Herz-Sutra
Zerteiltes, aber verbundenes Herz
Übersetzt zusammen mit George Spencer Brown,
auf dem Mariahilfbergl, 01.01.2021
Guanzizai ist Bodhisattva, weil sie auf dem tiefen Werdegang des Denkens hört und uns hineinwinkt.
Realisiere, dass die fünf Autopoiesen lediglich Markierungen im unmarked space setzen, wodurch du das Joch der quälenden Festlegungen abstößt.
Shelizi, Form ist nicht getrennt vom unmarked space, unmarked space ist nicht getrennt von Form. Form ist unmarked space, unmarked space ist Form.
Folglich gilt dies auch für Empfänglichkeit, Konstrukt, einordnendes Wissen und Bewusstsein:
Shelizi, der unmarked space ist die Grundlage von Allem. Er wird nicht, noch vergeht er. Er wird nicht befleckt, noch gereinigt. Er nimmt nicht zu, noch ab.
Der unmarked space wird nicht begrenzt durch Form, folglich auch nicht durch Empfänglichkeit, Konstrukt, begriffliches Wissen oder Bewusstsein.
Er ist nicht fassbar für Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper und Geist; er ist nicht fassbar durch Formen, von Geräusch, Geruch, Geschmack, Berührung oder andere Wahrnehmung. Er ist nicht fassbar für die Sinne noch das Bewusstsein.
Er ist kein Wissen, aber deswegen auch kein Unwissen, genauso ist er kein Verfall und Tod, aber deswegen hebt er Verfall und Tod noch nicht auf.
Es ist kein Festhalten, noch Werden und Vergehen und kein dogmatischer Weg.
Es ist kein Erreichen letzter Wahrheiten, weil es Nichts zu erreichen gibt.
Zuhause sind Bodhisattvas im Praktizieren des Prajnaparamita, mit vollem Herzen und ohne Furcht, weil es nichts zu befürchten gibt, denn es gibt keine Angst. Weit entfernt von verwirrendem Wunschdenken, letztlich nur ins Nirvana hineinwinkend.
Alle Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind zuhause im Prajnaparamita, und dadurch stehen sie in der überbordenden Weisheit.
In das Prajnaparamita gelangt man durch das heilige Mantra, das erleuchtete Mantra, das nicht zu übertreffende Mantra und das unvergleichliche Mantra.
Es hat die Kraft, von allen Festlegungen zu lösen; es ist essentielle und nicht dogmatische Lehre.
Deswegen spricht das Prajnaparamita im Mantra – so sprich du jetzt das Mantra:
Auf! Auf! Brich auf! Brich auf zum anderen Ufer…aufsteigendes Licht!
揭諦揭諦...
Guanzizai ist Bodhisattva, weil sie auf dem tiefen Werdegang des Denkens hört und uns hineinwinkt.
Guanyin (观音, Sanskrit: Avalokiteśvara) wird vor allem mit dem Mitgefühl verbunden. In der buddhistischen Überlieferung kann Guanyin jede „menschliche“ Form für eine Begegnung annehmen, vom Buddha bis hin zu jedem Mann oder Frau, um die Menschen das Dharma zu lehren und im Leiden beizustehen. Auch deswegen wird sie teilsweise als Mann oder Frau dargestellt. Auch in dem Pilgerroman „Reise in den Westen“ (Wu 2019) ist Guanyin immer sozusagen der „Last Resort“, der alles dann wieder richtet.
Aber der Name als Langform Guanzizai (观自在) kann auch bedeuten, derjenige, der die Geräusche oder Schreie der Welt hört (die Schreie finden sich in der Übersetzung von Kumarajiva Guanshiyin (觀世音)). Guanzizai ist also immer da und jedem Menschen nahe, um jeden noch so verborgenen und geheimen Schmerz zu hören und diesen als nicht vergeblich und teilnehmend aufzuheben und mitzutragen. So findet sich im Lotus-Sutra die Beschreibung über sie als den „perceiver of the world’s sounds“: „Good man, suppose there are immeasurable hundreds, thousands, ten thousands, millions of living beings who are undergoing various trials and suffering. If they hear of this bodhisattva Perceiver of the World's Sounds and single-mindedly call his name, then at once he will perceive the sound of their voices and they will all gain deliverance from their trials. “ (Watson 1993: 298f.)
In diesem Sinne kann sie auch als Mitbeterin verstanden werden und begleitet so das eigene Gebet, wie im Christentum der Heilige Geist (Röm 8, 26). So ist das Gebet hier ein mitleidendes Schreien aus dem Abgrund der Welt hinauf und hinaus. Ein Gebet, was aus der tiefsten Einsamkeit kreischt und ruft, und sich doch nicht darin allein fühlt durch den Beistand von Guanyin. Ein Gebet, das ganz persönlich ist, nur mein Gebet ist, so wie auch nur ich meinen Schmerz kenne, den ich nur annähernd für andere Menschen beschreiben kann. Ein Gebet ist die Sprache für Schmerz und für Liebe, für die wir sonst nur so oft unzulängliche Formen haben. Aber gerade für die Liebe finden sich dann doch manchmal Formen zwischen zwei Menschen, die das Unzugängliche und Unaussprechliche dem anderen zugänglich machen, so dass man manchmal hier eine Distanz überspringen kann, die einen direkt bei dem anderen sein lässt und hier ein zutiefst mystischer Austausch (καταλλαγή) stattfindet.
Beten ist dieser tiefen Form von Liebe sehr verwandt und hier zeigt sich auch, dass es hier nicht um Inhalte und Lehrsätze einer Religion geht, sondern um eine Beziehung. Aber wo der Buddhismus als Letztbegriffe die Leere bzw. das Dharma hat, fehlt ein Beziehungsmöglichkeit wie des der monotheistische adressierbare Gott hat, der im Christentum dann noch einmal in einen Gott der Liebe gesteigert wird. Aber in einer mittragenden Beziehung zu Guanyin, aber auch zum Buddha Shakyamuni oder Manjushri findet ein ganz ähnlicher Bezug statt. Hier findet dann, wie in einer menschlichen Liebe, die Annahme einer Person im Ganzen statt. Da werden nicht nur die Augen oder der Humor gemocht, sondern auch die Furze, Ungeschicklichkeiten etc. werden geliebt. Und so macht auch Guanyin allen, die zu ihr aufrichtig in Beziehung treten, die Zusage, dass sie gerettet werden können, egal welche Schuld oder Karma sie tragen.
Es ist interessant, dass Guanyin im Mittelpunkt des Herz-Sutras steht, da sie gerade für die Menschen offen ist, die zutiefst leiden, die aus tiefer Not zu ihr schreien… und im weiteren des Sutras wird in äußerster Kargheit und fasst schon Teilnahmslosigkeit dargelegt, dass alles leer ist und alles Leiden Illusion. Aber wie so oft, wenn es um das Eigentliche geht, ist dies nie einseitig, sondern es ist ein freies Spiel, was sich zwischen Form und Leere entspinnt, zwischen Mitleid und Loslassen, zwischen Trost und Zuversicht…
Vielleicht die bekanntesten Schüler von Guanyin sind Shancai tongzi (善财童子, Sanskrit: Sudhana; im deutschsprachigen Raum allerdings so unbekannt, dass es hierzu noch nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag am 01.01.2022 gibt). Hier gibt es die Legende, dass er ein verkrüppelter Junge war und sich entschlossen hat, obwohl er kaum laufen konnte, auf den Berg Potalaka zu pilgern, um Guanyin zu suchen. Er fand sie, die ihn nun wiederum in seiner Entschlossenheit weiter testete, bis dahin, dass er sich freiwillig dem Tod hingab. Daraufhin heilt Guanyin all seine Gebrechen. Guanyin ist zwar da, aber der Weg zu ihr ist nicht unbedingt ein einfacher, sondern erfordert alles und noch darüber hinaus, was der Mensch bzw. der Pilger zu geben hat. In seinem Kommentar bemerkt Hakuin zum Anfang des Herz-Sutras: „There is a sweetnes in prajna, but without passing through many difficult spots, you`ll never know its taste.“ (Hakuin 2017: 595)
Als Sprecher des Herz-Sutras wird auch Guanzizai angegeben (für die spannende Geschichte zur Autorschaft bzw. Herkunft des Herz-Sutras siehe (Kazuaki 2014)). Im ersten Vers wird angegeben, dass sie das Wesen des Bodhisattas hat, weil sie die Tiefe des Prajnaparamita praktiziert. Dafür was mit Prajnaparamita gemeint ist, soll das Herz-Sutra die beste und kürzeste Zusammenfassung sein, von den ganzen Prajnaparamita-Sutren.
Als westlicher Zugang an dieser Stelle, orientiert sich die Übersetzung und Interpretation an der Philosophie Heideggers und den Laws of Form von George Spencer Brown, die aus unserer Sicht heute eine westliche Zugangsart erlauben. Deswegen ist Denken hier ganz im Sinne Heideggers gemeint, so dass es hier nicht um ein rationales Kalkül der Vernunft geht, sondern sich in die Seinsgeschichte einzufinden und im Denken den Ruf zu hören, der hieraus vernehmbar wird und diesem zu entsprechen. Heidegger hat hier eine Haltung ausgefaltet aus der westlichen Philosophie insbesondere der antiken Griechen und Hölderlin, die der Haltung des Herz-Sutras sehr ähnlich ist.
Denn löst man sich von Seiendem und öffnet man sich für das Seinsdenken realisiert man, dass eigentlich alles Seiende leer ist, keine feste Substanz hat, sondern Konstruktionen darstellen, die wir uns auf kontingente (aber nicht beliebige) Weise von der Welt machen. Diese Einsicht, dass die Welt eine menschliche Konstruktion ist, ist auch im westlichen Denken fest etabliert, da seit Kant das Ding an sich nicht mehr erkannt werden kann bis hin zu einem Konstruktivismus, wie ihn Systemtheorie kennt (Luhmann 1984).
Das alltägliche Leben funktioniert aber anders, nämlich so, dass es eben keine Konstrukte sind, sondern dass die Welt sehr fest ist. Gerade die Soziologie weiß, dass dies notwendig ist, weil sonst gar nicht mit der Komplexität der Welt umgegangen werden könnte und man handlungsunfähig wäre und überhaupt keine Koordination mehr unter den Menschen funktionieren würde.
Damit geht es darum zwar die hier gesetzten Formen als kontingent wahrzunehmen, aber damit auch nicht nach ewigen Formen wie etwa bei Platon zu suchen. Eine ewig-feste Ideen- oder Hinterwelt wird hier nicht gesucht, sondern die Leere realisiert. Ziel ist es die eigenen Markierungen und Maßstäbe immer wieder zu relativieren und hier die Möglichkeit zu schaffen, immer wieder im Kleinen wie im Großen Loslassen zu können. Kodo Sawaki nennt das Festhalten unsere Diebes-Natur. Und wenn wir ehrlich sind, sind wir weitgehend Diebe in unserer Existenz, sei es ob wir an unserem materiellen Besitz festhalten und diesen anderen vorenthalten, ob wir an Reputation festhalten, die uns vor anderen hervorhebt, oder ob wir an lieb gewonnen Gewohnheiten festhalten, womit wir etwa immer weiter den Klimawandel anheizen… dies ist alles nur geklaut, worauf wir letztlich gar keinen Anspruch haben. Aber auch wenn wir uns weitgehend jeden Tag wie Diebe benehmen, wir haben auch Buddha-Natur in uns, die sich immer wieder öffnen kann, die eigentlich immer zugänglich und ganz nah ist, aber eben oft doch total verstellt und nur mit unmenschlicher Kraft kann auch nur der Weg oder der Wink dorthin gefunden werden.
Realisiere, dass die fünf Autopoiesen lediglich Markierungen im unmarked space setzen, wodurch du das Joch der quälenden Festlegungen abstößt.
Aber das Herz-Sutra mahnt dazu, genau dies zu realisieren. Realisieren meint hier nicht nur etwas intellektuell zu wissen, sondern etwas bis in seine Tiefe durchdrungen zu haben und seine ganzen Konsequenzen präsent zu haben oder zu spüren. In dieser Weise ruft das Herz-Sutra auf, zu realisieren, dass die fünf Skandhas, also unsere grundlegenden Zugangsweisen zur Welt, leer sind. Systemtheoretisch kann man dies auch als Autopoiesen verstehen, also dass sie sich nicht aus einer direkten Erkenntnis zur Welt ergeben, sondern sich aus den vorangegangenen eigenen Operationen errechnen (vgl. etwa Luhmann 1984). So liest sich die Erläuterungen, die der Buddhist Hanshan Deqing (1546-1623) zum Herz-Sutra schreibt, durchaus wie eine Definition von Autopoiesis: „Thus thoughts succeed one another in their unceasing chain without a (single) one of them turning the light inwards on oneself for self-cognition. […] Only the Buddha who was a saint (arya) was aware of the true fundamental wisdom which can illumine and break up the body and heart of the five aggregates (skandhas) which are fundamentally non-existent and whose substance is entirely void.“ (Lu Kuan Yü 1970: 211)
So sind die Sinnesorgane nach Auffassung des Buddhismus leer (vgl. Okumura 2012: 174f.). So zeigt sich, dass wir nur unsere menschlichen Seh- und Hörfrequenzen abbilden können, die ganz andere sind als z.B. beim Hund oder der Fledermaus. Und unabhängig von der Frequenzbandbreite ist die Welt des Hundes eine ganz andere, als die des Menschen, was Dogen im Genjokoan am Ozean deutlich macht, der ein anderer für den Menschen, den Fisch und die Götter ist (Dogen 2013: 61).
Es sind Markierungen im Sinne George Spencer Browns (Spencer Brown 1969), die in einen unmarked space gesetzt werden. Da Markierungen aber immer wieder gekreuzt also aufgelöst werden können und damit wieder in den unmarked space kreuzen, ist die Grundlage von allem die Leere des unmarked space.
