink oder ein Zuzwinkern. Damit wird ein Anstoß gegeben, aber nicht die konkrete Richtung oder gar ein detaillierter Weg beschrieben. Nancy greift den Wink und das Zwinkern an einer anderen Stelle auf, ausgehend von einer Stelle aus Heideggers „Beiträgen zur Philosophie“, so das Nancy den folgenden Satz von Heidegger zitiert: „Der letzte Gott. Seine Wesung hat er im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als auch der Flucht der gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung.“ (Heidegger 1989: 409) In diesem Wink ist man noch nicht im „Himmelreich“, denn der Wink ist der Ausblieb der Ankunft, es ist bestenfalls Aufbruch, der sich auf den Pilgerweg zu den flüchtenden Götter macht. Mit den gewesenden Göttern muss dabei keine „goldene Zeit“ gemeint sein, wie die Zeit als Jesus lebte, oder Moses, Mohammed oder der Buddha oder Laozi oder Chuangzhe. Es ist eher biografisch gemeint, wo der Glaube der Kindheit noch viel konkreter und spürbarer ist, sich aber zunehmend „verflüchtigt“. Daraus kann man die Konsequenz des Atheismus ziehen, oder sich auf den anspruchsvollen Weg machen, Gott als diese Leere, diesen Entzug und diese Sehnsucht zu erfahren und sich ereignen zu lassen. „Das ist die göttliche Wahrheit des *Winks: Sie beruht darin, dass es kein Zwinkern des Gottes gibt, sondern dass der Gott das Zwinkern ist. Er macht es nicht, er zwinkert sich selbst darin […] Mitten im Zwinkern schließt sich das Auge, und im Wechselschlag von Offen/Geschlossen, in der synkopierten Synthese des allgemeinen Sinns oder Gemeinsinns und des eigentlichen Anrufs (‚du!‘ macht der *Wink, ‚dich meine ich!‘, ‚komm!‘ oder auch ‚geh!‘) geht der Passant vorbei. Eine Komplizenschaft entspinnt sich vom Vorbeigehenden zum Existierenden, eine flüchtige Komplizenschaft, die différance ihrer Sinne, die über die Differenz zwischen ihnen passiert.“ (Nancy 2008: 204) Für Nancy ist das Zwinkern nicht nur ohne konkrete Aussage, sondern er löst auch auf, dass es hier einen Gott gibt, der dann zusätzlich auch noch Zwinkern kann. Gott ist das Zwinkern und nichts sonst, er ist nicht unabhängig von diesem Zwinkern zu erfahren. Gott ist damit auch niemand, der etwas Konkretes von einem fordert, z.B. der Richter, der die Gebote gegen mich durchsetzt. Er ist „nur“ Aufbau von Bezug, er ist Ansprache: er ruft mich an, in meiner tiefsten Einsamkeit, die ich in mir erfahre. Die Einsamkeit, die ich in meinem Ego immer erleben muss und die nur immer kurz durch menschliche Begegnungen geteilt werden kann, die aber Angesichts des Todes der anderen und meiner selbst, in ihrer ganzen Wucht immer wieder aufbricht und als unaufhebbar sichtbar wird. In diese Einsamkeit vernimmt man dann dieses Zwinkern, dieses ganz leise „Hey, du!… ich bin da! ῎Εσομαι μετὰ σοῦ!“.

