῎Εσομαι μετὰ σοῦ
Exodus 3, 12






揭諦揭諦,波羅揭諦,波羅僧揭諦,菩提薩婆訶
Auf! Auf! Brich auf! Brich auf zum anderen Ufer…aufsteigendes Licht!
Herz-Sutra





Ein Liebespaar nimmt Abschied, da es Tag wird.
Reinhold Schneider, Winter in Wien

Vorbemerkung:

Alles auf dieser Seite beansprucht keinen allgemeinen Wahrheitsanspruch! Es ist mein bockiger Versuch trotz Kirche weiter Gott suchen zu können. Denn Sätze wie von Benedikt XVI. nach seiner Wahl, sind mir vollkommen unverständlich: „Vor allem vertraue ich mich euren Gebeten an. In der Freude des auferstandenen Herrn und im Vertrauen auf seine immerwährende Hilfe gehen wir voran.“ Für mich hört sich dies nur nach altem nachgeplapperten Zeug an, wo ich in der Regel keine Begründung mehr im Sprecher wahrnehmen kann (was sicherlich mein subjektiver Eindruck ist!). 

Gleichwohl ahne ich, dass in solchen Sätzen nicht nur viel Wahrheit drin steckt, sondern das sie der Schlüssel zu unserer Person sind. Alles auf dieser Seite stellt den Versuch dar, mir diesen Schlüssel auf meine Art zugänglich zu machen. Dafür bin ich nach langem Literaturstudium (allerdings weitgehend privat und nicht universitär (zumindest für den Bereich der Theologie)) mit Sudhana auf eine Pilgerschaft aufgebrochen, gemeinsam sich stützend und aufeinander aufpassend und ermutigend auf unbekannten Pfade durch die Klamm und die Berge kraxelnd. Dies ist das Tagebuch dieser Pilgerschaft, was mir hilft mich zu ordnen und was ich Sudhana schenke, die mir den Aufbruch ermöglicht hat. (Der einzige Adressat ist damit Sudhana, alle anderen möglichen Leser sollen sich ermutigt fühlen, selber auf ihren Pfade aufzubrechen… die Kirche braucht wieder eine richtige Punk-Bewegung! Maria 2.0 ist hiermit aber sicher nicht gemeint…) 

Das folgende versteht sich also in keinerlei weise als Theologie, sondern eher als Wege ins Gebet. Leider ist das Christentum weitgehend blank was das Nachdenken über das Beten angeht, so dass ich mich hier hauptsächlich an Ignatius von Loyola halte und dem Kommentar von Erich Przywara dazu. (Für Leseempfehlungen bin ich allerdings immer dankbar, nur halt kein Florilegium der Tradition im Stile Ratzingers und auch keinerlei „Handbüchlein für höhere Pfadfinder“). 


--- Aktuelle Bergstation: Hekiganroku ---

Sudhana - Pilgerschaft gestern und heute



Sudhana bedeutet übersetzt Kind in Reichtum. Hierbei ist nicht primär an materielle Reichtum zu denken, sondern eher an den Reichtum eines Kindes, dass sich immer wieder aufs neue reich beschenken lässt, d.h. in dem Sinne, dass die Welt hinter jeder Ecke und jeder Kleinigkeit neue Schätze birgt, die zu entdecken sind. Die wesentliche Quelle für Sudhana ist das letzte Kapitel des Avatamsaka-Sutra bzw. Huayan Jing (Cleary 1993). Prominent taucht Sudhana z.B. auch als Rotkindchen in der „Reise in den Westen“ auf (Wu 2019: 487ff.).

In diesen beiden Quellen steht im Mittelpunkt eine Pilgerschaft. Besonders ist hieran, dass sich ein Kind auf die Wanderschaft macht. Und vielleicht ist dies auch eine generelle Voraussetzung für eine Pilgerschaft. In der Reise in den Westen ist Tripitaka (die Hauptperson) eigentlich auch von einer kindlich-vertrauenden Naivität und auch Jesus hat gesagt, dass man umkehren und werden muss wie die Kinder, um sich auf den Weg zu Gott zu machen (Mt 18,3).