Realisiert man also, dass unsere ganze Welt kontingente Markierungen sind, die immer wieder gekreuzt und damit aufgehoben und verändert werden können, fällt das Joch, was uns die ganze Zeit geißelt indem es uns festlegt und festhalten lässt, ab.
Zunächst scheint dies erstmal plausibel, alles das was mich stört, setze ich einfach kontingent und setze eine passendere Markierung. Dies kannte schon Pippi Langstrumpf („Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“) und auch Donald Trump kannte nur „alternative facts“, die seinen Interessen dienten. Aber sieht man mal von diesen Figuren ab, so zeigt sich durchaus das es wirklich quälende Festlegungen gibt, die kaum aufgehoben werden können. Denn zum einen gehört dazu, dass Festlegungen als nicht mehr passende erkannt werden können. Dies gilt für veraltete Gesellschaftsstrukturen bis hin zu einem Suchtkranken, der erkennt, dass seine Droge nicht mehr in seine Lebenssituation in dieser Form passt oder auch eine ganz andere Funktion angenommen hat. Aber selbst wenn er dies erkannt hat, kann er hier die Markierung nicht einfach kreuzen und als quälende Festlegung hinter sich lassen. Er kann aus dem tiefsten Abgrund und Verzweiflung heraus schreien und er schafft doch nicht das einfachste von der Welt: morgens kein Glas Wein oder Schnaps zu trinken.
Ist das Herz-Sutra damit eher eine Lehre für die ganzen lauwarmen Milchbrötchen dieser Welt, die sich immer den Strukturen anpassen können und hervorragende Mitläufer sind, weil sie eh kein ausgeprägtes Selbst haben, sondern nur aus der Anerkennung der anderen bestehen? Die ihre eigenen Markierungen immer so kreuzen können, dass sie gute Schwiegersöhne in jeder Situation bleiben? Oder scheißt Guanyin genauso wie Jesus auf die Pharisäer und gibt dann doch eine Lehre für die Verzweifelten, die Verworfenen, die nicht Passenden dieser Welt?
Natürlich werden alle Lebewesen erlöst, aber die Pharisäer dieser Welt brauchen dafür keine Heilslehre, weil sie noch gar nicht die Frage gesehen haben, auf die das Sutra und die Evangelien eine Antwort geben. Sie machen nur langweilige Moral daraus, also zimmern ein noch festeres Joch.
Shelizi, Form ist nicht getrennt vom unmarked space, unmarked space ist nicht getrennt von Form. Form ist unmarked space, unmarked space ist Form.
Darauf folgt vielleicht der bekannteste buddhistische Vers, dass Form nicht anders als Leere und Leere nicht anders als Form ist. Wichtig hierbei ist, dass es sich nicht um zwei verschiedenen Entitäten oder Bereiche handelt, so dass man etwa für die Erleuchtung von der Welt der Formen in die Welt der Leere kommen muss. Hakuin schreibt hierzu, „Striking aside the wavess to look for water, when the waves are water!“ (Hakuin 2017: 604) So kann ich am Meer sitzen und unendlich lange darauf warten, dass die Wellen endlich weggehen, damit ich das Wasser sehen kann. Und diesen Zustand wird es am Meer nie geben und wenn dann nur annäherungsweise für einen kurzen Moment. Dabei hat man die ganze Zeit das Wasser vor Augen und vielleicht sogar durch die Wellen noch deutlicher in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen.
Dies ist in etwa so wie die junge Studentin, die sich in den Exerzitien beklagt, dass sie das Vogelgezwitscher und das Raunen der Bäume beim Gebet stört, um zur Ruhe zu kommen. Aber vielleicht war sie tatsächlich näher dran, als alle anderen, die darüber nur lachen konnten, aber dafür an Karfreitag an Selbstmitleid beim Tod Jesu zerflossen. Hier gab es eine massive Bindung an das Ego, was selbst in Jesus nur den eigenen Tod betrauern kann, bei der jungen Frau gab es zumindest die Ahnung von einem Überstieg.
Deswegen geht es darum, dass man von sich wegschaut, dass nicht der Glaube eine Versicherung des Ichs ist, dass Gott mir hilft durch das Bittgebet die Dinge zu erreichen, die ich mir vorgenommen hatbe etc. Und ein gottesfürchtiges Leben ist nicht eines, dass den Geboten gehorcht, um damit eine Verlängerung des diesseitigen Lebens in die Ewigkeit zu bekommen. So geht es bei Jesu Tod nicht darum, unsere eigene Sterblichkeit zu realisieren und bejammern - und dann als Glaubende hoffen, dass wir eine Verlängerung im Himmel bekommen.
Es geht eher darum „die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemandem, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, daß seine göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist.“ (Ignatius von Loyola 1993b: 350). Ignatius stößt uns also in den Alltag hinaus, weg vom Ich und auch weg von rein intellektuell-scholastischen Spekulationen, sondern es geht ums realisieren, dass Gott hinter allem steckt, was wir wahrnehmen, denken und tun. Interessanterweise gleicht dies genau dem, was weiter oben das Herz-Sutra zu den Skandhas sagt.
Und da ist man eben doch auf dem richtigen Weg, wenn einen die Vögel, Bäume und Wellen zunächst einmal stören. Denn sie werden wahrgenommen, als etwas, was Gott oder die Leere verstellt - aber gleichzeitig damit schon einen Wink zu ihm sind. Wenn man Gott nur als eigene Lebensversicherung ge- oder missbraucht ist man davon noch ein ganzes Stück weiter entfernt.
Aber es geht darum, diese Formen zu übersteigen, d.h. sie weder weghaben zu wollen als nerviges Gezwitscher oder Geplätscher, noch geht es darum sie für sich als schönen Vogelgesang zu bewundern. Ein Überstieg findet dann statt, wenn in diesen Formen Gott bzw. die Leere erkannt wird. Hakuin schreibt hierzu: „Forms don’t hinder emptiness, emptiness is the tissue of form./ Emptiness doesn’t destroy form, form is the flesh of emptiness.“ (Hakuin 2017: 604)
In den Laws of Form lässt sich dies theoretisch exakt abbilden. So wird eine Markierung immer in einen unmarked space gesetzt, wodurch dieser aber nicht verschwindet, sondern gerade dadurch präsent wird, dass die Markierung immer ihr Kreuzen präsent hält und sich dadurch definiert, was sie ausschließt und der grundlegendste Ausschluss ist eben der unmarked space, der eine Markierung überhaupt erst möglich macht. Auch bei Heidegger finden wir eine ähnliche Figur, so dass sich das Sein nur in Seiendem zeigt.
Der wesentliche Punkt an dieser Stelle ist allerdings, dass zwar das Kreuzen alltägliche Praxis ist, aber in der Regel Kreuzen wir in einen unmarked state und nicht so grundlegend in den unmarked space hinein. So Kreuzen wir meist problemlos von der Schreibtischarbeit zum Feierabend und können selbst da vom Abendessen noch in den Abendgottesdienst oder in den Biergarten kreuzen - aber dies ist jeweils das Kreuzen in eine andere Markierung hinein und nicht in den unmarked space. In den unmarked space zu Kreuzen ist weitgehend der Religion vorbehalten, die Formen oder besser Praktiken gefunden hat, wie man hier sich zumindest für Momente im Unmarkierten aufhalten kann. „Gott ist das Unbestimmte, das an jeder Rechnung teilnimmt, indem es sich in keine Rechnung hineinziehen lässt. Er ist eben nicht das Unbestimmte, das jederzeit bestimmt werden kann […], sondern er ist das Unbestimmte, das nur um den Preis seiner Verfehlung, wenn nicht der Blasphemie, bestimmt werden kann, das heißt als Unbestimmtes, als deus absconditus, gewürdigt werden will.“ (Baecker 2020: 299) Und man beachte, dass Baecker hier schreibt in jeder Rechnung, d.h. in jeder Markierung läuft der unmarked space mit oder mit Ignatius gesprochen: Gott in allen Dingen finden, oder halt mit dem Herz-Sutra Form ist unmarked space.
Das Kreuzen in den unmarked space ist damit in jeder noch so alltäglichen Situation möglich und der unmarked space ist immer ganz nah, weil er der Grund von jeder Markierung ist. Allerdings finden heute immer weniger Leute den Zugang dazu, in diesen unmarked space zu Kreuzen. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass es sich die Menschen mit Religion und mit Gott oft zu leicht gemacht haben. Es gibt herausragende Gestalten, wie Moses der Gott nur in einer Feuerlohe oder von hinten sehen darf, Jesus der, der durch sich Gott erfahrbar macht und genau dadurch dies in eine ungeheure Schwebe bringt, die Bodhisattvas, die bleiben, um zu helfen, obwohl sie längst aus dieser Welt erlöst sind… aber es gibt eben doch viel öfter Religion als Dogma, als moralische Regeln, als konkret Jenseitsvorstellung und -versprechung, wo selbst der Professoren-Papst noch erwartet seine Eltern wiederzusehen (SZ am 15.05.2020)… alles Versuche Gott festzulegen, ihn zu markieren.
Augustinus hat diese Schwebe des Unfassbaren und nicht Festlegbaren sehr deutlich erfasst und hier scheint auch die Mitte seines Glaubens zu liegen: „‚Suchet Gott, und es wird leben eure Seele‘. Suchen wollen wir Ihn, um Ihn zu finden, suchen wollen wir Ihn, da wir Ihn fanden. Daß man Ihn suche, um Ihn zu finden, ist Er verborgen; daß man Ihn suche, da man Ihn fand, ist Er unermeßlich“ (zit. nach Przywara 1934: 195) Hier ist das Suchen nie angekommen, es wird nie etwas Markiertes gefunden, was für Gott genommen wird, sondern man blickt immer nur auf den Horizont, lässt sich von der Schönheit und Erhabenheit der Weite des Horizontes faszinieren und anziehen, folgt und strebt danach, ohne es festhalten zu wollen, sondern lebt in der Gewissheit, dass mit jedem neuen Sonnenaufgabe die Weite des Horizontes wieder wunderschön sichtbar wird, aber ganz in dem Bewusstsein, dass man den Sonnenaufgang nicht selber machen kann und auch um keine Sekunde beschleunigen kann. Und gleichzeitig ist jeder neue Tag ziemlich das Sicherste was wir in unserem Leben haben, nur realisieren wir dies kaum. Wir werden eher vom Wecker genervt und quälen uns morgens aus dem Bett und brauchen als erstes einen stinkenden Kaffee… die Freude über einen neuen geschenkten Tag sieht irgendwie anders aus.
„Gibt es eine Bestimmtheit der Unbestimmtheit, die es Gott nur noch ermöglicht, mit dem Fade zu rechnen, wie es der Buddhismus bereits praktiziert? Oder trifft das Wort vom Gott der kleinen Dinge den Kern des Sachverhalts, indem es Gott dort vermutet […] Er [der Gott unserer heutigen Gesellschaft] wird zum Freund der Alten, die auf der Parkbank sitzen und die Gesellschaft an sich vorbeihasten sehen, der Kinder, die sich einen Sinn fürs Tagträumen bewahrt haben, ohne an Bildschirme denken zu müssen [was sich seit 2009 wo der Text ursprünglich erschienen ist, nun auch schon geändert hat] […] Wenn es so etwas wie eine positiv codierte Negationsformel der Gesellschaft gäbe, die Religion und ihre Götter müssten darauf am ehesten einen Anspruch erheben können. Auch in der nächsten Gesellschaft geht die Religion weder in der Wirtschaft und ihren Kreativitätskalkülen noch in der Politik und ihren Kulturkämpfen noch in irgendeiner anderen Einrichtung der Gesellschaft oder gar in dieser selber auf. Sie bleibt was sie ist, ein Fingerzeig des Unbestimmten. Und ihr Gott rechnet nicht, indem er die Verschuldung erst verewigt und dann zum Kult werden lässt, sondern indem er sich der kleinen Dinge annimmt, an denen unser Blick hängen bleiben kann, ohne sich schon wieder etwas einfallen lassen zu müssen.“ (Baecker 2020: 307ff.)
Der Soziologe Baecker markiert hier sehr deutlich, dass Religion und Gott weiter eine zentrale Funktion in unserer Gesellschaft haben, nur vielleicht nicht die, die gerade von der Institution Kirche etwa gerade in den Vordergrund gerückt wird: Moralische Instanz mit festem Wertegerüste, klare Zusagen für ein konkretes Leben nach dem Tod, der unumstößlichen Gewissheit auf der richtigen Seite zu stehen… Aber Religion weiß selbst am besten, dass sie dies nicht ist, sondern in ihren Höhepunkten das Leise, das Unbestimmte ist, eine feine Liebe, die sich frei verschenkt und so in ihrer Schönheit aufscheint, die Gebetsmomente, wo mich Gott anschaut und ich so unendlich klein werde, in meiner Schuld und Unzulänglichkeit, aber genau da in meiner Ehrlichkeit, Offenheit und Nacktheit von diesem unendlichen Gott bedingungslos geliebt werde und diese Liebe in einem Du zugesagt bekomme und erfahre… genau da lebt Gott heute noch und dort hat er immer gelebt und dort wird auch immer zu finden sein.
„Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.“ (1. Buch der Könige, 19, 11-13) Die Herrlichkeit und Gewaltigkeit Gottes liegt damit gar nicht so sehr im Prunk, sondern im Leisen und Stillen. Erst aus dieser Stille und Leere heraus können Formen entstehen. Gott ist wie ein Spiegel, der Formen und damit auch uns selbst erst zu sehen gibt. Und an diesem Vergleich zeigt sich auch weiter das Verhältnis von Leere und Form, so dass das verbindende „ist“ doch eine sehr komplexe Beziehung darstellt und nicht eine einfach Gleichsetzung. Denn der Spiegel ist nicht die abgebildete Form, d.h. unser eigenes Spiegelbild ist nie einfach nur identisch mit dem Spiegel, aber wir werden unser Gesicht nie sonst zu sehen bekommen als durch einen Spiegel. Wir können uns nur im Spiegel sehen und sind dennoch damit nie einfach identisch mit diesem Spiegel (genauso sieht man in Jesus Gott, aber damit als gebrochenes Spiegelbild, nicht direkt). Leere ist Form kann damit weniger als einfache Gleichsetzung verstanden werden, sondern eher als eine Art Spiel und Rhythmus des Verhältnisses, als Analogia Entis im Sinne von Przywara, die Gott und den Menschen zusammen bindet. Leere (Spiegel) löscht damit nicht aus, sondern ermöglicht erst, dass Formen und damit wir selber erscheinen. Gleichzeitig „brennen“ sich die Formen nicht in den Spiegel ein, der Spiegel bleibt unbefleckt von dem was er abbildet, aber er ermöglicht erst, dass man die eigene Form (das eigene) Selbst zu sehen bekommt.
„This means that the absolute void is fundamentally not different from the illusory form, but is not that (relative and) annihilating Void in opposition to form. This (sentence) reveals that Prajna is the absolute Void of Reality. Why? Because the absolute Void of Prajna is likened to a great mirror and all kinds of form to appearances reflected in that mirror. If one realizes that these reflections are not separate from the mirror, one will readily understand (the meaning of the sentence): Void (sunyata) does not differ from form (rupa). Its purpose was to break up the (false view held by) Sravakas and Pratyeka Buddhas about the (relative and) annihilating void in contrast with form and the (wrong views held by) heretics about the empty void.“ (Lu Kuan Yü 1970: 215)
Der Spiegel ist im Buddhismus ein sehr beliebtes Bild. Auch Spencer Brown greift dies auf, um den zentralen Bezug der Laws of Form zur Erleuchtung zu erklären, allerdings überträgt er den Spiegel ins 20. Jahrhundert und nimmt den Fotofilm: „I liken the ultimate reality to a kind of infinitely sensitive photographic film. I realized that the only „thing“ (i.e. nonthing) that would be sensitive enough to be influenced by a stimulus so weak that it didn’t exist, was nothing itself. That is, nothing is the only ‚thing’ that is so unstable that it can ‚go off‘ of its own accord, the only ‚thing‘ sensitive enough to be changed to be changed by nothing.“ (Spencer Brown 1994: 8)
Für Spencer Brown geht es allerdings noch um deutlich mehr, als zu zeigen, dass Formen durch einen Film abgebildet werden können. Hier geht es genauso darum, wie dieser Prozess überhaupt möglich ist, d.h. wie dieser Prozess beginnt, wie eine erste Markierung gesetzt wird. Und dies ist ebenfalls ein zentraler religiöser Punkt, der sich in den Schöpfungsgeschichten widerspiegelt, aber vor der gleichen Fragestellung stehen wir eigentlich auch in jeder Alltagssituation. In der Soziologie nennt man dies etwa „doppelte Kontingenz“, womit gemeint ist, dass nicht entschieden ist, wer eine Kommunikation beginnt. Oft ist dieses Problem geregelt über Rollenverteilung, großes Ego oder pädagogische Tricks (die mehr oder weniger funktionieren), wodurch der eigentliche Zauber, der hier zugrunde liegt aber immer verdeckt wird. Offen liegt dies etwa in der Anbandelung von Liebesbeziehungen, wo viel in dem Reiz liegt, wer den ersten Schritt tut (und auch jeder nächste Schritt ist immer ungewiss, behält etwas vom Zauber des ersten Schrittes). Und eigentlich sollte dies auch jeden Morgen beim Aufwachen präsent sein (vgl. etwa White1960a, 1960b), da die eigene Welt wieder zusammengesetzt wird, die Sonne aufgeht und ein neuer Tag beginnt, alles Dinge die wir so selbstverständlich hinnehmen und gar nicht mehr den Zauber darin sehen. Sollte uns anstatt eines nervigen Weckers hier nicht eher eine Zimbel wecken, die wie aufsteigender Weihrauch die Luft sichtbar macht, die Welt wieder in Schwingung bringt?
Es geht also um den alltäglichen Start, die Setzung einer ersten Markierung, und was sich dann daraus entwickelt. „So, if nothing could change nothing, we have, inevitably, the appearance of a first distinction, and the rest, including the ineluctable appearance of ‚all this’, inevitably follows.“ (Spencer Brown 1994: 8) Hier geht es um dieses Spiel von Leere und Form. So dass eine Form in die Leere gesetzt wird und sich daraus dann entfaltet. Aber diese Form auch immer wieder in die Leere zurückkreuzen kann, um mit neuen Formen zu beginnen, um diese sich entfalten zu lassen.
Bleibt man im Rahmen des Formenkalküls so zeigt sich, dass Form und Leere, d.h. Markierung und unmarked space sich in einem Kreislauf bewegen. Baecker zeichnet diese Bewegung in der Begrifflichkeit eines Tetralemma nach (Baecker 2002: 7ff.). So, dass eine einmal gesetzte Form über verschiedene Stufen wieder in den unmarked space kreuzt. Allerdings bleibt dieser Zirkel dann nicht im unmarked space stehen, sondern beginnt mit der Setzung eine Markierung wieder von neuem.
Der Buddhismus zeigt dies höchst einprägsam an der Geschichte vom Hirten und Ochsen (vgl. etwa Ueda 2011: 11ff.). Auch hier gibt es eine Rückkehr über verschiedenen Stufen von der Form in die Leere - aber die Leere ist nicht das letzte Bild! Denn danach wird eine neue Markierung gesetzt und der nun erleuchtete Hirte sitzt als Buddha wieder mitten im Alltag auf dem Markt, diesmal aber nicht leidend an den Formen, sondern fröhlich spielend mit den Formen. Und dies stellt die eigentlich Pointe da, wie sie der Mahayana vertritt, dass es nicht um die eigene Erleuchtung und das Eingehen ins Nirvana geht, sondern um den Wiedereintritt in die Welt. Dies zeigt sich auch in der esoterischen Meditation im Westen, wo darunter das Erreichen von Stille und Leere verstanden wird. Nach der hier vertretenen Darstellung wäre dies eben genau nicht das Ziel, sondern eher das Loslassen, das re-entry, dies wäre dann die Form der Meditation - und dann das aktiv werden in der Welt.
Wenn man diesen Sachverhalt christlich fassen möchte, bietet sich hierfür der Begriff der μετάνοια an. Aber dies eben nicht als moralische Buße und die Rückkehr, um auf den festen Pfad der Kirche zurück zu kommen. Sondern die Freiheit, die Gott mir immer wieder in seiner Gnade gewährt, neu anzufangen, aufzubrechen, ein Pilger zu werden und zurückzukehren, um meinen Weg weiter zu erkunden und um aus Sackgassen herauszukommen. Dies ist allerdings nicht mit einer grenzenlosen Freiheit des Egos verstanden, sondern auf den hörenden Rhythmus einer Analogia Entis, in die sich jeder Einzelne immer wieder neu einlassen und einschwingen muss, um hier ein Hörender zu werden. Und Beichte wäre dann genau dieser Spiegel, der mich mir selber zeigt und ich beurteilen kann, ob ich dies bin und sein will. Beichte müsste diese Offenheit schaffen, die ich mir selber nicht geben kann, sondern die mir durch Gott geschenkt wird, wenn ich mich mit seinen liebenden Augen selber anschaue (wie der Bauer beim Pfarrer von Ars).
Kirche hat vor allem früher moralische Schablonen auf den Spiegel geklebt, so dass man einen Ziegenfuss oder Hörner sehen konnte in seinem Spiegelbild. Dies mag sich heute verbessert haben, aber warum bei homosexuellen Paaren immer noch der Ziegenfuss aufgeklebt wird und bei heterosexuellen Paaren der Heiligenschein, ist nicht klar. Eigentlich sollte die Kirche den Blick Gottes eröffnen und fordern: schaut euch im Spiegel an, und lasst euch fragen, ob ihr so glücklich und authentisch seid, denn ihr seid so wir seid, von mir gewollt? Das müsste eigentlich Beichte leisten.
Und dieser Spiegel ist tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal der Religion. Deswegen wundert es, warum etwa die Kirche dies nicht nutzt, anstatt immer neue Schablonen auf alte Schablonen zu kleben und sich wundert, dass keiner mehr diesen Spiegel nutzen möchte, weil man eigentlich gar nichts mehr vom Spiegel und damit sich selber zu sehen bekommt, sondern nur ein historischer Haufen von übereinander geklebten Schablonen (und man hat als Nicht-Theologe auch den Eindruck, das Theologie heute hauptsächlich Geschichtswissenschaft ist und kaum relevante Postionen für die Fragen von heute entwickelt. Es bräuchte mehr Kolpings oder Nell-Breunings.).
Folglich gilt dies auch für Empfänglichkeit, Konstrukt, einordnendes Wissen und Bewusstsein:
Für Spencer Brown ist die Setzung einer Unterscheidung in einen unmarked space sozusagen die Basisoperation, die allem zugrunde liegt und immer vollzogen wird: „draw a Distinktion“ (Spencer Brown 1969: 3). Nachdem das Herz-Sutra also festgestellt hat, dass Form Leere ist, d.h. eine Markierung im unmarked space gesetzt wurde, wird die Schlussfolgerung gezogen, dass dies auch für alle Vollzugsweisen unseres Daseins gilt.
Gleichwohl stimmt dies nicht ganz mit der Sichtweise des klassischen Buddhismus überein, wo Form lediglich die erste Ausprägung der fünf Skandhas darstellt und hier dann eher die materielle Grundlage ist, auf die sich die vier weiteren „kognitiven“ Aggregate beziehen. Vielleicht ist es unter der Grundannahme einer konstruktivistischen Perspektive gerechtfertigt, die materielle Grundlage durch die grundlegende Operation der Formsetzung zu ersetzen. D.h. der Text gibt diese Interpretationsweise nicht wirklich her, dass hier rupa bzw. se (色) als Formsetzung im Sinne von Spencer Brown verstanden wird - allein wir müssen schauen wie weit wir mit einem solchen Ansatz kommen. Zumal hier auch keine Geschichtswissenschaft betrieben werden soll, sondern Antworten für jetzt gefunden werden sollen.
In diesem Sinne wäre dann das zweite Skandha shou (受) die grundsätzliche Empfänglichkeit und zwar auf einer ganz basalen Ebene. So gilt dies für Sinnesdaten, dass mit den fünf Sinnen Umweltreize aufgenommen werden. Und hierfür braucht man auch nicht eine materielle Basis, sondern jedes Sinnesvermögen errechnet die eigenen Wahrnehmung selber nach seinen eigenen Operationen und setzt diese zusammen (vgl. von Foerster 1992). Soziologisch kann man dies noch ausweiten indem shou ebenfalls die Umweltsensitivität von sozialen Systemen darstellt, so dass das Kunstsystem etwas als Kunst erkennt oder eine Organisation erkennt, dass es ein Thema zur eigenen Bearbeitung ist, so dass etwa die Gewerkschaften oder Kolping politische Themen, bei denen Arbeitnehmerinteressen tangiert sind, wahrnehmen und dann in einem weiteren Schritt bearbeiten. Aber die Identifikation dieser Themen aus dem breiten Feld der anderen politischen Themen wäre shou. Ebenso für Interaktionen unter Anwesenden, wo auch immer sondiert wird, welche Themen anschlussfähig sind, wo zum Beispiel Vertrauen ein wichtiger Marker darstellt. Auch hier wird das Spektrum der Themen durch shou erzeugt.
Auf der nächsten Ebene werden die durch die Empfänglichkeit aufgenommenen und selektierten Umweltreize zu „Dingen“ konstruiert (xiang, 想). D.h. bestimmte Sinneseindrücke wie Farbmuster, die durchs Auge wahrgenommen werden, ein bestimmter Geruch und eine spezielle Haptik werden als Apfel wahrgenommen. Gleichzeitig wird geprüft, ob dies Thema der Interaktion werden soll, indem beispielsweise dem Gegenüber ein Apfel angeboten wird und darüber hinaus erhält er vom Wirtschaftssystem einen Preis, von der Wissenschaft einen lateinischen Namen und Claes Oldenburg könnte ihm im Kunstsystem vergrößern.
Im nächsten Schritt wird das Ding eingeordnet (xing, 行). D.h. ein Apfel wird einer bestimmten Apfelsorte zugeordnet und als Obst und Nahrungsmittel erkannt. Man weiß, ob dieser Apfel süß oder sauer ist oder ob man ihn besser so ist oder einen Kuchen daraus macht. In der Interaktion wird geprüft, ob mein Gegenüber Hunger hat, ob aus der Vergangenheit bekannt ist, dass er gerne Obst ist etc. Und das Wirtschaftssystem weiß, ob die Apfelernte gut oder schlecht war und bestimmt die Nachfrage und setzt entsprechend den Preis an. Die Wissenschaft kann Forschungsdesiderata benennten etwa hinsichtlich der Blütezeit in Zeiten des Klimawandels und Claes Oldenburg muss den Apfel ins Museum bringe… oder auf ein Häuserdach, öffentlichen Platz, der Apfel muss nur deutlich größer als im Laden sein.