Dieses zuzwinkernde Anrufen baut eine Beziehung auf, sie bahnt den Anfang eines Einvernehmens auf. Aber eines Einvernehmens, dass auf keine Gewissheit aufbauen kann, weder ob ich diese Stimme mir nur einbilde noch ob ich durch diese Zusage „Ich bin da! Ich bin dir nahe!“ wirklich gehalten bin. Es bleibt Glaube, der nie Gewissheit haben kann und trotzdem alles auf diese Karte setzen muss. Es gibt nur diesen Sprung in diese Zusage oder ich bleibe stehen, verkümmere und erstarre in meiner Persona, d.h. ich bin nur noch Rolle in einem gesellschaftlichen Anerkennungsspiel. Nancy schreibt weiter zum Zwinkern: „Der Mensch ist im Einvernehmen mit GOTT. Das Einvernehmen ist stumm, es begnügt sich mit dem *Wink und in ihm überschreitet es den Sinn, den Blick und schließlich den Gott selbst. Das ist der göttliche Zug oder die göttliche Geste: GOTT wird in seinem eigenen Vorbeigang überschritten. In diesen kommt er und von diesem geht er fort, er ist der Vorbeigehende seines Vorbeigangs. Der überschrittene Gott ist nicht das zu Tode gebrachte höchste Seiende. Es ist GOTT, der auf GOTT folgt […] Doch gilt es zu präzisieren: Es ist die Aufeinanderfolge, die göttlich ist. Es ist der Vorbeigang als Übergang - als Stabübergabe (passage de témoin) und als Vorbeigang des Schrittes, des pas. Das pas ist der göttliche Ort, der einzige, der Ort, wo die Kraft des Vorbeigehenden sich signalisiert und sich überschreitet, über sich hinausschießt. Es bleibt jedoch die Möglichkeit, dass der Blick das Einvernehmen in der Gewalt seines Starrens gefangen nimmt. Dann geht der Gott nicht mehr vorbei: Er wird zu GOTT. Dann kippt die différance - nicht einmal in Transzendenz (denn ist sie in Wahrheit nicht Widerhall der Bewegung des (sich) Transzendierens?), sondern in ein als Herrschaft errichtetes Transzendentes.“ (Nancy 2008: 205) Gott ist hier der Vorbeigang und er ist nichts als dieser Vorbeigang. Die Bibel hat hierfür ein sicheres Gefühl, so dass sich selbst Mose Gott nicht zeigt, sondern auch nur im παρελεύσομαι πρότερός, d.h. Gott zeigt sich vor Moses nur vorüberziehend, während er Moses Angesicht bedeckt und sich lediglich von hinten von ihm sehen lässt. Das Griechische kennt als Übersetzung für dieses Wort auch das Vorübersegelnde, was noch einmal mehr die Ruhe und die Leichtigkeit des Dahingleitens spürbarer macht. Auch hier ist Gott nur als der Gewesende (wie Heidegger schreibt) von Moses erfahrbar, es ist der Gott auf der Flucht und im Vorbeigang. Gott ereignet sich in diesem pas, dem Nichts, dem Gewesenden. Zerrt man dieses Nichts der Begegnung aber in ein begriffenes Seiendes, so erstarrt diese Begegnung. Sie wird zum Foto von einer Begegnung, bestenfalls Erinnerung, aber sie ist keine Begegnung mehr. Dies verschärft sich noch einmal, wenn dieses Foto sogar nur noch die Begegnung von jemand anderem mit Gott ist. Oder noch weiter weg, nur noch Spekulationen über ein Foto von einer Begegnung, die vor Jahrhunderten jemand gemacht hat, von seiner Begegnung mit Gott (hierin ist Josef Ratzinger der Meister). In einer wahren Begegnung geht es aber nicht und dieses archivieren, sondern immer nur um den Ausruf: „Mein Gott!!!“ (Nancy 2021). Und diese Begegnung ereignet sich nur immer wieder, wenn man dies nicht festhält und nicht „begreift“. „Ein anderer, der nur sein Schritt, sein pas ist und in diesem pas der *Wink von/zu dieser Veränderung des Sinns: Denn eigentlich ist, was er signalisiert, vielmehr eine Veränderung als eine Andersheit. Sein pas verändert selbst das Kommen oder das Geschehen des Ereignisses: Es trifft nicht ein, es geht vorbei. Der *Wink des a und das a wie irgendeiner, der vorbeigeht - und dieser Vorbeigehende wie dieser Gott, der vorbeigeht. Der Vorbeigang des Gottes ist identisch mit seinem Entzug.“ (Nancy 2008: 205f.)