Pilgerschaft kann man zunächst als sehr allgemeine Metapher nehmen. Jeder bricht auf in sein Leben und auch immer wieder neu in die nächste Lebensphase, die nächste Herausforderung etc. Die Frage ist dabei nur wohin man aufbricht: Ist es das Hineingeborensein in einen Wertekosmos, wo man aufbricht diesem dann zu entsprechen, auszufüllen und zu gestalten, d.h. um eine Karriere zu machen? - Dies wäre sozusagen das Standardmodell, am besten mit Ehefrau, Kindern, Eigenheim und Auto. Oder ist es Neugier und das sich wundern können (θαυμάζειν, Platon im Theaitetos 155d) und dann die Suche nach der Wahrheit, wie in der westlichen Philosophie? - Dies wäre das Jugendmodell, wo eine Zeit lang gefragt wird, wer bin ich? Und protestiert wird gegen so vieles was in unserer Gesellschaft schief läuft und eigentlich änderbar wäre. Allerdings bleibt dies bei den meisten auf die Jugend beschränkt, um dann doch auf das Standardmodell einzuschwenken (was dann wiederum die meisten Veränderungen verhindert). Oder gibt es eine Erweckung, durch ein Erlebnis oder einer charisamatischen Begegnung und daraus der Wille zur Nachfolge? Oder ist es einfach Abenteuerlust, wie das Bereisen und sich Zerstreuenlassen von fernen Ländern und Kulturen? - Dies wäre dann das Aussteigermodell, was sich abkoppelt von einer dekadenten Gesellschaft und dann das „eigene Ding“ durchzieht.

Sudhana ist da eher ein radikaler Wanderer, der sich nicht irgendwo einrichtet (und im Aussteigertum kann man sich auch sehr bequem einrichten), sondern die Dinge zu Ende bringt. Er lässt sich angreifen von den Jugendfragen, aber in so tiefer Form, dass sie ihn nicht mehr loslassen und die auch nie abschließend beantwortet werden können. Mit diesen Fragen macht er sich auf den Aussteigerweg, um sich davon verwandeln zu lassen, aber mit dem Ziel, dann wieder der Gesellschaft wieder etwas zurückzugeben und tatsächlich im Rahmen des Standardmodells etwas anderes von innen heraus zu leben und zu reformieren. Vom Werdegang gleicht dies der chinesischen Parabel vom „Ochs und dem Hirten“, der sich auch erst auf die existentielle Suche macht und nachdem er die Antwort des Nichts für sich realisiert hat, wieder im ganz normalen Alltag ankommt (vgl. Dumoulin 2019: 283ff.; Enomiya-Lassalle 1990, Shibayama 1995: 117ff.; Ueda 2011).

Für Sudhana ist der Aufbruch damit kein Spiel, wo man sich mit philosophischen Fragen und einer Weltschmerz- und Revoluzzer-Attitüde profilieren möchte. Sondern Sudhana ist tief angegriffen in seinem Herzen, so dass sie sich eigentlich nicht aus einer bestimmte flüchtigen (Jugend-)Stimmung auf den dem Weg macht (allerdings kann diese Stimmung ganz wesentlich dazu hinführen, sich in einer Grundbefindlichkeit angehen zu lassen, die einen dann nicht mehr loslässt). Sudhana bricht auf aus einer Grundbefindlichkeit, die etwa Heidegger eindrücklich beschreibt: aus einer tiefempfundenen ohnmächtigen Angst, die darum weiß und von dem Empfinden durchdrungen ist, ins Nichts gehalten zu sein und aus einer tiefen Langeweile und erschreckendem Unverständnis heraus, wie wir uns als Menschen auf der Welt bequem gemacht haben… Aus einem Entzug und einer Sehnsucht, die einen leisen Ruf hört oder diesen vielleicht nur ahnt… Aus dem Gedanken an die Geburt, den Tod und der großen Liebe, wo für einen kurzen Moment an unsere wesentlichen Grenzen gerührt werden kann, die wir ansonsten aber immer ausblenden, die sich aber manchmal sehr leise bemerkbar machen, fühlbar werden und uns fast unmerklich anhauchen… Oder aus Momenten, wo unser Leben wirklich in Gefahr gewesen ist, wir allerdings nicht in Aufruhr geraten, wie alle Menschen drum herum, sondern diese eigentümliche Ruhe zulassen können, die sich in dieser Situation ausbreitet und die so viel stärker ist, als jede Todesangst… Genauso wie die Ruhe, die sich ausbreitet, wenn alles Hoffen zerbricht und man einen Menschen sterben lassen kann… oder wenn man liebend beieinanderliegt und es auf einmal ganz eigentümlich ruhig wird… dies ist die tiefe Grundbefindlichkeit und der Antrieb, der Sudhana aufbrechen lässt.

Sudhanas Pilgerschaft ist keine Wahl, kein Verdienst, vielleicht eine Flucht, Aufbruch, nicht mehr hier sein zu wollen und zu können. Es ist ein Sog, es ist der Tod, der nach einem greift. Ist man einmal kurz von ihm berührt worden, so lässt er einen nicht mehr los. Es ist wie der erste Schuß des Junkies, so tödlich-süß, aber danach für immer das Leben bestimmend, aber auch so gefährlich, dass das Leben grandios daran scheitern kann oder sogar scheitern muss - aber nur auf diesem Weg gibt sich manchmal die Möglichkeit das Wesentliche im Leben aufscheinen zu lassen, indem alles auf diese Karte gesetzt wird. 