Die letzte Ebene stellt das Bewusstsein dar (shi, 識). Hier wird das eingeordnete Ding in die Geschichte eines Menschen eingefügt, der weiß, ob er Äpfel mag, der bestimmte Erinnerungen damit verbindet, der sich selber über die verschiedenen Dinge definiert. Wird dies auch hier auf die soziale Ebene erweitert, so kann man nicht mehr von Bewusstsein sprechen, sondern von der Autopoiesis der eigenen Operationen des , bei sozialen Systeme handelt es sich dann um Kommunikation. Die Interaktion prüft ob vorher im Gespräch schon über Hunger oder Nahrung gesprochen wurde und die Wirtschaft prüft, ob es in der Vergangenheit Sinn macht mit Äpfeln an die Börse zu gehen oder ob dies ggf. ein Zukunftsfeld ist etc.
Da auf dieser Ebene die Geschichtlichkeit der Systeme relevant wird, wird dies auch mit dem „store consciousnesss“ verbunden: "Consciousness here means store consciousness, which is at the base of everything we are, the ground of all of our mental formations.“ (Nhat Hanh 1999: 180f.) Dies steht allerdings zunächst im Widerspruch zu dem wie Hakuin diesen Vers kommentiert: Er spricht von einem snow-buddha und den „tracks left when a bird takes a flight.“ und schließt mit „A mud cow barrels through the surf baring her bicuspids.“ (Hakuin 2017: 604). Hakuin würde vermutlich den Übersetzer erst einmal fragen was bicuspids sind und warum er an so vielen Stellen eher mit dem Wörterbuch als mit dem Geist übersetzt, aber die Bilder machen doch deutlich worum es Hakuin geht. Es sind Spuren, die verschwinden und eben nicht ewig aufbewahrt werden. So wird der Apfel spätestens in einem Monat von beiden Interaktionspartnern vergessen sein, genauso wird der Apfel mittlerweile verkauft sein oder der Börsengang gescheitert. D.h. jeder Operation zerfällt wie die Hufspuren im Matsch. Und dennoch erinnert sich der Ochse an den Weg, den er immer und immer wieder gegangen ist, auch wenn dort keine Fußspuren zu finden sind.
Hier taucht wieder das Verhältnis auf, was wir weiter oben bereits hatten, so dass Markierungen immer gekreuzt werden können und damit aufgelöst werden (können), dass dies in der Praxis aber manchmal gar nicht so leicht ist. Denn der Abhängige oder Depressive wissen meist sehr genau, dass ein Leben ohne Drogen möglich ist und der Depressive weiß, dass auch eine andere Perspektive auf das Leben möglich ist und auch plausibler ist. Dennoch schaffen sie es nur mit sehr viel Mühe hier zu kreuzen und viele schaffen es ihr Leben lang nicht und beenden mitunter sogar deswegen ihr Leben. Die Fußspuren im Matsch verschwinden zwar - aber können damit weiterhin eine kaum überwindbare Präsenz haben.
Shelizi, der unmarked space ist die Grundlage von Allem. Er wird nicht, noch vergeht er. Er wird nicht befleckt, noch gereinigt. Er nimmt nicht zu, noch ab.
Guanzizai spricht Shelizi (舎利子; sanskr.: Śāriputra) direkt an und fasst das Bisherig kurz zusammen, so dass der unmarked space die Grundlage von Allem ist. Dies scheint vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen auch erst mal plausibel. Aber man übersieht zu leicht die Konsequenz. Dies kann Hakuin in seiner Art natürlich nicht stehen lassen, so das er zu dieser Zeile schreibt: „Pure lands and impure lands are like brushes of turtle fur,/ Nirvana and samsara, riding crops carved from hare horn.“ (Hakuin 2017: 605)
Damit sind selbst die höchsten Werte nur Markierungen im unmarked space. Nirvana, Erleuchtung, der christliche Himmel, die Heiligen, die Menschenrechte alles nur Markierungen, die wieder in den unmarked space zurückfallen. Meine erste Liebe, meine große Liebe, die Liebe zu meinen Kindern… alles nur Markierungen im unmarked space. Aber genauso ist das Nazi-Reich und das Leid und der Tod der von Ihnen Unterdrückten nur eine Markierung im unmarked space… das Leid der Kinder und Eltern, die auch heute noch jeden Tag verhungern, während sie sehen, dass es einen großen Teil der westlichen Gesellschaft kaum stört… alles nur Markierungen im unmarked space… tolle Leere!
Und alle diese Markierungen machen nichts mit dem unmarked space. Er ändert sich dadurch nicht und er wird auch nicht befleckt und gereinigt. Hier scheint es egal zu sein, ob eine Mutter hier Neugeborenes das erste Mal in den Händen hält oder der Nazi-Scherge ein Kind in die Gaskammer schickt oder es vor den Eltern tötet… der unmarked space bleibt von beidem unbefleckt!
In etwas neutraler Form und etwas verdeckt taucht hier der Sachverhalt auf, der im Christentum unter dem Begriff Theodizee läuft. So dass sich auch hier die Frage stellt, wie Gott angesichts des ganzen Leides einfach passiv zuschauen kann und so viele gute Menschen und Taten nicht belohnt werden: er wird von allem weder befleckt noch gereinigt.
Und es scheint paradox, dass genau diese „Neutralität“ sowohl dem Christentum als auch dem Buddhismus zugrunde liegt. Denn es ist ja durchaus an dem Spruch „Not lehrt beten“ etwas dran, da die Menschen eher zu Gott gehen, wenn sie Leid erfahren, um zu Klagen, anstatt zu Loben, wenn etwas Gutes geschehen oder getan wurde. Aber in beiden Fällen gibt es hier keine direkte Antwort: die Klage erfährt keinen Trost und das Lob keinen Dank.
Aber gerade bei der Klage scheint es seltsam, warum die Menschen das Gebet als Klage nutzen. Ist es tatsächlich der last resort? Und alle anderen Wege sind schon ausgeschöpft worden? Und macht die Indifferenz gegenüber jeder Klage nicht eher das Leid noch schlimmer? Klage ich etwa vor Gott den Tod meines Kindes, frage ich ihn, warum er und nicht jemand anderes sterben musste… dies ist bei einem älteren Menschen eine müßige Frage, weil irgendwann jeder sterben muss und der eine dann früher und der andere später. Aber warum muss ein Kind überhaupt sterben? Es gibt nichts was sich so bis in die Tiefe falsch anfühlt als der Tod eines Kindes. Und ich bete und klage Gott dieses Warum… und erhalte keine Antwort. Nur Schweigen. Schweigen, aber so gar keine Stille. Erhalte Indifferenz in einem Moment, wo ich so gar keine Indifferenz habe, wo ich selbst mein Leben für seines eintauschen würde. Und letztlich auch große Teile meines Lebens mit ihm gestorben sind, was nicht mehr heilt oder vernarbt, was einfach weg ist… unmarked space?
Aber vielleicht liegt in dieser kalten Nüchternheit, dann doch ein Trost, weil alle Vertröstungen und Erklärungen als Illusionen zerschlagen werden. Denn ein Kind stirbt nicht, wegen Vergehen oder Verdienst. Und auch niemand anderes stirbt deswegen stellvertrend, weil die Eltern sich daneben benommen haben. Auch Jesus stirbt nicht aus dem Grund, dass sein Tod einen solchen Zweck hätte - dass ist doch einfach irre und daneben.
Aber gerade der Tod eines Kindes genauso wie der Tod Jesu zerschlagen wirklich alle Kategorien, die wir haben und lassen nur noch das Nichts bzw. unmarked space fühlen. Jesus, der Sohn Gottes, der die Liebe als höchsten Sinn dieser Welt sichtbar macht, wird sinnlos hingeschlachtet am Kreuz - und versteht dies noch nicht einmal selber. Selbst sein ganzes Selbstverständnis zerbricht daran oder besser fast sein ganzes Selbstverständnis… denn auf sein „Gott, wozu hast du mich verlassen“, folgt das „In deine Hände lege ich meinen Geist“. Also ein letzter Akt, der in der radikalen Ohnmacht sich vertrauensvoll übergibt ohne dies auch nur ansatzweise zu verstehen… aber selbst hier spricht er noch zu IHM, besteht Beziehung, die aber eigentlich keine Worte und kein Verstehen mehr hat - nur seine Nähe spürt. Und vielleicht hier das erstmal richtig spürt, weil alles andere Weggenommen ist, dass einzige was in dieser Ohnmacht bleibt, ist die Ahnung Seiner Nähe.
Der Trost ist hier allein, dass es keine Vertröstung mehr ist. Kein Weiterleben im Himmel, als schönes Schlaraffenland. Und dies als Belohnung für das, was ich Gutes getan habe. Keine Genugtuung darüber, das Hitler und Stalin in der Hölle schmoren… alles wird als Markierung aufgehoben und löst sich im unmarked space auf.
Wo liegt aber hier der Trost? Wenn man sich die Lebensgeschichte von Shakyamuni Buddha anschaut, kann dies deutlich werden. Er lebt als Königssohn abgeschirmt von der Umwelt in einem Schlaraffenland auf Erden. Nachdem er aber das Leid außerhalb der Schlossmauern gesehen hat, lässt er seine heile Welt hinter sich. Ein Leben als Vertröstung wäre sicherlich gewesen weiter in den Schloßmauern zu bleiben. Und ein Leben als Vertröstung wäre auch, wenn ich daran glaube, dass ich mit meinem Sohn nach meinem Tod im Himmel sitze, Bach für uns Musik macht, wir den Tee des japanischen Kaisers schlürfen und Jesus uns geile, abgefahrene Gleichnisse und Metaphern erzählt. Der Buddha lebt dagegen ein trostvolles Leben hier auf der Erde außerhalb des Palastes, gerade weil er die Illusionen hinter sich gelassen hat und sein Leben nicht mehr auf den Vertröstungen aufbaut. Er sieht die eigentliche Vergänglichkeit und das Leid, aber auch die kleinen sehr alltäglichen Schönheiten und Freuden. Der Trost besteht dann darin, dass es dadurch sein Leben wird. Sicher nicht ein so leichtes Leben wie im Palast, aber wenigsten ein authentisches Leben. Und diese Parallele gibt es sowohl bei Jesus als auch bei Platon im Höhlengleichnis (womit diese Perspektive auch hinter einem wissenschaftlichen Grundverständnis zu finden ist).
Der unmarked space wird nicht begrenzt durch Form, folglich auch nicht durch Empfänglichkeit, Konstrukt, Praktik, begriffliches Wissen.
[FOLGT NOCH]
Er ist nicht fassbar für Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper und Geist; er ist nicht fassbar durch Formen, von Geräusch, Geruch, Geschmack, Berührung oder andere Wahrnehmung. Er ist nicht fassbar für die Sinne noch das Bewusstsein.
Für Dongshan Liangjie (807–869) (洞山良价) ist dieser Vers der Ausgangspunkt für seinen eigenen Zen-Weg. Er wird mit sechs Jahren in das örtliche Kloster von den Eltern gegeben und erlernt sehr schnell das Herz-Sutra. Als er mit seinem dortigen Meister an diese Stelle kommt, „tastet der Kleine sein Gesicht ab und sagte: Das habe ich doch aber alles. Wie kann der Buddha sagen, daß es das nicht gebe? Der Priester war von der selbständig fragenden Bedächtigkeit des Kleinen so betroffen, daß er sich untauglich fühlte, ihn weiter zu unterrichten.“ (Gundert 1967: 200) Dongshan wird lange pilgern müssen bis er zwar keine Antwort auf seine Frage bzw. Zweifel bekommt, aber für sich diese darin liegende Paradoxie realisiert: „Indem ihm aufging, daß zum Hören der Predigt der unfühlenden Natur ein anderes Organ benötigt wird als das natürliche Ohr, ging dieses andere Organ in seinem Inneren mitzuschwingen und zu klingen an. Sein Dank an Yün-yän [dem Meister, der ihn zu dieser Erkenntnis geführt hat] lautet:
O Wunder über Maßen! O Wunder über Maßen!
Unfühlend kündet die Natur das Weltgesetz des Buddha, unausdenkbar!
Wer sie mit Ohren hören will, vernimmt am Ende nichts.
Am Ort der Augen mußt du Ohren haben, dann erst siehst du es.
Verfolgt man aufmerksam Liang-djiä’s [d.h. Dongshans] entscheidendes Gespräch mit Yün-yän, so wird man finden, daß es darin nicht, wie der Wortlaut es vermuten lassen könnte, um irgendein besonderes Phänomen der äußeren Erscheinungswelt ging, sondern um viel Tieferes: die radikale Umkehrung der Stellung zu der ‚objektiven‘ Welt und ihrer Dinge, die Überwindung des in Unterscheidungen befangenen Denkens. Der Anstoß, den der siebenjährige Knabe einst beim Lesen des Herz-Sutras genommen hatte: jetzt war er behoben.“ (Gundert 1967: 203)
Im Folgenden soll aber nicht dieses Gespräch im Mittelpunkt stehen, sondern die von Dongshan ausgearbeitete Form der „Fünf Standorte“ (五位), deren Bedeutung sich auch darin zeigt, dass Dumoulin diese als „die wichtigste dialektische Formel des chinesischen Zen-Buddhismus“ bezeichnet (Dumoulin 2019: 252). Gleichwohl wir hier eine paradoxe und keine dialektische Lesart vorgeschlagen wollen. Außerdem hat Hakuin fast tausend Jahre später die Fünf Standorte in Japan als Abschluss seiner Koan-Sammlung genommen und entsprechend kommentiert (Hakuin 2001, 2017): „Der japanische Zen-Meister Hakuin fand in ihr ‚Hauptprinzip des Buddhismus und den wesentlichen Weg der Zen-Übung.“ (Dumoulin 2019: 232).