Wenn Gott in seiner Begegnung immer auch Entzug ist, so lässt sich auch verstehen, warum Jesus die Pharisäer kritisiert. Denn die Pharisäer leben in der Illusion, dass sie durch ein eifriges Schriftstudium Gott begriffen hätten - dabei ist Gott nie zu begreifen, sondern bleibt immer entzogen und entflieht jedem menschlichen Begriff, Verstehen und Wissen. Gott bleibt immer zutiefst Glauben, und damit auch Hoffnung und liebende Sehnsucht (1 Kor 13,13). Aber Jesus geht hier noch weiter, als dass er nur die Grenzen des Wissens der Pharisäer aufweist (ähnlich wie Deshan Xuanjian (德山宣鑑), der seine Studien des Diamand-Sutra verbrannt hat, weil diese zwar hinführen können, aber nie das Wesen der Wirklichkeit erfassen und diesen Zugang irgendwann auch versperren, wenn über einen gewissen Punkt hinaus, daran festgehalten wird). Denn Jesus spricht den Pharisäern nicht nur ab, die „Ehebrecherin“ nach ihrem Wissen zu be- und verurteilen, sondern er lässt sie den Entzug Gottes direkt erfahren. Denn nicht nur ihr menschliches Wissen wird Gott nie gerecht, sondern auch ihr Leben, auch wenn sie dieses noch so moralisch leben. Denn keiner wirft einen Stein, sondern alle verlassen leise und demütig den Ort. Aber was geschieht hier genau? Hans Urs von Balthasar sieht hierin ein ausgesetztes Urteil, was erst am Ende der Zeiten gesprochen wird. Aber wenn man Gott als den vorbeiziehenden, sich entziehenden, flüchtenden Gott sich ereignen lässt, ist zu prüfen, ob dieses Verständnis richtig ist, wie Balthasar dies versteht (und er hat hier sicherlich viele christliche Gewährsmänner der Tradition auf seiner Seite), d.h. brauchen wir ein jüngstes Gericht, was diesen Entzug Gottes irgendwann aufhebt? So schreibt Balthasar: „In der Szene mit der Ehebrecherin bohrt sich das Wort des Herrn in die verurteilenden Sünder ein und zwingt sie, abzutreten und das Urteil des Wortes als Strafe in sich fortzutragen, um derart Platz zu machen dem Gericht der Barmherzigkeit: ‚So will auch ich dich nicht verurteilen‘ (Joh 8,11, im Sinne von Joh 12,46-48). Es ist, als überließe Gott den Sünder seinem verzehrenden Widerspruch zu Gottes Spruch, der in ihm steckenbleibt wie ein ‚Pfahl im Fleisch’. Je mehr er dagegen ausschlägt (Apg 26,14), um so härter wird es ihm, er treibt sich den Schmerz nur tiefer ins Fleisch hinein. Der Sünder hat das Urteil in sich; er wird es schließlich sein, der im Lichte Gottes sich selber verurteilen muß. Nur Gottes Licht wird auf ihn fallen, nichts anderes: aber so lange, bis der Widerspruch ganz und nackt hervorgetreten ist, bis der Urteilsspruch über den Sünder an diesem selbst, am Wort Gottes in ihm, ablesbar wird. Petrus hat etwas davon erfahren, als er im brennenden Lichte stehend die Bitte tat: ‚Herr, gehe weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch‘ (Lk 5,8), und der verlorene Sohn: ‚Vater, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen‘ (Lk 15,22).“ (Balthasar 1955: 208f.) Balthasar geht hier davon aus, dass Jesus nicht richtet, weil er möchte, dass die Pharisäer selber zu einem moralischen Urteil über sich selber kommen und sich dann auf diese Weise selber richten. Sie sollen ihren eigenen Widerspruch erkennen und Jesus will nur den Anstoß geben, diesem Widerspruch auf die Spur zu kommen, so dass im Anschluss ihr ganzes widersprüchliches Leben ihnen bewusst wird. Inwiefern dieser „Pfahl im Fleisch“ dann Barmherzig ist, erklärt Balthasar hier nicht, denn es scheint zwar eine wirksame Methode, die aber sicher eher grausam ist. 