Pilgerschaft ist immer Gefahr, nicht anzukommen, sich zu verlaufen, auf dem Weg zu sterben, doch irgendwo sesshaft zu werden… bricht man allerdings nicht auf, lebt man ein Konfektions-Leben bestenfalls mit leichten, langweiligen Variationen. Denn eigentlich geht es in unserem Leben nicht um viel: nur um Geburt, Lieben, Tod. Alles andere ist nebensächlich. 

Aber am meisten zeigt der Tod, wie unsere Gesellschaft jedesmal scheitert, an dem immer wieder jede Person zutiefst erschüttert wird, indem wir in einen Abgrund des Nichts schauen, weil es hier nichts mehr zu begreifen gibt (was für Geburt und wirklicher Liebe genauso gilt). Entweder man flüchtet sich in Dogmatik von Jenseitsvorstellungen oder ins eigene Ich und freut sich insgeheim, dass man es selber nicht war, oder man zerbricht daran. Sudhana wählt keinen dieser drei Wege, sondern lässt sich hiervon angehen, kann es nicht verdrängen - und macht sich aus dieser Ruhelosigkeit heraus auf die Pilgerreise.

Sudhana geht aber nicht einfach los, sondern sie wird durch Manjushri ausgesendet. Manjushri hält in seiner männlichen Hand, das Schwert um die Unwissenheit zu zerschneiden und Licht zu bringen und in der weiblichen Hand das Buch der Weisheit. Sudhana wird losgeschickt mit der folgenden Anweisung: „It is good that you think, having set your heart on supreme enlightenment, that you should find out the practice of enlightening beings. It is hard to find beings who set their hearts on supreme enlightenment. It is even harder to find beings who, once they have set their minds on enlightenment, seek the prac­tice of enlightening beings. An enlightening being is to attain certainty through true spiritual friends, spiritual benefactors, for the realization of omniscience. One should indefatigably seek spiritual benefactors and be tireless in seeing spiritual benefactors. One should respectfully follow the appropriate instructions of spiritual benefactors and should carry out the techniques skillfully devised by spiritual benefactors, without interruption. […] Then Sudhana, pleased, enraptured, transported with joy, delighted, happy, and cheerful, laid his head at the feet of Manjushri in respect, circled Manjushri hundreds and thousands of times, and looked at him hundreds and thousands of times, with a mind full of love for the spiritual friend, unable to bear not seeing the spiritual friend, with tears streaming down his face as he wept, and left Manjushri.“ (Cleary 1993: 1179f.)

Manjushri nennt ihm darüber nichts weiteres, kein letztes Ziel, gibt ihm keine Landkarte mit, kein Pferd und keine Mitreisenden. Er nennt ihm nur den ersten Schritt, den ersten „spirituell friend“, zu dem er gehen soll. Sudhana weiß bei seinem Aufbruch noch nicht, dass es 53 „spirituell friends“ sein werden, die er besuchen wird. Und auch nicht, dass diese höchst unterschiedlich sind, es sind Mönche und Laien, Frauen und Männer, selbst Kinder, Seefahrer und Nacht-Göttinen. Aber keiner von ihnen kann und will Sudhanas Frage beantworten und ihn erleuchten. „None of Sudhana's teachers can provide him with a complete answer, but each of them instructs him in his or her special knowledge of the Law.“ (Fontein 1967: 6) Aber Sudhana ist entschlossen und lässt sich nicht beirren, er geht jeweils immer nur den nächsten Schritt, bekommt immer nur den nächsten Lehrer genannt, aber nie auf welche Weise er letztlich Erleuchtung erlangen kann. Aber in jeder Begegnung erfährt sie von einer neuen jeweils ganz individuellen Form von Erleuchtung, wovon keine auf sie übertragbar ist, aber gerade auf diese Weise zur eigenen Form der Erleuchtung beiträgt.