„Weil jede Strophe die gleiche Erleuchtungsschau in anderer Perspektive ausdrückt, spricht man passend auch von ‚Fünf Standorten‘.“ (Dumoulin 2019: 232) Die Kernbegriffe sind bei jedem Standort sho und hen, was für das Gerade und Gekrümmte steht, aber auch für das Richtige und Einseitige oder das Absolute und Relative oder nach Spencer Brown den unmarked space und den marked space oder nach Heidegger Sein und Seiendes. In der chinesischen Philosophie und im Rahmen des Huayan-Sutra und in der Auslegung durch Fazang (法藏, 643-712) kann man hier noch den Vergleich zu li (das absolute Prinzip) und shih (die Erscheinung heranziehen) (Dumoulin 2019: 233; Cleary 2001d: 529ff.), wobei bei beiden Denkschulen „die Grundthese von der gegenseitigen Durchdringung aller Dinge im Ganzen der Wirklichkeit ist“ (Dumoulin 2019: 234).
Dabei können die beiden Seiten nicht voneinander getrennt werden, sondern bestehen immer gemeinsam und untrennbar voneinander zusammen. „Das Absolut ist das Absolute in Hinblick auf das Relative, und das Relative ist in Bezug auf das Absolute. Deshalb wird das Relativ-Phänomenale auch das ‚wunderbare Sein‘ (jap. myou) genannt, weil es von der ‚wahren Leere‘ (jap. shinku) untrennbar ist. Der Ausdruck ‚das wunderbare Sein der wahren Leere‘ oder ‚die wahre Leere im wunderbaren Sein‘ enthält die Quintessenz der erleuchteten Wirklichkeitsschau.“ (Dumoulin 2019: 233) Gleichwohl hier Heidegger korrigierend bei der Terminologie eingreifen würde und Sein durch Seiendes ändern würde.
1. Standort: Das Markierte im Unmarkierten
„Nach tiefer Mitternacht, bevor der Mond leuchtet -
Wundere dich nicht, über nicht erkannte Begegnungen,
Denn tief im Herzen verborgen, sitzt der Vorbehalt des bisherigen Lebens!“
(eigene Übersetzung, auch im Weiteren)
In der Nacht, in der noch alles im Dunkeln eins ist, lässt der Mond noch keine Konturen erscheinen. „Der Tag mit seinem Kampf und Kummer ist vergessen.“ (Gundert 1967: 207) Wesentlich ist, dass in der Nacht zwar alles Eins erscheint, aber die Dinge genauso vorhanden sind wie am Tag - nur durch die Nacht zugedeckt sind, oder umgekehrt? „Moon light symbolizes enlightenment before which no one realizes that the phenomenal arises from the noumenal. This is the first position of a student starting his Ch’an training.“ (Lu 1961: 135)
Gleichzeitig ist das Gatha sehr feinfüllig, denn es wird nicht nur die tiefe Mitternacht genommen, sondern ein bestimmter Moment, an dem der Mond langsam anfängt zu dämmern. Es ist dieser schmale Grat, zwischen absoluter Leere bzw. unmarked space und der Realisierung dieser Leere in einer Unterscheidung.
In diesem Moment ist die Welt noch nicht so fix wie am helllichten Tag: Verbrüderungen finden in der Nacht statt oder Grenzüberschreitungen. Die Welt ist auf einmal nicht mehr so fest und geronnen, wie sie einem sonst erscheint. In die Morgendämmerung hinein beten die Mönche sich in dass große Geheimnis hinein, während alle anderen Menschen bis auf wenige noch schlafen, um fit zu sein für den Tag - ohne zu merken, dass sie dadurch das Wesentlich im Leben verpassen.
Aber dies ist immer nur für einen bestimmten Moment möglich, dann kommt wieder die fixe Welt über einen, man ist wieder ein abgegrenztes Ich, was in seinem Hamsterrad schöne Kunststückchen vorführt und dafür kleine Belohnungen hingeworfen bekommt (Bonuszahlungen und Wertschätzungen), sich darüber freut, und noch mehr darüber freut, wenn es größere Belohnungen als beim Nachbar-Hamster sind - und nur manchmal wundert man sich, dass das eigene Lächeln so steif ist und das die Belohnungen auch eigentlich gar nicht schmecken.
So macht Kato Totsudo (1870-1949, buddhistischer Gelehrter) darauf aufmerksam, dass die Dinge nicht einfach für sich existieren. Im westlichen Denken kann dieser Unterschied am ehesten durch die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem bei Heidegger erklärt werden. Totsudo schreibt dazu: „‚Mitten im Richtigen Einseitiges‘, das will sagen: Diese ganze Welt vieltausendfältiger Erscheinungen, in der wir leben, ist ihrem eigentlichen Wesen nach nicht etwas, was von dem Standorte das ‚Richtigen‘ (d.h. des Leeren ohne jedes Einzelding) getrennt ein Sonderdasein führen würde. Somit zeigt die erste Stufe die Unterschiedenheit mitten in der Einheit des unterschiedslos Gleichen auf.“ (zit. nach Gundert 1967: 207f.)
Hakuin schreibt in seinem Kommentar zu diesem Standort, dass er „refers to the absolute state, where you experience the great death, explode, see the Way, and penetrate the noumenon. […] There is neither affliction nor enlightenment, no samsara or nirvana. It is totally empty and still, with no sound, no scent, like a bottomless clear pool, like trackless space.“ (Cleary 2001b: 302)
Auch mit den „Laws of form“ von Spencer Brown lässt sich dieser Standort als „unmarked space“ modellieren, in Form eines „unwritten cross“ (1969: 7). Der Zusammenhang der Standorte kann weiterhin angelehnt werden an ein „wiedereingeführtes Tetralemma“, was Dirk Baecker in einer soziologischen Verwendung des Formenkalküls vorgeschlagen hat. Bezeichnenderweise beginnt der Soziologe nicht mit dem Erleuchtungszustand, wie dies die Mönche tun, sondern diese taucht erst in der vierten Position auf (Baecker 2002: 10ff.) und für ein soziales System bleibt dieser Zustand weitgehend unbekannt, weil man bisher noch von keinem erleuchteten sozialen System gehört hat. Gleichwohl wäre es interessant einmal zu beleuchten, wie bei einem Kensho die verschiedenen Systemebenen kollabieren. Denn das Denken und Körper zusammenfallen, ist oft genug thematisiert worden. Was bisher nicht eigens reflektiert wurden, inwiefern die soziale Ebene hier ebenfalls kollabiert, da das Soziale als System sui generis zu fassen, noch nicht so lange eine vertraute Betrachtungsweise darstellt, sondern im Westen frühestens mit August Comte im 19. Jhd. Einzug hält.
Baecker beschreibt also diesen Standort folgendermaßen: „Sieht man von dem System und seiner Umwelt ab, stößt man auf die Welt, über die sich nichts sagen läßt, weil jede Aussage wieder die Aussagen über ein System wäre.“ (Baecker 2002: 11) Allerdings ist hier unter Welt so ungefähr das Gegenteil von dem gemeint, was der Alltagsverstand hierunter versteht (Luhmann 1994: 105ff., 283ff.). Eine Systemtheorie muss immer eine Grenze zwischen System und Umwelt ziehen, womit Welt ein Letztbegriff ist, den die Theorie nicht mehr zu fassen bekommt. Und hier kommt dann ein interessante Formulierung in Bezug auf den Vers im Herz-Sutra: Die Systemtheorie „könnte für die Welt keine Grenze angeben. Deswegen braucht sie jedoch als ihren eigenen Abschluß einen Weltbegriff, der die Einheit der Differenz von System und Umwelt formuliert und für diese Einheit keine Operation, sondern nur deren für sie umverfügbaren Ort angeben kann. […] Die Welt ist umbeobachtbar; versucht man sie, in eine Form zu bringen, wie es nicht zuletzt die Kunst immer wieder unternimmt [oder man müsste ergänzen, dass dies eher die Religion für das Ganze unternimmt, die Kunst eher für die Kontingenz jeder einzelnen Unterscheidung], schiebt sich diese Form vor die Welt und macht sie erneut unbeobachtbar.“ (Baecker 2002: 14f.)
Bei Lu wird für jeden Standort noch ein Gatha zitiert, was dieses noch einmal zusammenfasst:
„1. (Shift)
‘Following the example set by emperor Yao,
The prince teaches morality to his people.
At times he passes by the noisy marketplace,
While all men welcome his royal rule.’
The stanza describes the shift of the people (the minister, or the seeming) to the royal rule (the prince, or the real). Although the prince at times mixes with people in the crowded market place, they do not recognize him but admire his royal rule.“ (Lu 1961: 137)
Das Gatha mit dem Beispiel des Prinzen und dem Marktplatz zeigt schön die Verwobenheit und gleichzeitige Getrenntheit. Yao ist neben Shun und Yu einer der legendären Drei Erhabenen Herrscher Chinas im 3. Jahrtausend v. Chr. und Beispiel für moralisch perfektes und intelligentes Regieren. So mischt er sich ab und zu unter die Leute im alltäglichen Marktgeschehen, d.h. er ist nicht ständig präsent auf dem Markt und kontrolliert den Markt und den Alltag der Menschen auch nicht in jedem Detail. Aber er macht sich fühl- und nahbar von Zeit zu Zeit. Und dafür wird auch nicht der Alltag angehalten und es findet eine Prozession statt, in der Volk und Herrscher auseinandergehalten werden. Sondern er wird zugänglich und nah und reagiert auf diese Weise.
Auch für das Absolute bedeutet dies, dass es nicht erstrebenswert ist, ständig im Absoluten zu leben, sondern dass es ab und an präsent gemacht wird. Ansonsten wird in der größten Teil der Zeit der Alltag mit den notwendigen Verrichtungen gemacht. Aber dieser Alltag erhält seinen Sinn nicht aus sich heraus, sondern von einem Anderen her. Und dieses Andere ist grundsätzlich unzugänglich, aber er zeigt sich manchmal. Das Absolute bleibt unzugänglich und unverstehbar im Schloß, dass sichtbar hinter verschlossenen Toren über dem Marktplatz thront. Aber der gute Herrscher ist niemand, der den Alltag bestimmt, ausbeutet oder knechtet. Er zeigt sich einfach nur ab und zu als Prinzip und dies ohne zu sagen, was gemacht werden muss oder was richtig und falsch ist - jeder projiziert das Gute in Yao, ohne das dieser dies aussprechen muss, und jeder setzt das Gute entsprechend seiner Situation um.
Eine ähnliche Verwobenheit baut für einen christlichen Kontext auch Przywara auf ohne diesen Kontext hier so zu explizieren. Hier durchdringen sich Leib/Geist, Mann/Frau und Gemein-Glied/Gemein-Grund beidseitig in beide Richtungen (was hier Standort 1 und 2 entsprechen würde) und werden dann doch durch einen Riß in einer ständigen Oszillation gehalten (Standorte 3-5) (Przywara 1938: 47ff.; 1959).
Vielleicht ist es auch hilfreich für das Verständnis dieses Standortes zunächst nur ein von Przywara oft gebrachtes Zitat von Augustinus aufzugreifen. „Habe die Liebe, und, was du willst, tu: ob du schweigest, in der Liebe schweige; ob du rufst, in der Liebe rufe; ob du rügst, in der Liebe rüge; ob du schonst, in der Liebe schone: innen sie die Wurzel der Liebe, nicht kann aus dieser Wurzel wenn nicht Gutes bestehen.“ (aus: Augustinus: in epistolam Johannis Aad Parthos tractatus 7; 8 zit. nach Przywara 1934: 480)
Interessant ist hieran, dass hier die beiden „Letztbegriffe“ von Buddhismus und Christentum gegenüber stehen: Leere respektive Liebe. Zunächst scheint Leere überlegen zu sein, weil er der abstraktere und einfachere Begriff ist. Wenn man genauer hinschaut leistet der Liebesbegriff aber auch alles, was die Leere umfasst. Allerdings hat er einen entscheidenden Vorteil, da er eine direkte Ansprache enthält, was die Leere so nicht beinhaltet und etwa nachträglich aufgepfropft werden muss, etwa indem „Zuflucht“ bei den drei Juwelen oder bei Guanzizai gesucht wird.
Damit ist der Liebesbegriff der Leere überlegen und damit hat das Christentum hier mehr zu bieten als der Buddhismus, allerdings hat diese Selbstverständlichkeit einer Beziehung im Gottesverhältnis verhindert, dass man wirklich ums Beten gerungen hat. Der Buddhismus hat sich dagegen intensiv Gedanken über die Meditation gemacht und sehr komplexe Übungen angestellt, wie man zu Atmen hat bis dahin selbst wie man die Zunge zu halten hat. Das Christentum kann dagegen nur kaum beten - steckt hier nach 2.000 Jahren noch in den Kinderschuhen. Bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Ignatius von Loyola und auch heute sind Bücher wie „Theologie des christlichen Gebets“ (Schneider 2015) eine Seltenheit. Beten ist meist nicht mehr als das Vorlesen der Horen - was man mit mehr oder weniger Herz dann machen kann. Spannend wäre mal der Vergleich in Universitätsbibliotheken zwischen dem Umfang der Rubrik „Gebet“ und der Rubrik „Trinität“ und dann kann man sich fragen, ob eine philosophische Spekulation über die Trinität wichtiger ist, als eine lebendige, individuelle Gottesbeziehung aufzubauen.
„Liebe und dann tue, was du willst!“ wird von libertär-christlichen Kreisen gerne als Legitimation genommen, um für die Vorstellungen, die man sich von einem Christentum gemacht hat, den Segen von einem Kirchenvater zu holen (warum auch immer man diesen dann braucht). Konservativ-katholische Kreise wissen dagegen vom Kontext des Zitats ihres Kirchenvaters und rücken dies dann wieder in eine gute katholische Spanking-Szene. Aber sind beide wirklich der Grund, aus dem Augustinus dies gesprochen hat?