Für Balthasar hat die „Ehebrecherin“ den gleichen Weg zu gehen wie der verlorenen Sohn. Beide haben gemeinsam, dass sie Sex außerhalb der Ehe mit verschiedenen Personen hatten und sich so von der moralischen Ordnung abgewandt haben. Der verlorenen Sohn steht dann irgendwann pleite da, die „Ehebrecherin“ wird von den Pharisäern vor ein Gericht gezerrt. Beide wissen an dieser Stelle nicht mehr weiter. Der verlorene Sohn trifft dann die Entscheidung zu seinem Vater zurückzukehren, der „Ehebrecherin“ ermöglicht Jesus die Chance Umkehr anstatt dem Tod durch Steinigung. Was die „Ehebrecherin“ dann tut bleibt bei Joh 8 allerdings offen, sie soll nur nicht mehr sündigen. Vom Sohn wird dagegen erzählt, dass er zum Vater zurückkehrt, allerdings ganz demütig, er will nicht als Sohn aufgenommen werden, sondern nur als irgendein Mensch und Angestellter. Er streift damit jeden Status ab, den er als Sohn hat (jedes Sosein als essentia) und ist nur noch ein Mensch (Dasein als existentia). Das ist die Lektion, die der Sohn hier gelernt hat und dass er als solcher Mensch vom Vater angenommen wird - so die Lesart hier, die sich auf den verlorenen Sohn bzw. die Ehebrecherin konzentriert. Die wissenschaftliche Theologie sieht dies in ihren Hauptströmungen aktuell ganz anders. Dies zeigt sich auch darin, dass das Gleichnis umbenannt wird, in „Gleichnis vom gütigen Vater“ oder „Gleichnis von den zwei Brüdern“. So zeigt sich für Ratzinger in dem Gleichnis zunächst, dass der verlorene Sohn seine falsche Freiheit erkennt (in meiner Evangelien-Ausgabe steht allerdings nur, dass der Sohn existentiellen Hunger hat und keine moralischen Gewissensbisse der Auslöser der Umkehr sind) und damit sich wieder den gesellschaftlichen Normen des Vaters unterwirft: „Der Mensch, der Freiheit als radikale Willkür des bloß eigenen Wollens und Weges versteht, lebt in der Lüge, denn von seinem Wesen her gehört er in ein Miteinander, ist seine Freiheit geteilte Freiheit; sein Wesen selbst trägt Weisung und Norm in sich, und damit von innen her eins zu werden, das wäre Freiheit. So führt eine falsche Autonomie in die Knechtschaft: Die Geschichte hat es uns inzwischen unübersehbar gezeigt.“ (Ratzinger 2007: 244) Als Professor und Pabst darf man vermutlich solch spektakulären Schlüsse ziehen, aber als einfacher Gläubiger darf man auch nicht alles glauben. Denn leiten sich vom Miteinander direkt die Normen des Vaters ab? Und ist es die Aufgabe genau diese traditionellen Normen zu verinnerlichen? Und das der Weg des verlorenen Sohnes so unübersehbar falsch ist, ist wohl auch nur für bestimmte Menschen „unübersehbar“. Klar ist es als Eltern immer schön und bequem, wenn die Kinder das tun, was man sagt - aber will man das eigentlich? Oder nicht doch eher ein Kind mit einem eigenen Kopf und Charakter, auch wenn dies doch häufig viel anstrengender ist, aber auch nur so ein eigener Mensch wird? Klar ist es als Kirche schön, wenn Sonntagmorgen die Bänke in der Messe voll sind und die Leute nicht mit Kater im Bett liegen - aber will man nur diese Leute, die die Messe der Party vorziehen? Und lebt nicht auch Kirche aus diesen Reibungen und Heterogenität wie sie #OutInChurch etwa mitbringen? Und eine wirkliche und notwendige Kontroverse besteht nicht zwischen Maria 1.0 und Maria 2.0 oder dem Synodalen Weg, dies kann nur ein kleiner Teil sind, denn dies sind immer noch die Söhne, die nie aufgebrochen sind, sondern brav zuhause geblieben sind (denn Maria 2.0 leitet sich ja von Arbeit 2.0 ab, wo 2.0 aber um die Jahrhundertwende war, allerdings vom 19. ins 20. Jahrhundert und wir mittlerweile längst bei Arbeit 4.0 angelangt sind, was wir auch in der Kirche brauchen). Ratzinger sieht dies alles nicht, sondern „das Wesentliche ist jetzt eindeutig die Gestalt des Vaters.