Alle Begegnungen sind Erscheinungen und Manifestationen der einen Buddha-Natur, aber dies eben nur in ihrer jeweiligen, individuellen Eigenheit. Es gibt hier keinen gemeinsamen Nenner, wovon alle gemeinsam ausgehen. Alle sind die verschiedenen Glieder, die aber durch einen Leib zusammengehören. Und so auch auf dem Weg von Sudhana die Buddha-Natur in verschiedenen Facetten zeigen und unterschiedliche Funktionen haben. Dies kann sich auch nur auf die Weiterleitung zum nächsten „spirituell friend“ beschränken, wie bei dem Jungen Visvamitra oder wie bei Guanyin die an der 26. Position den Angelpunkt des ganzen Weges bildet und ihm das Mitleiden vermittelt. „Even if none of them can give Sudhana the Supreme Knowledge which he wishes to obtain, they all contribute to this knowledge and they all prepare him in their own way for the final stage in which his search for Supreme Knowledge is completed.“ (Fontein 1967: 16)

Aber im Grunde ist Sudhanas Pilgerschaft eine einzige Zumutung, denn nicht nur, dass er von keinem seiner Lehrer eine konkrete Antwort erhält, vielmehr berichten diese oft, dass sie über unendlich viele Wiedergeburten praktiziert haben und unzählige Buddhas gehört haben, bis sie endlich zur Erleuchtung gekommen sind. Eine der wenigen klaren Antworten scheint zu sein: in diesem Leben wirst du dies nicht schaffen! (Ein klarer Verstoß gegen moderne Pädagogik) Und auch der Text spiegelt dies wieder mit seinen unendlichen Wiederholungen und Variationen. Das Sutra teilt diese „literary monstrosity“ (Fontein 1967: 16) mit dem vielleicht einzigen spannenden Abenteuerroman des 20. Jahrhunderts, dem Zauberberg von Thomas Mann. „Wer Ohren hat, höre!“ (Mt 11, 15)

Jegliche Hoffnung wird hier zerbrochen, dies irgendwie noch zu schaffen - und dennoch marschiert Sudhana entschlossen weiter, Schritt für Schritt, Tag für Tag… aber mit ungebrochener Sehnsucht und Liebe. Eine Formulierung aus dem Taoismus trifft diese Haltung vielleicht ganz gut: „If you think that your learning is inadequate, your nature will become bright. If your are greedy of knowledge, your nature will become dark and dim.“ (Wong 2004: 34)

Sudhana bleibt in seiner Pilgerschaft ein Grenzgänger, der immer aufs neue die Grenze kreuzt. Das Ziel ist das immer erneute crossen (im Sinne von Spencer Brown (1969)), was Sudhanas alltägliches sich bekreuzigen ist. Und auch wenn Sudhana im Huayan-Sutra am Ende bei Samantabhadra ankommt, ist dies nicht das Ziel, sondern eher die Vorbereitung dafür, in der Welt aktiv zu werden. 



Zuhause und Aufbruch


Der Tod eines Kindes ist vielleicht die radikalste Situation, an der das eigene Leben an seine Grenzen kommt bzw. wo diese Grenze ein Loch bekommt, durch das die andere Seite dann kontinuierlich hereinweht… vielmehr als der eigene Tod, weil man danach weiterleben muss. Denn bezogen auf den eigenen Tod hat Epikur schon Recht: „Der Tod hat keine Bedeutung für uns. Denn was sich aufgelöst hat, hat keine Empfindung, was aber keine Empfindung hat, hat keinerlei Bedeutung für uns.“ Mit dieser rationalen Logik kann man den eigenen Tod schon erfolgreich verdrängen und sehr viele Menschen sind hiermit sehr erfolgreich und hoffen auf einen schnellen und schmerzlosen Tod und am besten im Schlaf. Man hat noch nicht einmal den Anspruch dem eigenen Tod gewachsen zu sein, sondern lässt ihn über sich ergehen, Augen zu und durch… von Ars Moriendi keine Spur. Von einer differenztheoretischen Perspektive, wo alles Seiende sich daraus definiert, was damit ausgeschlossen ist, muss man sagen, dass diese Menschen nicht nur ihren Tod verpassen, sondern damit auch ihr Leben. Eingelullt von Kitsch, Konsum, Karriere, Kirche etc. lässt sich dies aber auch gut umsetzen.

Der Tod eines Kindes bedeutet, dass man mit-stirbt (und dies sehr buchstäblich und umfänglich) und trotzdem weiterlebt, d.h. nicht die Situation von Epikur gegeben ist. Man „lebt“ als eine Art Untoter und Zombie ein Leben, was eigentlich unmöglich ist, ein Leben was oszilliert zwischen Leben und Tod, in jedem Moment, immer hin und her springt, wie ein tanzender Wasssertropfen auf einer heißen Herdplatte: verbrannt hochgeschleudert - haltlos fallend - verbrannt hochgeschleudert - haltlos fallend - verbrannt hochgeschleudert - lustig tanzend bis der Tropfen verdunstet ist.