Beziehen wir dies auf unseren chinesischen Herrscher Yao, so läuft er nach einer libertären Lesart einfach über den Markplatz und lässt alles laufen wie es will. Aus konservativer Sicht patrouilliert Yao regelmäßig, um bei Bedarf hart zu Sanktionieren. In Bezug auf Macht ist beides Unfug. Für die Libertären kann man nicht zuletzt in der Systemtheorie nachlesen (Luhmann 2002), dass Macht, die nicht auch manchmal eingesetzt wird oder zumindest sich die Option dazu real offen hält, verfällt und Yao sehr schnell kein Herrscher mehr wäre. Und das eine panoptische Überwachung viel verteilter und diffiziler vorgehen muss hat vor allem Foucault gezeigt (Foucault 1996a, 1997).
Vielleicht kann man sich den Herrscher Yao und die Augustinische Liebe ja auch Paradox vorstellen. Denn ein Herrscher kann weise, mitfühlend, klug etc. sein, aber zu einem Herrscher gehört auch immer, dass er den Tod geben kann und dies schwingt immer mit. Und auch bei der Liebe gibt es die dunkle und gefährliche Seite: bei der Freundschaft (Φιλία) das Ausnutzen von Vertrauen, bei der partnerschaftlichen Lieben (Έρως) die einseitige Liebe oder die Trennung aus äußeren Gründen oder bei der selbstlosen Liebe (αγάπη) letztlich die dunkle Seite von Gott, der immer so unendlich größer ist als wir.
Dies sind jetzt verschiedene Facetten auf den ersten Standort gewesen. Die Perspektive von Heidegger wäre noch spannend, kann aber hier nicht geleistet werden. Dafür soll ein biografischer Ansatz dienen, zwischen ihm und Hannah Arendt: „Sie ist eine wißbegierige Studentin, er ein Rebell unter den Philosophen. Sie ist 18 Jahre alt und ein Freigeist, er 35 und verheiratet. Was sie verbindet, ist die Leidenschaft der Liebe und die Faszination des philosophischen Denkens. Beide lassen sich auf eine riskante Liebe ein, mit der zugleich ein abenteuerlicher Denkweg beginnt, der sie immer wieder auseinandertreibt und zusammenführt.“ (Grunenberg 2006: 7)
Heidegger war damals schon ziemlich weit auf seinem eigenen Denkweg vorangekommen, weit ab von dem, wo Philosophie sonst unterwegs war. Selbst Jaspers hat er nur noch zu diesem Zeitpunkt aus der Ferne gesehen. Aber was ihn vielleicht wirklich noch einmal ganz neu aufbrechen hat lassen, war eine Begegnung: da steht auf einmal dies junge Frau vor ihm, lange schwarze Locken, 16 Jahre jünger und hat ihm doch so viel zu sagen, aufbrausend und überwältigend in ihrem Wesen, faszinierend und klug, lustvoll und schlagfertig… und strahlt eine Tiefe aus, die aber mehr ist als Intelligenz, sondern diese Leidenschaft für Abgrund, Rausch und das Überschreiten von Grenzen. Hieraus entsteht vermutlich Heideggers Kehre in seiner Philosophie, eine Kehre, die er sich nicht hätte ausdenken können, die auch Arendt ihm nicht einfach gegeben hat, sondern die sich in ihrer Liebe ereignet hat. Arendt war das Nigari für Heideggers Sojamilch, erst so hat das ganze Substanz und Festigkeit bekommen und konnte zum Tofu werden.
Heidegger und Arendt waren nie ein offizielles Paar, es existiert kein gemeinsames Foto von den beiden, sie haben sich über lange Phasen ihres Lebens noch nicht einmal mehr geschrieben, trotzdem scheint die Liebe bis zum Schluß gehalten zu haben. Bezeichnenderweise endet dieses wundervolle Buch „Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe“ von Antonia Grunenberg mit einem so lapidaren Satz, der eigentlich nur eine Aufzählung biografischer Fakten ist, aber die so viel ausdrücken und wo so viel dahinter steckt: „Hannah Arendt starb, plötzlich, am 4. Dezember 1975 in New York. Martin Heidegger schlief am 26. Mai in Freiburg-Zähringen friedlich ein. Am 21. März 1992 starb Elfriede Heidegger.“ (Grunenberg 2006: 407)
Nicht zuletzt wird sich auch hieraus die große Bedeutung des „Entzuges“ in Heideggers Spätphilosophie verstehen lassen, zusammen mit dem Zerfall eines katholischen Milieus. Aber war deswegen die Beziehung zu Elfriede wichtiger? Hätten die beiden doch alles abbrechen und neu beginnen sollen? Oder kann eine große Liebe auch ganz andere Wege und Formen finden? War in Freiburg vielleicht nichts näher als diese Frau in New York?
2. Standort: Das Unmarkierte im Markierten
„Das Morgenrot ist gerade erst verschwunden, da schaut die Greisin in den alten Spiegel,
Klar sieht sie ihr Gesicht, denn es gibt keine andere Wahrheit!
Gib es auf, das Spiegelbild für dich selbst zu nehmen!“
Im zweiten Standort, ist gerade die unterscheidungslose Nacht verschwunden und im ersten Tageslicht schaut eine Greisin in den Spiegel. Sie sieht ihr Gesicht deutlich: ungeschminkt, in ihrem Gesicht finden sich noch die Spuren der Nacht, von Träumen, nach nicht erfüllten Wünschen und schönen Momenten der Vergangenheit, von Schlaflosigkeit und Weinen in der Nacht, von Geilheit am Morgen, von zu wenig Schlaf und alles dies ist noch offen sichtbar und noch nicht vom Mienen- und Theaterspiel des Tages verdeckt, wie die Maske (Persona) im antiken Theater oder im japanischen No-Schauspiel. „Mirror symbolizes the self-mind in which the most obstinate old woman, symbolizing our antiquated prejudices, sees her real face which cannot be sought anywhere else. This is the second position of a student perceiving his true face by giving up his former pursuit of externals.“ (Lu 1961: 135)
Ob man sich nun tagsüber als Silver Ager oder sonst wie agil und jung präsentiert, der Spiegel morgens zeigt doch ein anderes Bild: ein wahres und kein Wunsch- und Vorstellungsbild. Es stellt den Menschen buchstäblich vor die Frage der Vergänglichkeit, mit der die Greisin hier unvermittelt direkt nach dem Aufstehen konfrontiert wird.
Und dann nimmt das Gatha in der dritten Zeile noch einmal eine neue Wendung, denn es fordert auf, das Spiegelbild nicht für sich selbst zu nehmen. Es ist eben nur ein Bild, was sich allein darin zeigt, dass es verdreht ist, spiegelverkehrt und auch nach anderen Gesetzen funktioniert (dies weiß jeder, der mal versucht hat, sich selber die Haare zu schneiden).
Das Spiegelbild ist damit auch nur ein Mittel, uns von selbst gemachten Vorstellungen und Illusionen zu befreien, aber es ist auch noch einmal nötig, sich vom Spiegelbild zu befreien. Denn auch dies ist nur etwas Äußeres und fordert zum überschreiten auf.
Der zweite Standort wechselt damit die Seite, so dass nicht mehr Erscheinungen aus der Leere auftauchen, sondern in der Erscheinung die dahinterliegende Leere sich ahnen lässt. So schreibt Kata Totsudo hierzu: „Während auf dem der ersten Standort die ganze Mannigfaltigkeit der Dinge von der Gesetzesnatur des wahren So-seins-wie-es-ist umschlossen erschien, ist hier nun das Gesetz des So-seins-wie-es-ist in jedem Einzelding der Erscheinungswelt wirksam zu sehen. Zeigt die erste Stufe die Erscheinungen von ihrem wahren Wesen her, so die zweite von der Erscheinung her ihr wahres Wesen. […] Während also der erste Standort zeigt, wie das unterschiedslos Eine, Gleiche gar nichts anderes ist als die Welt der Unterschiede, zeigt sich von diesem zweiten Standort aus das Umgekehrte, daß nämlich unsere Welt der Unterschiede nichts anderes ist, als das wahre Wesen selbst, dass Eine, Gleiche ohne jeden Unterschied. Es ist die eine selbe Wahrheit, nur von entgegengesetzten Seiten her betrachtet.“ (zit. nach Gundert 1967: 209)
Dabei ist hier mit „wahrem Wesen“ nicht das gemeint, was das westliche Denken ausgehend von Platons Ideen versteht oder einem „veritas est adaequatio rei et intellectus“, sondern es ist die Leerheit aller Dinge mit dem wahren Wesen gemeint, und wie Erscheinungen aus dieser Leere hervorgehen (d.h. markiert werden) und dann auch wieder darin zurückgehen. Dies ist die Bewegung vom ersten zum zweiten Standort. „Einmal wird die Vielheit in der Gleichheit gesehen, alle mannigfaltigen Dinge und Ereignisse sind ihrem Wesen nach gleich, formlos, leer. Die Leere ist durch kein subjektives Element getrübt.“ (Dumoulin 2019: 234)
Aus dieser Perspektive geht die im westlichen Denken so dominante und nie gelöste Denkprämisse einer Subjekt-Objekt-Spaltung verloren, sie löst sich einfach auf. So kommentiert Hakuin diesen zweiten Standort: „Like two mirror reflecting each other without any image between them, mind and objects are one suchness, things and self are not separate. ‚A white horse goes into white flowers.‘ ‚Snow piles up in a silver bowl.‘ This is called vouching the precious mirror.“ (Cleary 2001b: 303f., siehe auch den Fall 13 im Bi-Yän-Lu))
[Baeckers Tetralemma: 1 Kommunikation]
Abschließend sei hier auch noch ein Gatha angeführt:
„2. (Submission)
‘For whom is the elaborate toilette now discarded?
The cuckoo’s call urges a traveller to turn home;
Its note continues when all flowers have fallen,
Echoing deep among the intermingling peaks.’
This stanza describes the wandering mind set on returning to its essence.When a student knows that all illusions are false, he resolves to forsake all clingings. His ‘inner cuckoo’s call’ urges him to return to his self-nature and this urge will last as long as there remain his old habits which cannot be wiped out at a stroke.“ (Lu 1961: 137)
Hier wird gefragt für wen und was wir eigentlich das ganze Theater spielen? Warum machen wir uns jeden Morgen zurecht und schön? Warum steigen wir jeden Morgen in das Kostüm (oder besser den Kampfanzug) unserer gesellschaftlichen Rolle? Um wie Herr Westerwelle am Ende mit leeren Händen dazustehen, weil der Anzug Parteivorsitzender, Vize-Kanzler etc. genauso gut dem nächsten passt? Man hat den Anzug mehr oder weniger ausgefüllt, aber unabhängig davon ist man nichts - aber wäre dies nicht auch eine zutiefst buddhistische Position, indem das Ich wenig zählt im Verhältnis zur gesellschaftlichen Rolle, die erbracht werden muss?
Vielleicht ist es eher so, wie mit dem Hirten und dem Ochsen. Hier kann der Hirte natürlich direkt am Anfang sagen, scheiß auf den Ochsen, ich suche mir jetzt mein Glück auf dem Marktplatz oder aber er sucht erst den Marktplatz auf, nachdem er alle Schritte zur Zähmung des Ochsens hinter sich hat (Enomiya-Lassalle 1990, Ueda 2011). Der Kuckuck ruft das ganze Leben durchgehend dazu auf, umzukehren und sich um die Zähmung des Ochsen zu kümmern. Sich nicht mehr vom Marktplatz bespaßen zu lassen, die vielen Ablenkungen zu genießen und sich zerstreuen zu lassen, sondern nach Hause zu kommen. Ins leise, alltägliche, bodenständige Zuhause. Wenig spektakulär im Gegensatz zu den Attraktionen auf dem Marktplatz, aber es hat das erstmal mit einem selber jetzt etwas zu tun, es ist keine leere Rolle, sondern es geht darum, die Substanz zu bilden, womit man eine Rolle füllen kann. Nur leider geht dies nur all zu oft auch mit einem aufgeblasenen Ego, so dass kaum die Notwendigkeit einer Umkehr (christlich würde man sagen μετάνοια) empfunden wird - der Kuckuck singt halt auch leise.
3. Standort: Aus dem Unmarkierten herauskommen
Mitten im Nichts ist ein Pfad aus dem Staub heraus,
Ohne vorherrschende Namen anzutasten,
Überschreitest du damit jeden eloquenten alten Weisen, die jedem den Mund verboten.
Zunächst werden hier gar nicht mehr beide Seiten zusammen genannt, sondern nur das Unmarkierte. „Auf diesem Schauplatz tritt nun einer auf, als käme er aus einer anderen Welt, ein Heiliger, der von der Nichtigkeit des Ichs und aller Dinge so durchdrungen ist, so ganz in diesem Einen Gleichen lebt, daß seine Wege andern unbegreiflich sind.“ (Gundert 1967: 209)
Dieser Weise bewegt sich mitten im Nichts und lässt allen Staub von sich abgleiten und wischt ihn weg, der ihm von der Welt der Unterscheidungen vorgegeben werden. Aber gleichzeitig gibt es hier eine Dynamik, so dass wohnend im Nichts ein Heraustreten aus diesem Nichts stattfindet. Das Erreichen des Nichts ist damit nicht das letztet Ziel, in dem man sich dann ausruhen kann, dass Nichts ist nicht das Mallorca der Seele. Vielmehr ist es der Grund auf dem man sozusagen ehrenamtlich wieder in die Welt aufbricht. „Das Absolute ist mit aller Entfaltungsmöglichkeit geladen, gleich dem Samenkorn, bevor der erste Keim sprießt. […] Bei der Deutung der dritten Stufe kann indes auch dem dynamischen Moment, in dem Schriftzeichen rai (=Kommen, Herauskommen) angedeutet, ein entscheidendes Gewicht gegeben werden. Das Absolute befindet sich am Wendepunkt zum Heraustreten in die Welt der Erscheinungen. ‚Das Kommen zur Gleichheit ist kein endgültiger Zustand; dieses ‚Gelangen zur Gleichheit‘ erfordert ein gleichzeitiges ‚Heraustreten‘ aus ihr, wobei ein dynamischer Zirkel der Bewegung zwischen dem Ankommen zur Gleichheit und dem Heraustreten entstehen soll.‘“ (Dumoulin 2019: 235)
Aus dem Nichts heraus findet er also wieder einen Pfad in die Welt, in eine Welt, die nur aus Unterscheidungen besteht. Aber alle diese Unterscheidungen, d.h. alles was wir mit einem unterscheidenden Namen belegt haben, tastet er gar nicht an. Er ist kein einseitiger Revoluzzer, der alles zerschmettern möchte, sondern schon jemand der diese Paradoxie am Ende des Gedichtes „Der Revoluzzer“ von Erich Mühsam zu lösen versucht:
„War einmal ein Revoluzzer,
Im Zivilstand Lampenputzer;
Ging im Revoluzzerschritt
Mit den Revoluzzern mit
Und er schrie: „Ich revolüzze!“
Und die Revoluzzermütze
Schob er auf das linke Ohr,
Kam sich höchst gefährlich vor
Doch die Revoluzzer schritten
Mitten in der Straßen Mitten,
Wo er sonsten unverdrutzt
Alle Gaslaternen putzt
Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
Aus dem Straßenpflaster aus,
Zwecks des Barrikadenbaus
Aber unser Revoluzzer
Schrie: „Ich bin der Lampenputzer
Dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!
Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen,
Kann kein Bürger nichts mehr sehen,
Laßt die Lampen stehn, ich bitt!
Denn sonst spiel’ ich nicht mehr mit!“
Doch die Revoluzzer lachten,
Und die Gaslaternen krachten,
Und der Lampenputzer schlich
Fort und weinte bitterlich
Dann ist er zuhaus geblieben
Und hat dort ein Buch geschrieben:
Nämlich, wie man revoluzzt
Und dabei doch Lampen putzt“
Er lässt also die bestehenden Verhältnisse zunächst einmal so, aber er richtet sich sozusagen nicht in diesen Unterscheidungen ein. Zuhause ist er im Nichts, aus dem er immer wieder erneut aufbricht. Und gleichzeitig ist jede Unterscheidungen nicht nur ein Einschränkung, wie dies für viele Menschen der Fall ist, sondern jede Unterscheidung bietet auch einen Zugang zum Nichts. Es ist in jedem Moment einen crossen möglich, vom markierten Zustand ins Nichts. Dafür braucht der Weise nicht in die Kirche gehen oder sich aufs Zafu hocken. „This is a position when the student has been disentangled from both the real and the seeming to abide in the ‘mean’. If he continues to abide there and cling to the ‘mean’ he will commit what is forbidden and will not realize the integration of both the real and the seeming into an undivided whole for his final enlightenment. This is the third position of a Bodhisattva advancing little by little from the first to the seventh stage of a Bodhisattva’s enlightenment. This was the stage reached by Hui Neng when he first saw the Fifth Patriarch and said to him: ‚I wish to tell you that my own mind always gives rise to wisdom; it does not stray from my self-nature and should be a field of blessedness. I do not know what kind of work you will give me to do.’“ (Lu 1961: 135)
Mit dieser Haltung aus seiner Mitte heraus übersteigt er alle alten Weisen, die etwas Unterscheidendes zu lehren hatten. Vielmehr zeigt er auf, dass in jeder Unterscheidung die Leere aufbrechen kann, und mit dieser Haltung übersteigt er alle anderen Dogmatiken. Es ist ähnlich der Eloquenz, die die Kritiker von Michel Foucault in Rage gebracht haben und die er sehr gehässig und zugespitzt selbst zusammengefasst hat. So sagen die Kritiker: „Sie bereiten sich darauf, wiederum zu behaupten, daß Sie nie das gewesen sind, was zu sein man ihnen vorwirft? Sie präparieren bereist den Ausweg, der Ihnen im nächsten Buch gestattet, woanders aufzutauchen und, wie Sie es jetzt tun, zu höhnen: nein, nein, ich bin nicht da, wo Ihr mich vermutet, sondern ich stehe hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe? [… Antwort:] Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: dass ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es such darauf handelt, zu schreiben.“ (Foucault 1981: 30) Das ist die Haltung eines wahren Weisen (wenn auch ein vollkommen anderes Bild, als was Wilhelm Schmid von ihm versucht zu zeichnen).
Was vielleicht nicht weise an Foucaults Haltung ist, ist diese Arroganz, die hier auch durchscheint. Dieses sich gar nicht auf eine Diskussion einzulassen und sich dem immer zu entziehen und nur lachend außen vorstehen. Aber diese Arroganz gilt vermutlich nur der französischen Intellektuellen-Schickeria und ihrem Getue und Worthülsen-Ballerei. Denn eigentlich ging es Foucault vor allem darum, Menschen aus gesellschaftlichen Korsetten zu befreien, indem er die perfiden Mechanismen der Macht aufdeckte und so ihre Kontingenz sichtbar machte.
So kann Foucault dann doch als veritabler Zen-Mönch durchgehen, der alleine für sich Macht- und Wissens-Dispositive in ihre Leere hin aufgelöst hat, mit dem Ziel sich selbst und andere zu befreien. So hätte er auch Hakuins Kommentar zu dem 3. Standort vermutlich unterschreiben können: „In this rank, enlightening beings of the higher vehicle do not dwell in state of result they have realized; […] seeking enlightenment above while edifying people below. This is what is called coming back within going away, going away within coming back.“ (Cleary 2001b: 304)
[Baecker: 3 Intelligenz]
Aber ab dem dritten Standort kann auch zur Klärung auf das Yijing zurückgegriffen werden. Eine entsprechende Zuordnung findet sich bei Lu (1961: 151), wobei den beiden ersten Standorten ein Trigramm zugewiesen wird und den drei folgenden jeweils ein Hexagramm, dass aus diesen beiden Trigrammen gebildet worden ist. Diese drei Standorte werden gerade durch die Interpretation im Rahmen des Yijing die Dynamik in der gegenseitigen Durchdringung der ersten beiden Standorte zeigen.
Dem dritten Standort wird das 28. Zeichen, das große Übergewicht (daguo, 大過), zugeordnet. Das Hexagramm ist von den Interpreten sehr unterschiedliche bewertet worden: „ein hoher First weist auf ein großes Haus hin, in dem eine große Familie lebt, deren Unternehmungen unter den guten Bedingungen gelingen. [… vs.] Der Firstbalken ist zu durchgebogen, und das Hausdach zu halten, es droht einzustürzen und deshalb ist es von Nutzen hinauszuziehen […] Xu Zihong hält das Hexagramm ‚großes Fehlgehen‘ für ein Symbol sowohl des Unheils als auch des Glücks, so sei seine Bedeutung groß im Sinne von umfassend“ (Simon 2014: 217).
Um dieses Verhältnis besser bestimmt zu können, greifen wir hier das Verhältnis von Boot und Wasser resp. Herrscher und Volk wieder auf, womit an den Überlegungen oben im ersten Standort zum Herrscher Yao angeknüpft werden kann: „Der Hochwohlgeborene, er ist das Boot. Das Volk es ist das Wasser. Das Wasser, es kann das Boot tragen. Das Wasser, es kann das Boot bedecken.“ (Simon 2014: 221) Übertragen bedeutet dies, dass die Leere bzw. das Unmarkierte, das Seiende bzw. die Markierungen tragen kann, aber diese können genauso davon verschluckt werden. Im Boot muss man sich immer bewusst sein, dass das Wasser zwar das Boot trägt und das Boot sich auch nur im Wasser bewegen kann und nur hier Sinn macht (nicht auf dem Land), aber dass das Wasser auch stärker werden kann und das Boot kentern lassen kann. Man muss also genau auf das Wasser schauen und sich nicht zu sehr nur auf das Boot verlassen. Gleichzeitig brauchen wir Menschen das Boot im Wasser. Zwar macht es eine Zeit lang Spaß ohne Boot im Wasser zu schwimmen, aber auf Dauer geht dies nicht, und fischen etc. ist erst recht nicht möglich.
Ein ähnliches Verhältnis hat auch Leere und Markierung. Der Taoist Liu I-Ming kommentiert diese Passage folgendermaßen zunächst für die äußere Alchemie: „This hexagram represents harmonious blending of the medicinal substances, in which fullness requires use of emptiness.“ (Cleary 2003c: 121) Und dann entsprechend auch auf der geistigen Ebene der inneren Alchemie: „They make use of the phenomena of the world to practice the principles of the Tao, playing a unique tune on an individual harp. Unmoved by the prospects of life or death, they stand aloof of all things without fear. Like the flexibility of wood, they have talent but do not presume upon it, they have intelligence but do not rely on it.“ (Cleary 2003c: 263).
Abschließend wieder ein Gatha zu diesem Standort:
„3. (Achievement)
The flowering of a withered log (heralds) an eternal spring.
Hunting a unicorn a man rode backwards on a jade elephant.
Now he dwells alone beyond a thousand
Peaks, blessed with bright moonshine and pure breezes.’
By giving up his previous discriminations and developing his inner potentiality to the full, his mind becomes as insensible as a withered log which is about to be resurrected heralding an eternal springtime symbol of his eternal bliss. He first rode on a jade, or white elephant which symbolizes the immaculate Path, i.e. the immaculate conception of Tao, in hot pursuit of his real goal. ‘Reverse ride’ is the Ch’an idiom for ‘going against the stream of birth and death’ in contrast to ‘following the worldly way’. ‘Unicorn’, a fabulous auspicious animal, symbolizes the supreme goal, the realization of his self-mind. After his arduous training, he now succeeds in fulfilling his desire and lives beyond thousands of peaks which separate him from the worldly, and there he enjoys bright moonshine and pure breezes, symbols of enlightenment and bliss. This is a state the Sixth Patriarch had attained when he asked a petty official to write his first stanza on the wall, laying stress on the non-existence of a single thing.“ (Lu 1961: 137f.)
4. Standort: Das Markierte umschließend
Kreuzen sich zwei Klingen, kein Grund zurückzuziehen,
Ein wahrer Krieger ist wie Lotus im Feuer -
Klarer Geist, der sich in den Himmel streckt.
Hier wird wieder einmal deutlich, dass es beim Zen nicht um Ruhe oder dahinplätschernde Meditationsmusik in irgendeiner Zurückgezogenheit geht. Zen ist Kampf und sich der Welt stellen. Einer Welt, die so gar nicht ruhig ist, die durchgängig durch Gegensätze und Konflikte geprägt ist. Aber die gerade darin auch ihre natürlich Schönheit haben kann, wenn sie nicht menschlich pervertiert wurde durch Ausbeutung von Machtungleichheiten. Aber auch hier gilt es für den Zen-Meister zu kämpfen. Es geht um die Anerkennung und Bewunderung dieser bunten, widersprüchlichen, üppigen Welt in all ihren Unterscheidungen und die Schönheit, Wahrheit und das Gute dieser Welt auch darin wahrzunehmen, dass sie (das Markierte und Relative) aus dem Nichts (dem unmarked space und dem Absoluten) kommt und dahin zurückfällt, aber dadurch auch immer alles untereinander verbunden bleibt.
Totsudo kommentiert diesen Standort so: „Hier also gilt es, die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens mit ihren tausend Gegensätzen so zu nehmen, wie sie ist, jeweils dem gegebenen Anlaß folgen, die Dinge je nach innerem Trieb und nach Gelegenheit auffassen, zugestehen und nicht verwehren, daß jedes Ding, jede Erscheinung ihren eigenen Sinn und Zweck hat, der sich von meinem eigenen unterscheidet. Und nun her mit Wort und Rede, her mit Kunst und Schläue! Nun gelte auch der Gegensatz von Gut und Böse, Recht und Unrecht! […] Hier gilt es, ungehindert frei und souverän sich tätig zu bewegen. Das ist die Meinung dieses ersten Verses. Für zwei Fechter mit der scharfen Waffe, im Kampf des Drachen mit dem Tiger, da gibt es keine Pause. Einen Augenblick nicht aufgepaßt, und du bist entzwei. Hier heißt es: sich zusammennehmen! In die Wirrnis dieser Welt hineinzutreten, auf dem Kampfplatz aller Leidenschaften und Gemeinheiten sich durchzuschlagen, das erfordert diesen Geist des Fechters, der sein Leben einsetzt.“ (zit. nach Gundert 1967: 210f.)
Aber es ist eben kein normaler, alltäglicher Kampf, wo die Kraft des Stärken obsiegt und den Besiegten unterdrückt und knechtet. Vielmehr kreuzen sich hier zwei Klingen, die erst gegeneinander in ihrer Unterschiedenheit stehen und sich dann aber immer weiter auf einer höheren Ebene integrieren. „The student can avoid this crossing of swords, or clash between the seeming and the real by realizing their intermutation which enables him to emerge triumphantly, like a lotus blooming in the fire of samsara to leap right through the blue sky to the following stage of final enlightment.“ ( Lu 1961: 135)
Der Kampf wird damit nicht durch Dominanz entschieden, sonder durch eine paradoxe Integration in ein größeres Ganzes. Dies entspricht „genau dem dritten Dharma-Bereich des Kegon-Schema, nämlich dem Bereich des ‚ungehemmten Ineinander von li und shih zu entsprechen. […] Das Relative kann ebenso wenig ohne das Absolute sein, wie das Absolute ohne eine Potentialität zum Relativen hin sein kann. Beim Anschauen der Phänomene, Bedingungsverknüpfungen, Kräfte in ihrer relativen Eigenform, wird die Absolutheit durch die reine Relativität offenbar.“ (Dumoulin 2019: 236)
Ein solcher Krieger ist wie ein Lotus. So wie der Lotus aus dem Schlamm und Dreck des Teichbodens in die Höhe wächst und dort eine vollkommen reine weiße Blüte austreibt und der selbst durchs Feuer nur noch mehr geläutert wird, so wächst auch der Krieger aus den Widersprüchen der Welt in seine Erleuchtung hinauf. Der Matsch verhindert nicht die weiße Blüte, sondern im Gegenteil: wird der Lotus aus dem Matsch herausgeschnitten, stirbt er und verwelkt. Allerdings muss der Lotus aus dem Matsch herausstreben, erst durch die Tiefe und das Dunkel des Wassers hindurch (eine Art Läuterung), um dann bis in ein ganz anderes Element, die Luft, zu kommen und erst in diesem anderen Element kommt er zu sich selbst - aber ohne die nährende Verbindung zum Boden zu verlieren.