“ (Ratzinger 2007: 246) Allerdings ist hier dann schon die Frage, ob der Vater für die Anerkennung der Norm steht (und welche ist dies dann?) oder für die Offenheit jemand wieder aufzunehmen, ohne dass dieser direkt die Normen des Vaters übernimmt. Denn der jüngere Sohn ist ein anderer geworden, als der ältere Sohn. Sein Weggang und Autonomie hat mit ihm etwas gemacht, was wichtig ist und wo es nicht nur darum geht, dass er letztlich es wieder zur Anerkennung der traditionellen Norm gekommen ist. Es war gut für ihn und die Ehebrecherin, dass sie mit vielen Leuten gefickt und gesoffen haben. Dies muss deswegen noch lange nicht jeder (nach)machen, man kann auch darauf verzichten wie Herr Ratzinger, aber Kirche sollte wesentlich auch aus diesen unterschiedlichen Lebenserfahrungen leben. Und dazu gehört mehr, als nur barmherzig die verlorenen Schafe wieder aufzunehmen, die nun wieder alles anerkennen was aus Rom kommt. Es ist ein wenig so wie die Oma, die ihrem alkoholabhängigen aber nun trockenen Enkel sagt, dass sie ihm schon immer gesagt hat, dass er Wasser und nicht Schnaps trinken soll. Die beiden leben einfach in verschiedenen Realitäten und der Enkel wird sicherlich nicht in der Realität der Oma leben in seiner Trockenheit - auch wenn sie jetzt beide ein Glas Wasser trinken (aber das Wasser schmeckt beiden gänzlich anders). Und dass es hier nicht allein um diese Barmherzigkeit gehen kann, zeigt recht deutlich die Erzählung von André Gide, in der er den Sohn wieder aufbrechen lässt, weil das immer wieder Aufgenommenwerden so schön ist und außerhalb des väterlichen Hauses eben doch mehr los ist (siehe hierfür Berger 2011: 271, der aber andere Schlüsse daraus zieht). Denn dann hätte der Sohn nicht das Wesentliche gelernt auf seiner „Pilgerfahrt“ im Aufbruch aus dem Vaterhaus (ähnlich wie der Alkoholiker, der eigentlich Weitertrinken möchte). Aber genauso geht es nicht darum, dass der jüngere Sohn nun einsieht, dass der Vater und ältere Bruder schon immer Recht gehabt haben mit ihrer „Weisung und Norm“ und der Jüngere nun einfach klein beigibt. Sondern der jüngere Sohn hat etwas in seinem Aufbruch erfahren (auch im Sinne Rahners (1966: 11ff.)), der sich nun in Freiheit selber unter eine Norm stellen kann, die aber eben aus Erfahrung schöpft und nicht aus der Unterwerfung unter angelernte Traditionen. In der Theologie heute geht es in dem Gleichnis im Schwerpunkt aber gar nicht mehr um diese Erfahrung, die der jüngere Sohn macht, sondern um die Barmherzigkeit des älteren Sohnes und des Vaters. So schreibt Söding hierzu: „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) endet bekanntlich mit einem offenen Schluss. Ob der ältere Bruder, der stets alle Gebote seines Vaters erfüllt hat, verstockt draußen bleibt oder hereinkommt und mitfeiert, wird nicht erzählt. So steht zu vermuten, dass Jesus das Gleichnis Menschen erzählt, die sich eher mit dem älteren als den jüngeren Sohn zu identifizieren geneigt wären. Was gut wäre, ist klar; der Anspruch des Gleichnisses unüberhörbar. Nur wer die Entrüstung über die Sünden des verlorenen Sohnes teilt und zum Mitleid fähig ist, kann sich über das Fest der Auferstehung von den Toten freuen, das der Vater in seiner Liebe ausrichtet. Aber das Gleichnis ist so gut erzählt, dass es den Hörern leicht gemacht wird, diesen Weg über die Verurteilung des Sünders zur Versöhnung zu gehen, also nicht draußen zu bleiben, sondern hereinzukommen.