Aber so oszillierend kann man nicht nur beim Tod eines Kindes werden, sondern auch in der Liebe. Die Liebe ist nicht so sehr verdrängt wie der Tod in unserer Gesellschaft, da sie so oft nur noch ein lauwarmes Abbild ist. Aber selbst in diesem Abbild ist noch viel Feuer zu spüren. Aber hat man wirklich geliebt, weiß man, wie sich das eigene Ich aufbricht, wie die Grenzen sich auflösen, wie man wächst im anderen und nicht mehr aus sich heraus, und der andere in einem wächst… und dennoch ist eine solche Liebe so selten und noch seltener von Dauer. Man trägt sie im Herzen als Loch, wie den Tod… nur das der geliebte Mensch doch noch auf dieser Erde ist, und dennoch in der Liebe so unerreichbar.

Dies soll aber hier als das Lebensfundament genommen werden, der Grund auf dem man steht, dieser tiefe Abgrund für den David Grossman tatsächlich Worte in sich aufsteigen hat lassen und diese zusammengestammelt hat (Grossman 2011; 2014). Dies ist der Ausgangspunkt von dem Sudhana hier seine Pilgerschaft startet, aus diesem Un-Ort und Un-Zuhause bricht Sudhana auf. Es ist ein Ort der zersplittert ist, und hier sollen aus dem Text von Grossman noch einmal nur Wortsplitter rausgebrochen werden, die Sudhanas persönlichen Grund darstellen. Aber ein Grund,  der nur Geröll ist, ein Haufen scharfer Glassplitter, instabil und unwohnlich. 

Vielleicht ist es ein besonderer Ausgangspunkt, den nicht alle teilen. Den zum Glück nicht alle teilen, weil immer weniger Menschen ein Kind betrauern müssen, dank medizinischem Fortschritt und dank dessen, dass der Tod eh nicht mehr sichtbar oder bestenfalls im Boulevard domestiziert-entfesselt präsent ist (oder sich auch nur auf ein sozial-verträgliche Liebe einlassen bzw. in ihrer Person nicht so eigen sind, dass sie tatsächlich etwas Eigenes zu geben habe in einer Liebe). Aber gerade für einen Christen ist es keine besondere Position. Denn es ist die Position, die wir als Christen immer haben, es ist der Blick aufs Kreuz, der Blick Marias auf ihren toten Sohn… und wir sind alle Maria:

„Ich muss gehen./ Wohin?/ Zu ihm./ Wohin?/ Zu ihm, nach dort./ Was ist das: dort?/ Ich weiß nicht./ Du machst mir Angst.“ (Grossman 2011: 5; im weiteren hieraus zitiert bzw. aus der englischen Ausgabe (2014))

„Aber, sag, was meinst du mit dort? Es gibt keinen solchen Ort. Es gibt kein dort!/ Wenn man hingeht, dann gibt es ein dort./ Aber man kommt nicht zurück; von dort ist noch keiner zurückgekommen./ Weil nur die Toten hingegangen sind./ Und wie willst du hingehen?/ Ich gehe lebendig nach dort.“ (S. 6)

„Schau mich an. Nein, nicht mit diesem leeren Blick. Lass das. Komm zurück, zu mir, zu uns zurück.“ (S. 7)

„In that darkness I saw one eye weeping and one eye crazed. A human eye, extinguished, and the eye of a beast. A beast half devoured in the predator's mouth, soaked with blood, insane, peered out at me from your eye.“ (S. 11)

„And together we were born on the other side, without words, without colours, and we learned to live the inverse of life. (silence)“ (S. 12)

„Cold, quiet fire burned around us. The world outside shrivelled, sighed, dwindled into a single dot, scant, black, malignant. I thought: We must leave. I knew: There's nowhere left.“ (S. 14)

„Perhaps we'll die like he did, instantly. Or, facing him, suspended, we will swing between the living and the dead - but that we know. Five years on the gallows of grief. (pause)“ (S. 20f.)

„WALKING MAN: I am not alone. With him I am not one, I am alone with him in all my thickets, my labyrinths. He pulses in me, lives with me, one with me, with him I share the vast expanse his death created in me - and he surges and he wanes with me, unquiet unquiet roaming embittering redeeming shackling healing purifying, not letting go, not letting go, this lonely dead child.“ (S. 25)

„But he rises, he rises to his day, silently puts on the slough of his name, inwardly fans the dim embers, does his best to convince himself that he still remembers what it was like to just be; how to stare, for example, how to stare? How does a person just stare innocently, how does he for one instant forget what is seared inside him by affliction? In short - an impostor of sorts, a sham, pretending to be an everyman whose eye is drawn to the open window, whose hand reaches simply for bread - Amid all this, I suddenly plummet, plunge, a mere shadow of he who walks there alone, of he who, with heavy steps, chisels the verdict on my land: all that is, all that is (oh, my child, my sweet, my lost one) - all that is will now echo what is not.“ (S. 33)