Wenn man sich Unterwasser-Bilder von wachsendem Lotus anschaut, kann dies eine ganz eigene Faszination haben, weil man viele Verbindungen zum Gebet hier hineinlegen kann. So wächst man im Gebet aus seinem eigenen Matsch, Dreck, Schlamm und Schlamassel heraus. Aber es ist nicht so, dass das Gebet eine Flucht wäre, da man weiter mit dem Gebet in seinem Leben und Alltag gründet, aber sich eben nicht mehr dadurch gefangen lassen lässt. Man strebt als Blatt und Stängel aus dem Grund heraus, was zunächst erstmal vollkommen sinnlos erscheint - und erst Recht erscheint es der Mühe nicht wert, wenn dies nur noch wenige Lotuswurzeln (sprich Menschen) tun, weil man kaum noch die Früchte die Blüte sehen kann (also den Glauben). Gleichwohl hat man auch nur annähernd eine Vorstellung von der Blüte, da man sie ja nur von unten sieht und sie durch das große Blatt weitgehend verdeckt ist und darüberhinaus hat man eh Unterwasser keine Vorstellung was das Element Luft überhaupt ist. Aber umso höher man wächst, desto mehr Konturen erhält das, was man durch die Wasseroberfläche sieht: der blaue Himmel, Wolken, die Sonne, Bäume am Uferrand. Zwar kennt man immer noch nicht das Element Luft, aber man ahnt es, es entsteht eine Sehnsucht. Und man fängt an unter Wasser eine Atemnot zu bekommen… dieser Übergang zwischen den Elementen, weder dem einen noch dem anderen wirklich zuzugehören. Aber man ist gebunden, durch das so langsame Wachsen des Stängels wird man festgehalten… und es ist ein Zustand des Ertrinkens… in diesem Zustand ereignet sich vermutlich der größte Teil unseres Betens in unserem Leben.
Hakuin kommentiert: „In this rank, powerful enlightening beings spin the wheel of the principle of nonduality of light and dark. In the midst of the red dust, ashes on the head and mud on the face, they act freely in the company of sound and form; like a lotus blossom whose color and fragrance become fresher and clearer in fire, they go into the marketplace extending their hands, acting for others.“ (Cleary 2001b: 305)
[Baecker: 5.1 Sinn]
Im Yijing wird dies dem 61. Hexagramm „Glauben aus der Mitte“ zugeordnet. Dieses Zeichen besteht oben aus dem Wind und unten aus dem See. Der Kommentar hierzu beginnt: „Über dem See weht der Wind und bewegt die Oberfläche des Wassers. So zeigen sich sichtbare Wirkungen des Unsichtbaren.“ (Wilhelm 1992: 221) Und der Tuan-Kommentar schreibt hierzu: „Ein Boot wird über die Leere gesteuert. Aufrichtige Glaubwürdigkeit mit Nutzen (für andere) und mit (Beschreiten) des rechen Weges - das entspricht nun dem Himmel.“ (Simon 2014: 434) Auch hier geht es darum, dass der Mensch sich als Boot auf dem Wasser bewegt. Wobei das Wasser für beides steht, zum einen für die unendlich Mannigfaltigkeit, die sich im Wasser an Fischen, Pflanzen, Strömungen etc. befinden, und gleichzeitig wird durch das Wasser auch die Einheit anschaulich, weil man durch eine glatte Wasseroberfläche oft buchstäblich „nichts“ sieht und etwa Fische auf einmal aus der Tiefe des Nichts auftauchen - auf einmal springt ein Delphin durch die glatte Wasseroberfläche, ist eine Zeit zu sehen und verschwindet dann wieder, ohne dass man sagen könnte in welche Richtung oder ob er noch ganz nahe bei einem ist.
Ein weiterer Aspekt ist, dass das Boot durch den Wind angetrieben wird. Durch den Wind, den man nicht sehen kann und dessen Richtung man auch nicht steuern kann, mit dem an sich bestenfalls arrangieren kann (in Form einer Fuge). Diese paradoxe Freiheit greift ein buddhistischer Kommentar auf: „The wind trigram is associated with wood and here forms a boat floating on lake, a body of water. The boat is empty inside, and the wood is strong; therefore it can carry anything and travel any distance. When people are flexible inside, they are like an empty boat; when their strength is in balance, they are like strong wood: then they can go through myriad ups and downs without being defeated. Sincerity in the center is the ultimate righteousness in the world. Only by being beneficially upright can one attain sincerity in the center. This cannot be forced; it is just response to natural inherent qualities. Observe how dolphins leap in the waves when a strong wind ist about to arise. The dolphins have no intention of sensing the wind, and the wind has no intention of responding to the dolphins. It is because their minds are empty that their patterns are fulfilled.“ (Cleary 2001d: 362)
Auf diese Haltung verweist auch Linie 1: „Das Begräbnis wird glücklich verlaufen“, wobei „an shen ‚den Geist befrieden‘, welches ein ‚friedliches Begräbnis‘“ bezeichnet (Simon 2014: 434f.). Aber hier zeigt sich, dass es nie um eine Einseitigkeit geht, es wird nicht die Welt für den Himmel aufgegeben und auch nicht das Leben für den Tod. Sondern man steht fest in der Welt, weil man zum Himmel strebt und man lebt erst wirklich, wenn der Tod hineinragt, aber das Leben nicht überwältigt. Es gibt hier keine einseitige Dominanz von Tod ODER Leben, sondern es ist immer ein feines Spiel und ein Spiel, wo es buchstäblich um Leben und Tod geht.
Das Yijing findet hierfür ein sehr eindrückliches Bild von einem wohlwollenden Gerichtsverfahren, was zwar die Todesstrafe verhängen kann, diese aber für das Leben zurückhält:
„DAS BILD.
Über dem See ist der Wind:/ das Bild der inneren Wahrheit./ So bespricht der Edle die Strafsachen,/ um Hinrichtungen aufzuhalten.
Der Wind bewegt das Wasser, weil er in seine Zwischenräume einzudringen vermag. So sucht der Edle, wo er Fehler der Menschen abzuurteilen hat, in ihr Inneres verständnisvoll einzudringen und dadurch eine liebevolle Beurteilung der Umstände zu gewinnen. Die ganze antike Rechtsprechung der Chinesen war von diesem Grundsatz geleitet.“ (Wilhelm 1992: 222)
Dies findet sich etwa im Prinzip der Billigkeit auch in der griechischen Antike findet (Aristoteles 2002: 227ff. bzw. 1137b ff.) oder interessant wäre auch den Bezug zu einem Wahrheitsdiskurs zu nehmen, der von einem „principle of charity“ ausgeht (Davidson 2001, 2004, 2005). Aber hier geht es erstmal darum, dass der Tod, also die Todesstrafe, zurückgehalten wird, um aus dem Verstehen der Individualität heraus wieder das Leben zu gewinnen. Auch der Taoist Liu I-Ming greift in seinem Kommentar diesen Aspekt auf: „Even if the crime is unpardonable, they still postpone execution and reconsider the case, seeking a way of life in the midst of death.“ (Cleary 2003c: 293) Es ist also eine Haltung, die zum einen schon die Wahrheit feststellt, was in der Vergangenheit passiert ist und dies beurteilen. Aber diese Haltung möchte nicht nur feststellen, sondern auch wieder in Bewegung bringen, indem sie wieder Möglichkeiten für Leben aufzeigt und Perspektive und Hoffnung schafft. Mitten im Tod und in einer verfahrenden und ausweglosen Situation von Schuld, wird wieder Leben gesucht - und zwar gemeinsam mit und für den Menschen. „When one understands truth in the mind and puts it into actual practice, the mind dies and the spirit comes to life; gradually cultivating this without seeking immediate results is like postponing execution.“ (Cleary 2003c: 293) Es ist dieser Wechsel von einem ich-bezogenen Denken und Urteilen, hin zu einem Hören und Praktizieren auf einen Geist. Eine Haltung, die sich nicht begründen lässt mit rationalen Argumenten, sondern die auf ein Inneres hört. Gleichwohl die Schwierigkeit darin besteht, vorher dieses Innere zu reinigen und man nie sicher sein kann und es auch kaum Kriterien dafür gibt, wann dies tatsächlich gereinigt ist. Denn auch der Wut-Bürger hört auf sein Inneres und er hat mit dem, was er von dort raushört in Teilen recht (indem es etwas eine Schieflage und Ausgrenzung in der Gesellschaft gibt), aber in seinen Konsequenzen, die er daraus zieht, absolut falsch liegt!
Deswegen geht es darum, dieses Hören zu kultivieren und hierfür auch Geduld zu haben, ohne direkte Resultate zu erwarten. Vielleicht ist das Gebet und Meditation hierfür gerade die beste Praxis. Aber eben kein Runterleiern von Gebeten, sondern sich anschauen lassen von Gott oder der Leere. Und dass dies keine „immediate results“ hat, weiß jeder, der viel und regelmäßig betet - und trotzdem fühlt sich nichts im Leben sinnvoller an, als diese von außen betrachtete sinnloseste Tätigkeit! Siehe hierfür auch nur Bodhidharma, der den beschwerlichen Weg von Indien nach China auf sich nimmt, ein kurzes Gespräch mit dem Herrscher in China hat und sich danach 9 Jahre vor eine Wand im Shaolin-Kloster setzt (siehe Fall 1 des Hekiganroku).
Aber diese Art von Reinigung hat auch zentral etwas mit töten und leben lassen zu tun. Und bei dem Beschuldigten, muss dann schon das Schlechte getötet werden, aber ebenso nach den lebenden Trieben, Knospen, Wurzeln oder Samen gesucht und diese kultiviert werden. Es ist wie die Kultivierung einer Pflanze, die man ebenfalls beschneiden muss. „Consideration whereby life is sought in the midst of death, freeing the innocent and condemning the guilty, enlivening what should be alive and killing what should be dead. If consideration is not thoroughgoing, one has no independent perception, and one does not have too much self-confidence, how could it be appropriate to ‚kill‘ rashly? Postponement means reconsideration of whether or not ‚death‘ is appropriate.“ (Cleary 2003c: 293)
Eine Haltung, die auf diesem schmalen Grat von Leben und Tod agiert, aber ohne viel Nachdenken, sondern entschlossen handelt, wie ein Handwerker, der nach seinem impliziten Wissen und seiner Erfahrung handelt und in diesem Fall auch noch durch den Geist geführt wird. Man ist damit sehr weit entfernt von der Juristerei und auch Theologie. Es ist ein Handeln am Abgrund, wo Tod und Leben so nahe sind und man als Mensch so ohnmächtig. Wie bei der Geburt oder dem Tod eines Menschen. Auch hier hilft nicht viel überlegen, sondern einfach nur Dasein, offen sein und zu spüren wie in diesem Moment der Himmel so weit offen ist und man Wiederstehen muss in diesem Himmel hineingezogen zu werden. Bei der Geburt wird man zurückgehalten, weil man ein Geschenk aus dem Himmel erhalten hat, beim Tod wird einem so brutal die Tür vor der Nase zugeschlagen und man wird darauf verwiesen, dass dies nicht die eigene Entscheidung ist.
So schreibt auch Liu I-Ming weiter, „inasmuch as the way of life is perforce difficult, the way of death is not easy either. If one does not postpone death bust rather hastens death, hoping for quick accomplishment, one may become a nihilistic quietist. So it is a matter of ‚death‘ aunt consideration, an then reconsideration at the time of death whether it is right or wrong, true or false. Only when this is perfectly clear in one’s mind will one avoid the mistake of taking the spurious for the genuine. In the image of the hexagram, above is wind, representing gradual advance, while below is lake, representing harmonious and joyful action. Gradualism means one can avoid haste, harmony means one can be considerate. With consideration and relaxation, truthfulness within being put into practice outwardly, an all-out effort will dissolve away all the pollution of conditioning and expose the primordial original being, so that one will surely reach the realm of eternal life.“ (Cleary 2003c: 293f.)
Und zum Abschluss noch ein Gatha:
„4. (Collective achievement)
Buddhas and living beings do not hinder one another.
The mountain may be high and deep the water;
In the midst of contraries clear understanding wins the day,
(And yet) the partridge calls among a myriad fresh flowers.
This is a state in which the phenomenal integrates into the noumenal without further separateness between the two. The clear, or complete understanding of this integration prevails inspite of myriads of contraries, in the midst of forms, symbolized by hundreds of flowers, and sound, symbolized by the call of partridges, everything melting into a divine harmony. Of the six sense data, form and sound obtain wherever one may happen to be, whereas the other four are not so frequently prevalent, hence the reference to form and sound only in nearly all illustrations of the six sense-data. This is a state attained by the Sixth Patriarch after hearing the Fifth Patriarch read a sentence quoted from the Diamond Sutra: ‘One should develop a mind which does not abide anywhere.’ Hui Neng’s understanding of the intermutation of phenomenon and noumenon enabled him to declare later at Fa Hsin monastery in Canton: ‘Neither the wind nor the banner moves; it is the minds of the Virtuous Ones which move.’“ (Lu 1961: 138)
揭諦揭諦