“ (Söding 2011: 327) Wahrscheinlich ist eine andere Vermutung auch nicht ganz falsch, nämlich dass wir heute eine Kirche der älteren Brüder haben und das dem die Theologie auch entspricht. Es sicher richtig das vom Charakter ältere Brüder wie Herrn Ratzinger gibt, die gut die überkommene Tradition verwalten und bewahren, damit man aus den Erfahrungen vergangener Menschen lernen kann. Aber es sind nicht die eigenen Erfahrungen und es sind auch Erfahrungen, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten gemacht wurden und nicht direkt übertragbar auf das Heute sind. Eine Kirche der älteren Brüder ist letztlich eine tote Kirche und es fehlen immer mehr die kleinen Brüder und Schwestern (ganz im Sinne von Charles de Foucauld (1976; 1976a), der biografisch eben genau diese Laufbahn des verlorenen Sohnes gegangen ist und daraus seinen authentischen Glauben geschöpft hat). Die Frage ist, warum die kleinen Brüder und Schwestern heute nicht mehr zurückkehren? Zum einen gerät man heute nicht mehr so schnell in existentielle Notlagen außerhalb der Kirche, weder materiell noch geistig-spirituell. Und zum anderen ist das Gleichnis zwar sicher „gut erzählt“ (Söding) und überzeugt für eine Aufnahme der jüngeren Brüder und Schwestern. Aber wird dies auch praktiziert? Sind selbstbewusste Frauen oder Homosexuelle, die bewusst ihren Weg auch unabhängig von der Lehre Kirche gegangen sind, tatsächlich wieder herzlich willkommen? Und ist dieses Willkommen nicht manchmal auch ziemlich vergiftet, wie dies im Zitat von Ratzinger, der zwar für Barmherzigkeit wirbt, aber gleichzeitig sagt, dass man erkennen muss, dass diese Freiheit falsch war und man diesen Umweg nur gebraucht hat, um die Normen des Vaters und des älteren Sohnes nun endlich anzuerkennen? Von vielen wird Kirche heute genau so wahrgenommen, wo es nachvollziehbar ist, dass sie so unattraktiv ist. 

Ratzinger schreibt "sein Wesen selbst trägt Weisung und Norm in sich“ (Ratzinger 2007: 244), aber wird dabei nicht viel zu oft, dieses „in sich“ überlesen bzw. wird dieses „in sich“ so gelesen, dass ich eine allgemeingültiges Gesetz und den Katechismus in mir trage? Vielleicht kann man es besser als dem Gehorchen der Norm als dem Loslassen des eigenen Ego und dem Hören auf den je eigenen Ruf, den Gott an nur mich ganz persönlich richtet, verstehen. Und dieser Ruf ist dann Norm für mich, aber für niemanden anderen und kann für mich bedeuten, dass ich ausziehen muss , um Sex mit vielen Menschen zu habe, wie der jüngere Bruder und die Ehebrecherin. Denn gerade erst aus dieser Ego-Zentrierung, der es nur um die eigenen Bedürfnisse geht, können sie erst ein wahres Loslassen erfahren. „Das bedeutet in erster Linie, von sich selbst als Mitte und Maß des eigenen - aber auch fremden und gemeinschaftlichen - Lebens abzulassen, wie es klassisch in RB 7,19 [Regula Benedicti] heißt: ‚Den Eigenwillen zu tun, verwehrt uns die Schrift, wenn sie sagt: ,Von deinem Willen wende dich ab!’