„. . . he might be an insurgent; I am uncertain. My scouts say he poses a danger: the coolness of the unruly, of a stubborn, wayward man. But his eyes - they report - shine with the pale blue light of a child's gaze.“ (S. 36)

„Nor will m-m-my self adhere to your self any longer, nor will my self to myself adhere. It has all come apart. They say there are things in the world. They say things are c-c-connected. I look in the f-f-faces of those who say, and see holes and crumbs, specks of limbs.“ (S. 37)

„Two human specks, a mother and her child, we glided through the world for six whole years, which were unto me but a few days, and we were a nursery rhyme, threaded with tales and miracles - Until ever so lightly, a breeze a breath a flutter a zephyr rustled the leaves - And sealed our fates: you here, he there, over and done with, shattered to pieces.“ (S. 38)

„I was cut with scissors from the picture, solitary ice of absence came to singe my limbs. I was touched, I was blighted by the frost of randomness.“ (S. 39)

„A clear corpuscle glowed inside me, a golden granule gleamed. I knew that it was me, my soul, my core, it was the purpose of my being. Born with me, I thought, and so would die with me - I did not know that I might live long after it, that I would be diaspora, deciduous. A liar, too - the kind who easily, no eyelid batted, dared to speak of: me.“ (S. 39)

„After all, for twenty-six years this has been the singular greatest fact of my life. Yet surprisingly, and embarrassingly, I know nothing about it. 'But what is it like?' people ask, and I, too, not infrequently, ask myself: Like a block of concrete? An iron ingot? An impassable dam? Like basalt rock? Or rather - like the layers of an onion? But no, I must apologise, for it is none of those. And do not think, sir, that I am evading the question: I truly know nothing about it. Just that it is here. A fact. And heavily it slumps on all my days. And sucks my life out. And that is all. Please forgive me, more than that I truly do not know.“ (45f.)

„That evening, the walking man hears heavy footsteps behind him, and there is the cobbler, slightly hunched, and he grunts out a question: Happen to need some shoes? The man says he doesn't need anything, only to walk undisturbed. The cobbler looks at the man's blistered feet and says he has, right there in his backpack, tools and a stretch of leather, and he can easily sew a fine pair of shoes. The man does not reply, and they keep walking a while longer. Finally, the cobbler asks if he may walk behind the man this way, and the man doesn't answer, nor does he stop walking, just shrugs his shoulders as if to say: Do as you please, but I walk alone. Now they are two, Your Highness. You can see them from your window. At the fore, the tall, thin man with unkempt hair and beard, and a few steps behind him, the cobbler, his arms hanging at his sides. Every so often he turns his head back to see the slender, upright woman in the hut window.“ (S. 48)

„That's the only way I can somehow get close to it, to that goddamn it, without it killing me, you know? I have to dance around in front of it, I have to move, not freeze like a mouse who sees a snake. I have to feel, even just for a minute, just half a second, the last free place I may still have inside me, the fraction of a spark that still somehow glows inside, which that lousy it couldn't extinguish. Ugh! I have no other way. You have to get that: I have no other way. And maybe there is no other way, huh?“ (S. 50f.)

„A ray reaches out from me into me, touches cracks and niches, tenses: Where are you? On which of all the roads will you reveal yourself, in which of my orbs be divined?“ (S. 54)

„And with these last words, using both hands and terrible force, he pounded the table, and his face contorted so painfully that for a moment I thought, Your Highness, that he had struck his own body.“ (S. 56)

„But tell us: Is it full or hollow, this great fact of your life? Is it slack or taut? No, no, I respond awkwardly, it's here, it's here! But you've already said that! Yes, it's odd how little I have to say on the matter.“ (S. 58)

„Now, from day to day, the wayfarer's walk grows more vigorous. At times it seems, Your Highness, that a nameless power hovers over the town, envelops it, and - like a person sucking an egg through a hole in the shell - it draws these people and others towards it, from kitchens and squares and wharves and beds.“ (S. 66)

„And he himself, he is dead, I know now. I now can say - though always in a whisper - 'The boy is dead.' I understand, almost, the meaning of the sounds: the boy is dead. I recognise these words as holding truth: he is dead. I know. Yes, I admit it: he is dead. But his death - it swells, abates, fulminates. Unquiet, unquiet is his death. So unquiet…“ (S. 68)

Geborenwerden und Sterben, in Liebe 

Aber kann man in diesem Zwischenraum leben? Leben, wo der Tod doch so laut ist? Naja, eigentlich ist es keine Entscheidung, die man hier treffen könnte, wenn man einmal in diesen Abgrund geschaut hat.  So werden wohl die meisten verwaisten Eltern, den zugesprochenen Trost, dass man sich an die guten Zeiten mit dem Kind erinnern soll, als nett gemeint, aber gleichzeitig auch als total daneben erleben. Ein ehrlicher Trost ergibt sich ehr daraus, wenn man diese Untröstlichkeit anerkennt, wenn man es versucht auszusprechen, vielleicht auch nur stammelnd und flüsternd, wie dies Grossman macht. Der Zen-Meister Daito Kokushi (1282-1337) schreibt hier sehr passend: „separated for an eternity yet not separated for an instant“ (zit. nach Hase 2011: 787). 

Aber ist diese Haltung von Daito nicht zutiefst unbuddhistisch? Denn der Buddhist hat sich von den weltlichen Dingen und auch Personen zu lösen, und eben gerade nicht sich in jeden Moment daran zu binden. Vielleicht lässt sich dem differenzierter nähern über Dogen Zenjis sehr kurzen Aufsatz „Shoji“, was man mit „Geborenwerden und Sterben“ übersetzen kann. Zunächst gibt Dogen durchaus Unterstützung für die „tröstenden“ Worte, also den Augenblick jeweils dankbar zu leben, ganz ähnlich wie wir dies von Epikur auch kennen. So schreibt Dogen: „In der Zeit, die wir ‚Leben‘ nennen, gibt es daher nichts anderes als das Leben, und in der Zeit, die wir ‚Tod‘ nennen, gibt es nichts anderes als den Tod.“ (Dogen 2015: 257f.) 

Daraus zieht Dogen dann den Schluss, „ihr solltet nicht sagen, dass ihr Sklave (des Todes) seid, und ihr solltet (das Leben) auch nicht herbeiwünschen.“ (Dogen 2015: 258) Dem würde auch Ignatius von Loyola zustimmen, so wie er im Fundament in den Exerzitien die Indifferenz beschreibt: „in der Weise, daß wir nicht wünschen… mehr Gesundheit als Krankheit, Reichtum als Armut, Ehre als Unehre, langes Leben als kurzes, und folgerichtig im ganzen Übrigen“ (siehe Przywara 1938: 129) 

Wird damit hier also das Ideal gesetzt, dass man selbst den Tod des eigenen Kindes eher nur zur Kenntnis nehmen soll, wie das pflücken eines Gänseblümchens? Aber Dogen und Ignatius verweisen beide darüber hinaus. So nimmt Dogen seinen Ausgangspunkt von einen Ausspruch von Zen-Meister Kassan Zen-e (805-881): „Wenn ihr in Leben und Tod Buddha verwirklicht, seid ihr frei von Leben und Tod.“ (Dogen 2015: 257) Genauso Ignatius für den die Indifferenz nicht für sich eine Bedeutung hat, sondern immer ein Mittel ist, „da der Mensch dazu hin geschaffen ist, zu loben, Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen Gott unserem Herrn und mittels dieses seine Seele zu erlösen.“ (siehe Przywara 1938: 75) 

Beide vollziehen hier eine Verschiebung von dem was „Welt“ ist. Es geht nicht darum möglichst unbeteiligt und unverletzt durchs Leben zu kommen, lieber sich von Lebensabschnittspartner zum nächsten durch zuhangeln und lieber auf die große Liebe zu verzichten, weil sie einen zerstören kann. Oder das tote Kind zu vergessen und sich ganz der Förderung der lebenden Kinder zu widmen, die dann das Leben des verstorbenen Kindes mitzuleben haben. 

Dies wäre genau das Gegenteil, von dem was hier und auch von Dogen und Ignatius gewollt wird. Es geht darum sogar noch seine Verletzlichkeit zu steigern, sich angehen zu lassen, vom Leid der anderen, von den verhungerten Kindern in Afrika und anderswo… und dem unendlichen Leid, was wir jeden Tag ausblenden. Und sich dann den ganzen Fragenkatalog der Theodizee vorzulegen und zu kreischen, wie kann ein allmächtiger Gott oder der Buddha dieses Leid zulassen und zuschauen?! Aber auch hier noch nicht den Ausweg zu suchen in einen lauwarmen Atheismus und ein noch langweiligeres Ego. Sondern dies weiterzutreiben, bis jedes Verstehen zerbricht, immer mehr, jeder letzte rationale Erklärungsansatz zerbröselt. Wie bei Job und doch weiter auf Gott zu schauen und weiter mit ihm zu Ringen, ohne Worte, ohne Fragen, einfach nur noch seine Nähe im Kampf zu spüren, wie Jakob am Jabbok. Zu realisieren, dass mein Gegenüber so unglaublich übermächtig ist und mich mit Leichtigkeit zermalmen kann… und diese Ehrfurcht zu realisieren und trotzdem an ihm festzuhalten und mit ihm zu kämpfen… bis er Jakob die Hüftpfanne zerschlägt oder Jesus am Kreuz hinschlachtet… dies ist die Indifferenz und dies ist die Ruhe, die hier gesucht und angestrebt wird. 