‘" (Doppelfeld 1996: 37) Aber gerade der Benediktinermönch hat ein sehr feines und sehr realistisches Gespür dafür, was eigentlich Gehorsam bedeutet. Denn ein verbitterter Gehorsam, wie der des älteren Bruder, ist eben keine tragfähige Grundlage und gerade im Kloster wird dann deutlich, was wirklich trägt, wenn man allein dies verbitterte, angelernte Gehorchen hat, woraus man lebt (wo man als Laie sich doch immer noch viele legitime und scheinheilige Ausflüchte leisten kann). So schreibt Doppelfeld sehr hellsichtig weiter: „Es geht um den Gehorsam im weitesten Sinn, und dabei um mehr als um eine Aufgabe des eigenen Willens und eine fraglose Unterordnung unter den Willen Gottes, der gesehen wird im Willen und Wort eines Obern. Sich selbst loslassen kann nur, wer sich zunächst zuläßt. Das aber beinhaltet Selbsterkenntnis und Annahme seiner selbst. Der Mensch muß zu sich selbst ja sagen, aber er darf nicht dabei stehen bleiben, darf darin nicht aufgehen. Sonst sieht er alles, was er verlassen hat, und den Verzicht auf ein Leben aus seinem Ich trotz des freiwillig geleisteten Verzichts immer noch und nur als Verlust an. Nur wenn der Mensch sich selbst zuläßt und dann dennoch ‚von sich läßt‘, ist er zu einer Existenz fähig, die nicht nur der Welt verhaftet ist, sondern sich auch Gottes Wirken öffnet.“ (Doppelfeld 1996: 37) Doppelfeld benennt hier, dass die Bereitschaft das eigenen Leben am Willen Gottes auszurichten, eben nicht damit gleichzusetzen ist, was die Obrigkeit „allgemein“ unter diesen Willen versteht (bei den Benediktinern kann man gerade bei Herwegen (1944) diese Überbetonung des Oberen beobachten, auch wenn sein Kommentar in vielen anderen Punkten sehr tiefsinnig ist). Sondern es geht darum, sich erst selbst zuzulassen. Der kleine Bruder und seine kleine Schwester, die Ehebrecherin, lassen genau dies zu und töten nicht von Anfang an alles Eigene in sich ab oder lassen dies vertrocknen oder noch schlimmer lassen dies versteckt gären und brodeln. Denn wenn ich nichts Eigenes zulasse ist Loslassen nur Verlust und Defizit. Big Brother und die Pharisäer sind nur Über-Ich und haben nie etwas Eigenes besessen, außer dem Gram und Neid auf ihre kleinen Geschwister. Die sind ihrem Ego gefolgt, haben dabei viel erlebt und genossen - sind aber letztlich auch ganz tief gefallen und standen am Abgrund, lagen in der Gosse (wie die AA sagen würden). Aber erst diese Erfahrung macht sie für ein wahres, unverbittertes Loslassen fähig. Und zwar ein ganz tiefes Loslassen, was nicht nur braves und blindes Gehorchen ist. Sondern ein Loslassen aus einer tiefen und eigenen Erfahrung heraus. Aus dieser Erfahrung muss Glauben leben, der sowohl das Eigene als auch das Loslassen selbst auf jeweils einzige Art erfahren hat (allerdings ist es hierfür nicht für jeden notwendig mit fünf Männern fremdzugehen, aber für manche eben schon). Und eine abschließende Warnung Doppelfelds soll hier umkommentiert noch zitiert werden, die sicher nicht nur bei den Mönchen zu finden ist: „Hinzu kommt die Beobachtung, ja Erfahrung, daß wer sich nicht losläßt, andere und anderes festhält oder dann im Kloster versucht, es zurückzuholen. Als Heilmittel gegen die Pervertierung dieses mißlungenen Loslassens nennt Benedikt ausdrücklich die Entlassung oder gar das aus dem Kloster Verstoßenwerden, und zwar interessanterweise gerade im Zusammenhang mit Mönchen, die auf irgendeine Weise aus der Gemeinschaft herausragen, also versucht sind, sich für etwas Besseres zu halten.“ (Doppelfeld 1996: 37)