Denn auf diese Weise kann man auch die Welt sehen, sicher eine sehr unbequeme Sichtweise und eigentlich ist alles was man so in er Weltanschauungspalette im Angebot findet, leichter und praktikabler. Aber vielleicht mag der ein oder andere dies ja auch als hohl empfinden und dann auch keine Wahl haben, sich auf diese Pilgerschaft einzulassen. 

Auch Cleary sieht den zentralen Punkt von Shoji darin, in welcher Welt wird leben: „In the final analysis, according to the Zen teachings, it is not that the world binds people, it is people who bind themselves to the world. Bondage and delusion do not come from the world itself, but from ideas and attitudes regarding the world,from people’s relation to the world. Therefore the question of what can be done about the world calls forth the question of what people think and feel the world to be.“ (Cleary  2001b: 362) 

Und unter dieser Perspektive sollte dann auch die Indifferenz gelesen werden und dass dies mit einem Grundverständnis von Welt zu tun hat. Und da kann es durchaus sein, dass Menschen auf ganz verschiedenen Planeten leben. Sudhana lebt aktiv in der Gesellschaft und in dieser Welt, und viele Sachen hierin sehr ernstnehmend, andere dagegen überhaupt nicht, sondern eher wundernd beobachtend, wie etwa das Spiel der Anerkennungen läuft. Denn Sudhana lebt aus etwas, was auf dem Pilgerweg erfahrbar, aber nicht aussprechbar oder vermittelbar ist, für Personen, die dies nicht selbst erfahren haben oder zumindest einmal kurz geschmeckt haben. Es ist wie Musik einem Gehörlosen zu erklären. 


In diese Richtung weist auch das so oft falsch zitierte und aus dieser Sicht auch noch viel stärker falsch verstandene Wort von Karl Rahner, dass jemand etwas „erfahren“ haben muss. Aber diese Erfahrung ist eben so gar keine Gänsehaut im Gottesdienst, Geborgenheit in einer religiösen Gruppe, Stille im Gebet (dies kann bestenfalls dazu hinführen, Propädeutik sein), eher geht es darum, dass einem der Abgrund widerfahren ist und man sich immer mehr darin einrichtet und diesen erfährt und darin erfahren wird, so dass man sich auskennt in der absoluten Unergründlichkeit Gottes und aus diesem unverstellten Paradox der absoluten Ohnmacht aus einer gebend-nehmenden Liebe lebt: „der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle sein kann. Die Mystagogie muß von der angenommenen Erfahrung der Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin das richtige ‚Gottesbild‘ vermitteln, die Erfahrung, daß des Menschen Grund der Abgrund ist: daß Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; daß seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird, je näher uns seine ihn selbst mitteilenden Liebe kommt; daß man ihn nie als bestimmten Posten in das Kalkül unseres Lebens einsetzen kann, ohne zu merken, daß dann die Rechnung erst recht nicht aufgeht; daß er nur unser ‚Glück‘ wird, wenn er bedingungslos angebetet und geliebt wird“ (Rahner 1966: 22f.)


Um dies zu erfahren, macht sich Sudhana auf die Pilgerschaft. Dabei wird versucht immer eine beruhigende, auflösende dialektischen Ansatz zu vermeiden (Barth 1923; Habermas 2019; Brandom 2019; Zizek 2009) und in der Schwebe einer Analogie bzw. Paradoxie sich zu halten (Przywara 1996; Luhmann 1984; Davidson 2001; Milbank 2009), auch wenn die Gefahr einer dialektischen Beruhigung immer besteht. Deswegen ist der Pilgerweg von Sudhana auf den ersten Blick nicht so üppig überfüllt, als der Weg wo die Leute ihr Ego suchen…

"hear the love behind the words" (Diane Cluck)

S.D.G.

Vater unser in den Himmeln
Heiligend sei dein Name
Kommend sei dein Königreich
Wachsend sei dein Wille
Wie in den Himmeln, so auf Erden.
Unser Brot für unsere tägliche Mahlzeit gib uns jeden Tag
Und hebe mit uns auf unser Verschulden,
So wie wir mitaufheben unsere Schuldner
Und lass uns nicht überfallen werden von der Prüfung,
sondern verteidige uns in der Not.